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Ursprünglich stand der Zapfenstreich im Kontext soldatischer Besäufnisse. Zur Zeit der Landsknechte (von Lanze abgeleitet), also der als Söldner angeworbenen Soldaten im 15. und 16. Jahrhundert, ging ein Offizier, der von einem Pfeifer oder Trommler begleitet wurde, zur Abendstunde durch die Gaststätten und schlug mit seinem Stock auf den Zapfen der Fässer. Das war das Signal für den Wirt, dass er keine Getränke mehr ausschenken dufte, und für die Landsknechte, dass es Zeit war, in die Quartiere zurückzukehren. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich aus diesem ursprünglichen Zapfenstreich die heutige Zeremonie mit Musik, Fackelträgern, einer Ansprache und dem militärisch-zackigen Anstrich. Ein Element der heutigen Ausgestaltung des Großen Zapfenstreichs ist die Auswahl von drei Musikstücken, die die zu Würdigenden und zugleich zu Verabschiedenden vornehmen können. Die musikalische Präsentation obliegt dann einer uniformierten Bundeswehrkapelle.
Wie wir seit gestern wissen, hat sich Angela Merkel für Bachs Choral „Großer Gott, wir loben dich“, Hildegard Knefs „Für mich soll´s rote Rosen regnen“ und Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“ entschieden. Besonders der 1974er-DDR-Hit der noch ganz jungen Nina Hagen und ihrer Band „Automobil“ geriet bei der Zeremonie in der Interpretation durch die Bundeswehrbläser unfreiwillig zu einer ziemlich schrägen Musik-Nummer. Wobei der dem Lied zugesprochene Subtext * mit Anspielungen auf die Mangelwirtschaft in der DDR durch die rein orchestrale Darbietung natürlich wegfiel.
Über Angela Merkel ist in den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft viel gesagt und geschrieben worden. Dass ihr jemand ein stets fröhliches Herz, eine heitere Gesinnung oder einen geradezu quietschbunten Optimismus zugesprochen hätte, ist mir nicht in Erinnerung. Genau das aber deklarierte sie in der Schlusspassage ihrer Rede zu ihrer Lebenseinstellung, die sie als Ratschlag an die neue Regierung weitergab, wobei sie die „Fröhlichkeit des Herzens“ gleich doppelt erwähnte:
Ich bin überzeugt, dass wir die Zukunft auch weiterhin dann gut gestalten können, wenn wir uns nicht mit Missmut, mit Missgunst, mit Pessimismus, sondern, wie ich vor drei Jahren in einem anderen Rahmen gesagt habe, mit Fröhlichkeit im Herzen an die Arbeit machen. So jedenfalls habe ich es immer für mich gehalten, in meinem Leben in der DDR und erst recht und umso mehr unter den Bedingungen der Freiheit. Es ist diese Fröhlichkeit im Herzen, die ich uns allen und im übertragenen Sinne unserem Land auch für die Zukunft wünsche.“*
Etwas stutzig gemacht hat mich Merkels Bezug zur DDR und zur Bundesrepublik, die sie allerdings nicht nennt, weder als „Deutschland“ noch als „Bundesrepublik Deutschland“ noch als „wiedervereinigtes Deutschland“. Zugleich spricht sie von ihrem „Leben in der DDR“, dann aber davon, dass sie „unter den Bedingungen der Freiheit“ auch (erst recht und umso mehr) fröhlich war. Ist das nicht eine ziemliche Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse? Die merkelsche Freiheit fand unter „Bedingungen“ statt, wogegen sie in der DDR einfach „lebte“ – ohne Gesinnungsschnüffelei, Stasi, Parteiapparatschiks, Unterdrückung anderer Meinungen als der der SED und fehlender Demokratie, Schießbefehl und Mauermorde und eben auch der auf der Ebene von Anspielungen in Nina Hagens Lied angesprochenen Mangelwirtschaft? Also ohne Bedingungen? Aber mit fröhlichem Herzen? Kann man diese merkelschen Formulierung schon zynisch in politischer Hinsicht nennen? Oder spricht daraus nicht mehr und nicht weniger als eine naive Sichtweise eines Menschen, der einer Diktatur und einer parlamentarischen Demokratie mit der gleichen unreflektierten Fröhlichkeit im Herzen begegnet?
Ich will diese eigentümliche sprachliche Gestaltung ihres Lebens in den beiden Staaten und in zwei unterschiedlichen politischen Systemen an dieser Stelle nicht überbetonen und auch nicht überinterpretieren. Und auch die Rolle, die sie in der DDR spielte (FDJ, Karriere) soll nicht noch einmal aufgewärmt werden. Aber die Benennung des einen oder anderen Unterschieds zwischen dem Unrechtsstaat DDR und ihrem Leben unter den „Bedingungen der Freiheit“ hätte ich mir in sprachsensibler Darstellung doch gewünscht. So aber erscheint mir ihre letzte Rede ähnlich schräg wie die musikalische Interpretation des Hits von Nina Hagen durch die Bundeswehr-Blechbläser-Kapelle.
Was so gesehen aber wiederum passt!

* Backed by her group, Automobil, her 1974 single, “Du Hast den Farbfilm Vergessen” (“You forgot the color film”) became a huge hit in the GDR and made Hagen a big star. The seemingly innocent-sounding lyrics (a girlfriend berating her boyfriend for not bringing color film on their vacation) were a subtle dig mocking the sterile, gray, Communist state. The fluffy-sounding ditty became one the most popular songs of 1974 and the double meaning of the comical lyrics was apparently well-understood by both the general population and the Politbüro elites. (zitiert nach: https://genius.com/Nina-hagen-du-hast-den-farbfilm-vergessen-lyrics)

**Quelle: Der gesamte Text im Wortlauttext, zitiert nach https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/parteien/id_91254784/rede-im-wortlaut-das-sagte-angela-merkel-beim-grossen-zapfenstreich.html

Nina Hagen und „Automobil“, Du hast den Farbfilm vergessen https://www.youtube.com/watch?v=BeXHWIJJ0a8&list=RDBeXHWIJJ0a8&start_radio=1

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Ro.Bie.

Viel spannender ist doch, dass ausgerechnet Herr Sauer gerade jetzt aus den gemeinsamen Räumen auszog. Und somit hat Angie sturmfreie Bude. Da kommt sicher noch was von ihr- mit ihren neun Angestellten…das wäre doch auch sonst totlangweilig.

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