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Heute mit gesammeltem Reden, Schweigen und Denken

In der letzten Dialogpassage seiner zweiaktigen Komödie „Die Physiker“ lässt Friedrich Dürrenmatt den Physiker Johann Wilhelm Möbius sagen: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht wieder zurückgenommen werden.“ Das gilt wohl gleichermaßen für das Sagen. Was einmal gesagt wurde, ist in der Welt. Und selbst wenn man das Gesagte zurücknehmen will und sogar um Entschuldigung bittet, bleibt es in der Welt, eingelagert in den Gedanken derjenigen, die es gehört (oder gelesen) haben.
Heinrich Böll hat diese Problematik als Nebenaspekt seiner Satire „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ aus dem Jahre 1955 (überarbeitet 1958) zum Thema gemacht. In seiner Kurzgeschichte veranlasst Professor Bur-Malottke, dass aus seinen Rundfunkvorträgen zum Wesen der Kunst das Wort „Gott“ herausgeschnitten und durch die Formulierung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzt wird. Dies führt einerseits beim Neu-Einsprechen zu Problemen der Grammatik: „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ muss in die verschiedenen Fälle gesetzt werden, neben Nominativ/Akkusativ auch in Genitiv und Dativ sowie einen Vokativ. Zudem ist die neue Formulierung länger als das Wort Gott, so dass an anderer Stelle Bur-Malottkes Beiträge gekürzt werden müssen.
Aus dieser Problematik werden in Bölls Kurzgeschichte satirische Funken geschlagen.*
Als Ausgangspunkt satirischer Funkenschläge ist der Streit um die Plagiatspassagen in Annalena Baerbocks Buch kaum noch geeignet. Ein Schweigen Baerbocks wäre vielleicht hilfreich gewesen, ein ehrliches Eingeständnis wahrscheinlich noch hilfreicher. Stattdessen verbale Fluchtversuche mit Argumentationswechseln und rhetorischen Volten, die alles noch schlimmer machen. Selbst die FAZ, der man nun wirklich keine Baerbock-Feindschaft und kein GRÜNEN-Bashing vorwerfen kann, scheint verzweifelt ob der Tatsache, dass Baerbocks Verteidigungslinie nun lautet, sie habe kein Sachbuch geschrieben, sondern sie „wolle mit diesem Buch erklären, wer sie sei und was sie antreibe“. Warum allerdings genau das, nämlich Auskunft über sich selbst zu geben, eine Begründung dafür sein kann, dass man ganze Passagen aus anderen Texten abschreibt, bleibt das Geheimnis Baerbocks, so dass die FAZ sie in der Schlagzeile nicht verteidigt, sondern fast resignativ titelt „Baerbock will doch kein Sachbuch geschrieben haben.“ ( FAZ, 3.7.21, Nr. 151, Seite 2).
Auch die WAZ öffnet Annalena Baerbock eine Tür, um sich zu erklären, und weist darauf hin, dass „(…) die Ähnlichkeit mehrerer Buchpassagen zu den Originalquellen nicht von der Hand zu weisen“ ist. Konsequent antwortet Baerbock an der Frage vorbei, wenn sie sagt: „Das ist kein Fachbuch, daher gibt es keine Fußnoten.“** Auf die Frage, ob sie das Buch „eigentlich selbst geschrieben“ habe, kommt die Antwort: „Ja, aber wie es so schön heißt: Niemand schreibt ein Buch allein. Es sind nicht nur viele Ideen eingeflossen, ich habe dankenswerterweise auch Unterstützung bekommen.“
Also wäre ein Verzicht auf das unsägliche JA, ABER doch die bessere (weil ehrliche) Antwort gewesen! Zumal sie in dem Interview postuliert: „Es gehört zu guter Politik, selbstkritisch einzusehen, wenn Dinge nicht so gut gelaufen sind, und es in Zukunft besser zu machen.“
Nein, eine Kampagne muss gegen Baerbock nicht gefahren werden, denn sie demontiert sich mit ihren Halbwahrheiten, Ausflüchten, Positionswechseln und diffusen Verlautbarungen selbst. Und vielleicht gilt in ihrem Fall einfach Nietzsches Satz: „Die dümmste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt.“
Verlassen wir aber damit (endgültig, versprochen!) Frau Baerbock und wenden uns anderen (politischen) Niederungen zu. Ich kann immer noch darüber staunen, wie Politiker es schaffen, einfache Fragen so umständlich zu beantworten, dass sie nahezu den Stellenwert von Regierungserklärungen bekommen. Beispiel: Jens Spahn. Auf die einfache Frage, wo er seinen Urlaub verbringen wird, antwortet er nicht etwa „In Bayern“, vielleicht noch unter Nennung eines Ortes oder einer Landschaft, sondern er antwortet: „Ich persönlich, oder wir, werden einmal mehr die Schönheit Deutschlands in Bayern genießen. Obwohl natürlich auch alle anderen 15 Bundesländer schön sind.“ (WAZ, 3.7.21, S. WPL2) Frage:
Wer fährt also wohin?
Er persönlich – also nicht ein Beamter seines Ministeriums oder seine Mutter, sondern er selbst. Genauer: er als WIR, also eine Art „me, myself and I“. Das WIR hat er Merkel gestohlen: WIR schaffen das! Oder ist das jetzt doch der Gebrauch des PLURALIS MAJESTATIS, also WIR, Jens Spahn, Gesundheitsminister von Merkels Gnaden! Und genießen will er – nicht etwa sex and drugs and rock´n roll, sondern die Schönheiten Deutschlands. Die Schönheiten Deutschlands? Das sind doch nicht etwa die von GNTM mit Quietsche- Heidi? Nein! Gemeint sind wohl die landschaftlichen Schönheiten! Ach!? Ich bin fest davon ausgegangen, dass er sich die hässlichen Ecken Deutschlands zu Gemüte führen wird, wenn er schon mal Urlaub macht. Ich wollte ihm ein paar Straßenzüge in Gelsenkirchen empfehlen! Aber jetzt doch wieder Bayern! Und dann der Quatsch mit den anderen Bundesländern, die auch alle schön sind! Jetzt mal ehrlich – und da hau ich voll den Ruhri raus! Hier gilt doch einfach: „T-Shirt mit Heimatgefühl! Ruhrgebietsmenschen sind Lokalpatrioten – da darf mit unserem T-Shirt „A40 – woanders is auch scheisse“ ein klares Bekenntnis zum Pott nicht fehlen! „***
Mensch, Jens, du Inzidenzenverkäufer! Da kommen mir fast die Tränen – wenn dein Urlaub so umständlich ist wie deine Antwort, dann wird das ein Flop!

Wobei: die Tränen führen mich weit weg, nämlich bis nach Korea. Nach Nordkorea, also in das Reich von Kim Jong- un. Der soll angeblich ganz schrecklich viel abgenommen haben. Vermutlich deshalb, weil er so traurig ist, dass sein guter Kumpel Trump nicht mehr Präsident ist. Oder weil Jens Spahn samt WIR wieder nach Bayern fährt anstatt nach Nordkorea. So genau weiß man das allerdings nicht. Auch nicht, wie viel er denn jetzt tatsächlich abgenommen hat. Aber wohl ganz viel! Es muss so viel sein, dass ein nicht namentlich genannter Bewohner Pjöngjangs (rund 3 Mio. Einwohner) in nordkoreanischen Staatsmedien mit der Aussage zitiert wird: „Unseren angesehenen Generalsekretär so ausgemergelt zu sehen, bricht unserem Volk das Herz.“ Und wenn so ein Satz vom einem medialen Leuchtturm der Wahrheit, wie er dutzendfach in Nordkorea steht, ausgestrahlt wird, dann muss er, der Kim, schon ganz schlimm dünn sein. Sonst würde der Satz hier bei uns in seriösen Medien wie der WAZ nicht zitiert werden und auch in unseriösen wie dem HerrKules nicht ! Ob das koreanische Volk nicht nur an gebrochenem Herzen, sondern auch an Hunger leidet, hat der zitierte Einwohner von Pjöngjang leider nicht verraten. Das ist wahrscheinlich ein Staatsgeheimnis.

Jetzt aber doch noch etwas Erfreuliches. Das Rathaus in Buer soll renoviert werden. Angesetzte Bauzeit: zehn Jahre! Warum sollten wir hoffen, dass diese Bauzeit, anders als beim Hans-Sachs-Haus, tatsächlich eingehalten wird?
Weil wir dann 2031 wieder einen Paternoster in Betrieb nehmen könnten, den es im Buerschen Rathaus noch gibt, der gegenwärtig aber nicht in Betrieb ist. So ein Paternoster, respektlos auch als Beamtenbagger bezeichnet, legt etwa 0,2 bis 0,45 Meter pro Sekunde zurück. Das könnte uns die Wartezeiten beim städtischen Bürgerservice in Buer versüßen, denn da ließen sich wohl etliche Runden drehen, bis die gezogene Nummer aufgerufen wird.
Und das ist doch eine Perspektive, die Freude macht!

*Siehe dazu den Filmausschnitt:
https://www.youtube.com/watch?v=gXwAuE2whrI&list=PLPac3QYiTwa6vLKYpTDym-wSvun52XjnX (Ausschnitt der Verfilmung mit Dieter Hildebrandt aus dem Jahre 1964)
**Eine Passage vorher: „In meinem Buch erzähle ich von mir(…).“ (Quelle: WAZ, 3.7.21S. WRP_1)
***http://www.ruhrkonsum.de/produkte/heimatgefuehle-mit-frank-goosen/men/299/t-shirt-a40-woanders-is-auch-scheisse

Fett- und Kursivsetzungen durch mich (BM).

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Die Mehrheit der Wähler, Männer, Frauen und weitere, hält Frau Baerbock für ungeeignet als Kanzlerin. Die Mehrheit der Grünen sieht es genau anders herum.
Sind die Wähler/Innen etc. nun eher frauenfeindlich unterwegs..? Wohl kaum, 16 Jahre Kanzlerin Merkel sprechen dagegen.
Scheint bei den Grünen etwas falsch zu laufen, möglicherweise ist es die Quotenfalle. Habeck hätte eindeutig mehr Chancen bei den Wählern gehabt, passt aber nicht in das von den Grünen zur politischen Strategie erhobene System der selbsterfüllenden Prophezeiung.
Kann aber auch einen banaleren Grund haben, zu viele Claqueure und aufstrebende Ja-Sager Talente in ihrer Umgebung?

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