Karl Moor: Pfui! pfui über das schlappe Kastraten-Jahrhundert (F. Schiller, Die Räuber I/2)
Angesichts des Impfdesasters, der Masken-Geschäfte-Schmuddelei, der Pannenketten im Zuge der Corona-Maßnahmen, der diffusen und widersprüchlichen Entscheidungen und Aussagen, kurz: der allgemeinen Desorganisation und konturlosen Politik, die einen Vorlauf von über einem Jahr und Erfahrungen mit dem ersten Lockdown hatte, also nicht unvorbereitet auf ein unbekanntes Ereignis stößt, stellt sich vor dem Hintergrund des abermaligen Lockdowns und der wachsenden volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen, psycho-sozialen und menschlichen Probleme eine Reihe von Fragen zu den politisch Handelnden:
Was ist das für ein Personal, das uns regieren zu können meint?
Ein Personal, angelandet am verkommenen Ufer eines ausgetrockneten Sees namens (Partei-)Politik, hochgestiegen die kontaminierten Leitersprossen der politischen Karriere?
Ein Personal, glatt geschliffenen Kieselsteinen gleichend, die ohne Einsprengsel an Farbe, ohne Marmorierung und alle von der gleichen Haptik, offensichtlich etwas Anatomisches gemeinsam haben: da, wo sonst ein Rückgrat sitzt, das das Aufrechtgehen erst ermöglicht, ist eine Gummileiste eingezogen, die die Biegsamkeit zum Wesensmerkmal macht und zugleich dieses Personal und seine Haltung zur Kenntlichkeit entstellt?
Zum Wesensmerkmal einer Kaste von Floskel-Produzenten, von Satzbaustein-Mundwerkern, von Phrasen-Händlern und ambulanten Leerformel-Kaskaden-Sprechern?
Im Moment bestimmen Leerformeln wie „Nach vorne schauen!“, „Beim Impfen jetzt Tempo aufnehmen“, „Wir mussten so entscheiden“, „Es geht um die Entlastung des Gesundheitssystem und die Nachverfolgung“ die Corona-Erzählungen, die täglich über uns ausgeschüttet werden. Nur über sich selber, über ihr Handeln, ihre persönlich-politische Verantwortung sprechen die Politiker in ihren Plapper- und Plauder-Paraden nicht. Sie verschwinden hinter ihren Worthülsen, lösen sich gleichsam auf im Wolkigen ihres Sprechens, in der Unverbindlichkeit der eigenen Nicht-Verantwortungs-Parolen. Sie auf eine greifbare feste Position zu ihrer eigenen Rolle festzulegen, kommt dem berühmten Versuch gleich, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Schauen wir einmal gemeinsam ein wenig zurück! Nein, nein, keine Sorge – es folgt nicht das Lied vom „früher war alles besser; es geht aber um das „früher war manches anders“!
Beginnen wir, chronologisch ungeordnet, mit Rudolf Scharping, der immer eine wenig an die Schlange Ka aus dem „Dschungelbuch“ erinnerte, die ihr Gegenüber durch ihre Art zu reden einschläfern konnte. Ein Charmebolzen war er nicht, ein emotionaler Spring-ins-Feld war er nicht. Er war ein (langweiliger) Parteiarbeiter ohne Charisma. Er hatte politisch und gesellschaftlich nicht unbedingt ein „gutes Händchen“. Als er 2002 einmal den lebenslustigen Vogel gab und sich mit seiner Lebensgefährtin Gräfin Pilati-Borggrefe auf Mallorca planschend in einem Swimming-Pool ablichten ließ ( die Bundeswehr stand vor ihrem Einsatz im Kosovo), fraß ihn die Boulevard-Presse auf – und Kanzler Schröder warf den Verteidigungsminister Scharping aus dem Kabinett.
Scharping schied 2005 aus dem Bundestag aus und wurde Radsport-Funktionär.
Er stolperte über, politisch gesehen, eine Banalität. Aber er wusste oder spürte offensichtlich, dass die Aufgabe eines Verteidigungsministers für ihn eine Nummer zu groß und er politisch verbrannt war. Mit seiner Entlassung trug der Machtmensch Schröder diesem Umstand Rechnung!
Die Schäden, die ein Jens Spahn mittlerweile zu verantworten hat, sind weitaus größer als der boulevardeske Fehltritt Scharpings. Der eine gibt sein Mandat auf, gesteht seine Schwächen ein, der andere versucht, seine Schwächen, Fehler und Managementkatastrophen weg zu grinsen und durch ständige Neuankündigen (freies Testen für alle, ohne dass genug Testmaterial organisiert ist) vergessen zu machen.
Hätte er Charakter, würde Spahn sein Amt niederlegen!
. Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg stürzte nach einem kometenhaften Aufstieg rasant ab. Er stolperte nicht über politische Fehlentscheidungen, sondern wegen einer Doktorarbeit voller Passagen mit Plagiaten. Nach einer Phase des Leugnens und sich Heraus-Redens musste er sich den Fakten beugen: sein Doktorgrad wurde ihm wegen der Mängel in seiner Arbeit aberkannt (Februar 2011), im März 2011 legte er sämtliche politischen Ämter nieder.
Gemessen an der Verantwortung von Ursula von der Leyen für das desaströse Missmanagement bei der Beschaffung der zu geringen Impfstoffmengen für die Europäische Union und das Zuständigkeitswirrwarr dafür, ist auch von Guttenbergs Verfehlung nahezu unbedeutend. Er hat seinem Ansehen und dem Ansehen der Politiker überhaupt durch seine Trickserei und seine wissenschaftliche Unehrlichkeit Schaden zugefügt. Gemessen an dem „Corona-Schaden“, den die ehemalige „Flinten-Uschi“ verursacht hat, eine beinahe zu vernachlässigender Fehltritt des Felix Krull der deutschen Nachkriegspolitik! Ursula von der Leyen meint, die von ihr angerichteten Schäden mit einem wie festgetackert wirkendem und stets präsentem Süßholz-Lächeln vergessen machen zu können, sie ist die Grinsepräsidentin, die Europa der Lächerlichkeit preisgegeben und dem Kampf gegen Corona geschadet hat.
Hätte Sie Charakter, würde von der Leyen ihr Amt niederlegen!
Am 7. Mai 1974 trat Willy Brandt als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zurück. Nicht etwa wegen persönlicher Verfehlungen, politischer Fehlentscheidungen oder einem Vertrauensverlust der Wählerschaft, sondern weil kurz zuvor einer seiner engsten Mitarbeiter, sein persönlicher Referent Günter Guillaume, als DDR-Spion entlarvt worden war. Am Abend des 6.Mai gab Willy Brandt dem damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann seinen Rücktritt bekannt. Als Begründung nannte Brandt seine politische Verantwortung für die Causa Guillaume. Obwohl die Verantwortung in der Sache faktisch bei den Sicherheitsdiensten, der Spionageabwehr und anderen Ämtern gelegen hatte, versteckte sich Brandt nicht hinter diesen Institutionen. Obwohl er für den Schaden, der der Bundesrepublik durch die Spionagetätigkeit seines Mitarbeiters entstanden war, keine Verantwortung trug, hatte Brandt die Größe, Verantwortung zu übernehmen. Er, der Getäuschte, wollte seine Wählerschaft nicht enttäuschen.
Stellt man diese Haltung der der Kanzlerin Angela Merkel gegenüber, dann wird deutlich, wie verzwergt die deutsche Politik seit geraumer Zeit ist. Die Kanzlerin, deren Auftritte zum Corona-Management zwischen Hochmut, zur Schau gestellten Langeweile, Verstocktheit und Ungeduld gegenüber Fragestellern hin und her pendeln, sitzt, ganz in Kohlscher Manier, unangenehme Themen aus, verhält sich häufig fast so wie ein Kind, das meint, man sähe es nicht, wenn es nur fest genug die Hände vor die Augen hält, lässt aber ihre gelegentlichen Worthülsen-Ansprachen gerne als „historisch“ von der ihr wohlgesonnen Presse ankündigen.
Ob ihr Peterle, ihr Helge oder ihr Jens: sie dürfen Phrasen dreschen, dampfplaudern, Versprechungen machen, die sie nicht einhalten, Gelder ankündigen, die nicht oder nicht rechtzeitig ankommen und auf ganzer Linie tagtäglich aufs Neue scheitern. Im System Merkel ist niemand für nichts verantwortlich – am wenigsten die Kanzlerin selbst! Die Hauptverantwortliche ist die Königin der Verantwortungslosigkeit mit ihrem Kaffeekränzchen einer willfährigen Dienerschaft und einem Kreis ihr zugeneigter Virologen.
Ein Rücktritt?
Doch nicht sie!
Hauptsache man rettet sich von Nachrichtensendung zu Nachrichtensendung, von Desaster zu Desaster, von Tag zu Tag ans Ufer!
An ein verkommenes Ufer!
Meines Erachtens fehlt hier ein klares sozialwissenschaftliches politiologisches Fazit der Einordnung des Gesehenen als das, was es ist.
Als Vorschläge stehen parat:
1. Karteillparteienthese* (von Katz/Mair: seit den 90iger Jahren)
2. Kleptokratie; häufig in Verbindung mit Vetternwirtschaft („Herrschaft der Plünderer“: seit Dirk Müller – Mr. Dax – nach der Krise 2007/08 für die Bundesrepublik erwähnt)
—
* „Ausgangspunkt ist die Idee, dass die etablierten Parteien auf ihre zunehmend nachlassende gesellschaftliche Verankerung (geringere Mitgliederzahl, verringerte Beitragsannahmen, erhöhte Volatilität, geschwächte Bindung zu gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren [= Abwendung der Bürger von der Politik und den Politikern]) mit einer Hinwendung zum Staat reagieren, um so neue Ressourcen (insbesondere staatliche Parteienfinanzierung) zum Ausgleich erschließen zu können. Außerdem soll sich das strategische Verhalten der Parteien über Parteiengrenzen hinweg zu Gunsten von Kooperationen untereinander verändern, so dass sie aus jeweiligem Eigeninteresse kooperieren und die gewonnenen staatlichen Ressourcen [s. z.B. Wahlreform verschieben] gegenüber neuen Parteien verteidigen sowie ausbauen können. Grund dafür ist unter anderem eine fortschreitende Professionalisierung der Akteure, die sich in der zunehmenden Zahl von „Berufspolitikerinnen und -politikern“ bemerkbar macht. Aufgrund der gemeinsamen Verteilung von Ressourcen und einer „Verschmelzung“ mit der staatlichen Sphäre kann von einem Parteienkartell gesprochen werden.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Kartellpartei
Dank für deinen engagierten Beitrag, zu dem ich allerdings etwas anmerken möchte. Du schreibst, es fehle ein klares politologisches und sozialwissenschaftliches Fazit der Einordnung. Das ist absolut richtig gesehen! Das ist aber zugleich nicht meine Absicht gewesen – mir ging es nicht um Parteien, sondern Individuen, die in den Parteien Karriere machen und einen bestimmten Typus verkörpern. Den kann man als Typ ohne Rückgrat bezeichnen, wie ich es ja tue, oder eben als charakterlos. Das Wort CHARAKTER taucht deshalb im Fettdruck auf. Das Zitat aus Schillers „Die Räuber“steht ebenfalls in Fettdruck und in diesem Kontext: den Typus, den ich als charakterlos markiere, belegt Schillers Karl Moor mit dem Begriff „Kastraten(-jahrhundert)“.Es fehlen Karl Moor Kandidaten (Anführer) mit „Eiern in der Hose“ -so würde man heute vielleicht sagen können , gemeint sind also Figuren ohne Rückgrat.
Ich gehe auf die Parteien nur insofern ein, als ich von kontaminierten Leitersprossen spreche- gemeint ist damit, dass heute die „Kantigen“ keine Chance mehr haben, die, die „von unten“ oder „von der Seite“ kommen, sondern nur noch solche, die stromlinienförmig nach oben schwimmen, also Anpassertypen, die biegsam sind, nicht solche, die eine eigene Position vertreten und sie durchhalten.
Solche „Karrieren“ geschehen im Kontext der Entwicklung von Parteien als einem institutionellen Rahmen. Das sind die „Berufspolitiker“, auf die du verweist, die machen ihre Karriere „in der Politik“, müssen also auch versuchen, die Tätigkeit mindestens solange auszuüben, bis die Zeit um ist, um „Ansprüche“ auf eine Apanage nach der „Politik“ zu haben (weil sie zum Beispiel keine eigene Berufserfahrung auf einem Gebiet haben, auf dem sie selbst „ihre Brötchen“ verdienen mussten . Insofern sehe ich deine Ausführungen nicht im Gegensatz zu meinen, sondern sehe eine andere Perspektive!
Zum (Zeitgeist)Vergleich mal ein Gespräch mit Ludwig Erhard.
https://youtu.be/qw1NuAdwkZg
ja, einfach klasse, inhaltlich (unabhängig davon, ob ich alles teile, was der ex-kanzler sagt) und formal. die nahezu intime nähe, der umstand, das man den fragenden g.g. – von wenigen ausnahmen in einigen folgen- nur von schräg hinten sieht, die ruhe des zuhörens, sprechens und (nach-)fragens. toll, dass die selbstverständlich auch paffen, wenn sie wollen(ohne zu fragen) – heute undenkbar.
mein lieblingsinterview ist das mit hannah arendt,deren politische arbeiten ich schätze, die ich als typ aber einfach prima finden. eine solche frau findest du, meiner kenntnis nach, kaum noch in der politik, im wissenschaftsbetrieb oder im journalismus.