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Kapitel 7: Neue Horizonte

Jetzt wurde die Sache erst richtig spannend! Während in Gelsenkirchen die Post abging, erlebte der noch taufrische Hans Frey eine ganz neue (politische) Welt,

die sich auch in der Erweiterung der geografischen Räume ausdrückte.

Mein bis dahin wichtigstes Erlebnis in diesem Zusammenhang war eine Klassenfahrt nach London gewesen.

Diese pulsierende Metropole machte auf mich einen ungeheuren Eindruck, und ich spürte bei aller Liebe, Gelsenkirchen kann nicht alles sein! Sie müssen sich jetzt bitte vergegenwärtigen, dass ich ein Junge war, der wenig von der Welt und den Menschen wusste. Aufgewachsen in einem behüteten, halbproletarischen Umfeld mit all seiner Enge und seinen Defiziten, begann ich langsam, mich über die Politik in bewusstere Sphären zu hangeln. Wahrscheinlich war dies, wenn auch untergründig, eine der entscheidenden Motivationen, die Richtung einzuschlagen, die ich dann auch tatsächlich genommen habe.

Zupass kam, dass ich – ich meine, es war um 1972 – vom Juso-Bezirk Westliches Westfalen zum Mitglied des Bundesausschusses der Jusos gewählt wurde. Übergangslos war ich plötzlich ständigen Reisen ausgesetzt – und es gefiel mir unglaublich! Heute Bonn, morgen Hannover, dann Berlin, Kassel, Wiesbaden, München, Hamburg, Nürnberg, Bremen, Köln, Düsseldorf usw.

Bezeichnend auch folgende Begebenheit, die meiner Meinung nach nur in dieser Zeit so hatte geschehen können. Irgendwann in einem heißen Sommer des Jahres 1971 stieg ich in einen Zug, um nach Würzburg zu fahren. In der dort ansässigen Bildungsstätte „Haus Frankenwarte“ fand ein Bundesseminar der Jusos statt, an dem ich teilnehmen wollte. Ich hockte also im ruckelnden Zugabteil und las irgendein sozialistisches Magazin, vielleicht auch die „Konkret“.

Mir gegenüber saß ein bärtiger junger Mann, vor sich die „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Es blieb nicht aus, dass wir Augenkontakt aufnahmen, denn die jeweilige Lektüre ließ natürlich einige Spekulationen aufkommen. Schließlich fragte mein Gegenüber: „Auch bei den Jusos?“ Ich bestätigte, und schnell war heraus, dass besagter junger Mann genauso wie ich unterwegs zum „Haus Frankenwarte“ war. Das war, ohne „Casablanca“ zu bemühen, der Beginn einer Freundschaft, die bis heute gehalten hat.

Der Mann war übrigens Hans Pflug aus Duisburg, heute MdB. Über eine lange Wegstrecke teilten wir das gemeinsame Schicksal als NRW-Landtagsabgeordnete und als Vorsitzende von zwei großen Ruhrgebiets-Unterbezirken der SPD – er in Duisburg, ich in Gelsenkirchen. Da die Jusos zu dieser Zeit noch über richtiges Geld verfügten, machte der Juso-Bezirksvorstand WW, in dem ich kooptiertes (scherzhaft sagte ich immer „korrumpiertes“) Mitglied war, auch schon mal so eben eine seiner Klausurtagungen im geteilten Berlin.

So kam ich zu meinem ersten Flug (noch nach Tempelhof), für mich ein großes Erlebnis.

Heute hat die Begeisterung bei dem Gedanken, in eine dieser Sardinenbüchsen einsteigen zu müssen, merklich nachgelassen, damals aber war ich tief beeindruckt! Nebenbei traf man auf dem Flughafen Hannover Josef Beuys oder beim Frühstück im Berliner „Hotel am Funkturm“ den bekannten, leider schon verstorbenen Schauspieler Klaus Schwarzkopf – um nur einige wenige Beispiele der „Weltläufigkeit“ zu nennen, die mir nun zuteil wurde.

Und ich lernte in Scharen Polit-Größen kennen, angefangen von den (damaligen) Juso-Halbgöttern bis zu den Großkopferten der Partei, die mir allesamt bis dahin nur fern entrückt in Presse, Funk und Fernsehen erschienen waren. Das ehrfürchtige Erschauern vor den großen Namen, das ich damals zwar hatte, aber selbstverständlich für mich behielt, hat sich im Laufe der Zeit auf ein Normalmaß reduziert. Denn glauben Sie mir, es kochen tatsächlich alle nur mit Wasser, wenn auch zugegebenermaßen unterschiedlich virtuos!

Roland Ermrich, heute im Mediengeschäft, war der Erste im Konzert der Juso-Bundesausschuss-Mitglieder von WW, den ich kennen lernte. Roland war nicht nur politisch versiert, sondern auch ein „Energiewandler“. Obwohl schlank an Gestalt (damals jedenfalls), konnte er Unmengen von Nahrungsmitteln vertilgen. Ich weiß noch, wie er ohne Probleme eine Speisekarte quasi rauf und runter aß. Auch sonst war er nicht ohne.

Nur eine Anekdote:

Mit Roland, der mir stolz seinen nagelneuen Wagen vorführte, fuhr ich nach Siegen, um dort Loke Mernizka abzuholen. Unterwegs hielt Roland vor einem Spielzeuggeschäft, kaufte ein Kindertelefon und erklärte: „Den Loke lege ich heute rein. Ich behaupte, dass ich ein Autotelefon habe (früher eine außerordentliche Sache, H. F.), mit dem ich sofort Willy Brandt und Herbert Wehner erreichen kann.“ Wir kamen in Siegen an und suchten verzweifelt die angegebene Straße. Wir fragten einen Passanten, der die Straße aber auch nicht kannte. Zufällig ließ ich fallen, in dieser Straße müsste ein gewisser Loke Mernizka wohnen. Schlagartig hellte sich das Gesicht des Passanten auf. „Ach so“, meinte er, „Sie suchen den Loke. Ja, der wohnt genau dort!“

Loke wurde also erfolgreich gefunden und eingeladen. Der gewichtige, mit großer Leibesfülle gesegnete Siegener nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Dann legte Roland los. „Mit diesem Knopf bewege ich beim stärksten Regen die Scheibenwischer. Kein Tropfen bleibt auf der Windschutzscheibe. Hier ist das Radio, mit dem ich alle Weltprogramme empfangen kann. Und jetzt das Beste! Mein Autotelefon, mit dem ich sofort Willy oder Herbert anrufen kann!“ In Erwartung größter Anerkennung entstand plötzlich eine kurze Stille.

Dann sagte Loke stoisch mit seinem rollenden Siegerland-‚R’: „Und wo ist der automatische Fotzenkitzler?“

Das Original Loke (der ungewöhnliche Vorname leitet sich wohl von dem Namen des germanischen Gottes Loki ab) war für viele wunderbare Dönekes gut. Sie bringen noch heute andere und mich zum herzhaften Lachen. Das darf allerdings nicht über sein ernsthaftes Engagement und seine politischen Fähigkeiten hinweg täuschen. Er stammte aus armen Verhältnissen und musste noch als halbes Kind auf einem Stahlwerk in Hüttental-Geisweid malochen gehen, obwohl er, wie er mir einmal gestand, von Herzen gerne Opernsänger geworden wäre (das Talent hatte er, wie er uns oft bei unseren „Singeabenden“ bewies). Die Wahl zum stellvertretenden Juso-Bundesvorsitzenden war für ihn eine Art politischer Durchbruch, den er nach der Juso-Zeit als Vorsitzender der SPD-Ratsfraktion in Siegen und als mein Landtagskollege fortsetze. Loke spielte bei den Jusos eine spezielle Rolle.

Die Jusos, die nicht ganz zu Unrecht als kopflastig und akademisch galten, mussten ihren Anspruch, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten, irgendwie belegen – und sei es nur symbolisch. Mit dem Walzwerker aus dem Siegerland hatte man nun endlich einen waschechten Arbeiter zum Vorzeigen. Die Rolle füllte Loke auch exzellent aus, aber nicht als Schablone, sondern als bodenständiger Politiker, der tatsächlich immer wieder die theoretischen Überflieger auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Seine Rolle als „Vorzeigearbeiter“ war mithin nur zu einem geringen Teil die, schmückendes Beiwerk zu sein, sondern v. a. die eines oft heilsamen Korrektivs für die Jusos selbst. Viele veröffentlichte Meinungen sahen das fälschlicherweise umgekehrt.

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