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In dem damals mächtigen SPD-Bezirk Westliches Westfalen (WW), für den es eine organisatorische Entsprechung in Form des Juso-Bezirks WW gab,

unternahm ich meine ersten überörtlichen Gehversuche.

Es waren nicht nur Roland und Loke (und dessen damaliger „Co-Pilot“ Siegfried Dreher, auch ein markanter Arbeitertyp), sondern Genossen wie Manfred Degen aus Marl, Bernd Kasperek aus Herten und Klaus Strehl aus Bottrop, die ich auf dieser Ebene kennen lernte. In dieser connection“ lag übrigens auch einer der Grundsteine für die Emscher-Lippe-Initiative, die wir Jahre später zusammen mit Jochen Poß aus der Taufe hoben, um dem Einzelkämpfertum der Städte und Kreise unserer Region (und dem der jeweiligen Ortsparteien) etwas entgegenzusetzen.

Erdmann Linde, der nach dem SHB-Bundesvorsitz (Sozialdemokratischer Hochschulbund) für drei Jahre den Juso-Bezirksvorsitz übernahm (1969-1972), war für mich eine der ersten Juso-Größen, der ich Auge in Auge begegnete. Erdmann hatte allein schon deshalb einen Nimbus, weil er enge Kontakte zu Willy Brandt und Günter Grass hatte, und er selbst war und ist eben eine Persönlichkeit, die es nicht an jeder Ecke gibt.

Mit Erdmann verbinden mich viele Geschichte. Eine von ihnen erzähle ich, weil sie auch so wunderbar in den Zusammenhang passt.

Aufgehängt an der Bild-Zeitung hatten wir im Herbst 72 in Gelsenkirchen eine Kampagne für die Unabhängigkeit der Presse von den Kapitalgebern gestartet. Eine Podiumsdiskussion, unter anderem mit Erdmann Linde und Walter Plevka, seines Zeichens Gelsenkirchener Redaktionsleiter der CDU-lastigen Ruhr-Nachrichten, rundete die Aktion ab. (Der eingeladene Bild-Redakteur war erst gar nicht gekommen.) Direkt am Anfang fuhr Plevka bereits schweres Geschütz auf.

Er erklärte, die Aktion der Jusos sei ein Angriff auf die Pressefreiheit und führe zum Parteidirigismus. Offensichtlich hatte Plevka die Problematik (Abhängigkeit der Journalisten von den Verlegern) nicht begriffen oder begreifen wollen. So dachte wohl auch Erdmann und zahlte in gleicher Münze heim. Er bezeichnete Plevkas Beitrag kurz und bündig als „Schwachsinn“. Daraufhin sprang Plevka empört auf und verließ wutentbrannt den Saal.

Schade, denn der Mann der Ruhr-Nachrichten hätte doch genug Gelegenheit gehabt, den forschen Juso-Bezirksvorsitzenden mit guten Argumenten in die Schranken zu weisen – wenn er denn welche gehabt hätte. Wie dem auch sei. Wir fanden Plevkas Theaterdonner lustig und freuten uns, dass er die Vorlage für die anschließende Berichterstattung geliefert hatte. Denn die anderen Redakteure, die anwesend war (z. B. Werner Conrad von der WAZ), hatten sehr wohl verstanden, worum es ging.

Viele andere Bezirksbekanntschaften müssten eigentlich noch genannt werden, aber ich unterlasse das, um nicht ins Uferlose zu kommen. Zwei Ausnahmen mache ich doch. Die eine heißt Franz-Josef Kniola. Der Dortmunder Franz-Josef war der zuständige Juso-Bezirkssekretär, der seine Aufgaben souverän und effektiv erledigte, ansonsten aber, so meine Wahrnehmung, mit dem „Juso-Quatsch“ eigentlich nichts am Hut hatte. Von ihm wurden die Bezirksjusos (v. a. die um den Juso-Bezirksvorsitzenden Klaus Heimann herum) kräftig veräppelt, ohne dass diese es überhaupt merkten. Natürlich machte er das nie explizit deutlich, aber sein ganzes Verhalten erzeugte bei mir ein tiefes Misstrauen, sodass unser Verhältnis zu dieser Zeit äußerst gespannt war.

Als Landtagsabgeordnete trafen wir uns Jahre später wieder, und der clevere Kniola machte mit Hilfe der Dortmunder Quelle namens „Bezirk Westliches Westfalen“ eine rasante Karriere in der Landesregierung. Da Franz-Josefs Familie eine Steinmetz-Firma hatte, die u. a. Grabsteine produzierte, kursierte schon zu Juso-Zeiten der Spruch: „Jeder Bürger fühlt sich wohla mit einem Grabstein von Kniola.“ Als er dann Innenminister war, dichtete ich den Vers um: „Jeder Bürger fühlt sich wohla mit einem Knüppel von Kniola.“ Im Landtag entspannte sich unser Verhältnis zusehends, und das hing wohl damit zusammen, dass ich seine Art zunehmend besser zu verstehen lernte.

Franz-Josef war ein ausgebuffter Technokrat, der sich nie groß um Inhalte gekümmert hatte. Für ihn war, so schätze ich, Politik ein großes „Monopoly“, wobei jeder weiß, worum es bei dem Spiel geht. Damals wie heute liegt mir diese Einstellung nicht, aber ich musste anerkennen, dass er seine Jobs gut machte. Ich akzeptierte, dass Politik, will sie denn auch administrativ funktionieren, Menschen mit solchen Strickmustern braucht. Das ist nicht abwertend gemeint, vorausgesetzt, derartige Menschen verfügen über ein Mindestmaß an politischer Überzeugung.

Das war bei Franz-Josef der Fall, und so schlossen wir beide Frieden.

Der andere, über den ich noch etwas sagen will, heißt Franz Müntefering. „Münte“ (ich behaupte, dass ich seinen Spitznamen erfunden oder ihn zumindest als einer der Ersten in Umlauf gebracht habe), der Sauerländer, ist sicherlich der Bezirks-Juso, der es von allen anderen zu den höchsten Weihen des Staates gebracht hat. Und zweimal hintereinander SPD-Parteivorsitzender zu werden, ist auch nicht von schlechten Eltern.

Einen herzlichen Kontakt zu ihm hatte ich allerdings schon damals nicht gehabt, was vielleicht auch daran lag, dass ich nicht sonderlich viel von ihm hielt (und er von mir höchstwahrscheinlich auch nicht). Er hechelte mir zu willig hinter der SPD-Bezirksspitze um den Vorsitzenden Hermann Heinemann hinterher und erschien mir auch sonst zu eilfertig. Irgendwie hatte er für mich schon immer etwas von dem aufregenden Charme eines Sachbearbeiters einer Ortskrankenkasse an sich gehabt, ohne damit Sachbearbeitern bei Ortskrankenkassen zu nahe treten zu wollen.

Diesen Eindruck konnten auch seine späteren hohen Würden bei mir nie ganz beseitigen. (Sorry Franz, ich will deine Verdienste nicht schmälern, aber so ist es nun mal.) So kreuzten sich unsere Wege immer wieder, z. B. vor allem im Landtag. Die Distanz aber blieb.

Der Juso-Bezirk WW hatte bundesweit einen eher schlechten Ruf. Man hofierte ihn zwar wegen seiner vielen Delegiertenstimmen, indirekt galt er aber als „graue Masse“ ohne inhaltliche Substanz. Nicht von ungefähr kursierte im gesamten Verband für WW die spöttisch-witzige Bezeichnung „westliche Vandalen“ – etwa in dem Sinn: viele Leute, tölpelhaft, laut, trinkfest und tumb, eben Barbaren. Die abfällige Haltung gegenüber den WW-Jusos war in ihrer Pauschalität sicher ungerecht. Andererseits war der Verdacht, WW biete eher Masse statt Klasse, auch nicht gänzlich unberechtigt. Denn das Verhalten der WW-Delegationen bestätigte zuweilen diese Unterstellung.

Der andere Grund war, dass der Vorwurf auf den gesamten SPD-Bezirk WW noch weit mehr zutraf als auf den Juso-Bezirk. Das färbte natürlich auf die Jusos ab. In der Rückschau kann ich nur sagen, dass der SPD-Bezirk WW im Wesentlichen eine Machtverteilungszentrale war (v. a. im Interesse Dortmunds), und das war nicht gut. Als Jahrzehnte später der Bezirk zugunsten eines SPD-Landesbezirks NRW abgeschafft wurde, hatte ich im Gegensatz zu vielen anderen überhaupt keine Bauchschmerzen. Im Gegenteil, ich unterstützte mit Genuss das Unterfangen, während „Bezirksvasallen“ wie z. B. Karsten Rudolph und Norbert Römer (beide heute MdL) über mich herfielen und Zeter und Mordio schrieen.

Zu dem politisch blutleeren Norbert Römer, ursprünglich ein sich stark rechts gerierender IGBE-Funktionär, sagte ich immer: „Es ist unglaublich, was sich heute alles Römer schimpfen darf.“ Und der intellektuelle, aber zum Opportunismus neigende Karsten Rudolph, der so vehement gegen den Landesbezirk polemisiert hatte, war plötzlich ohne nennenswerte Gewissensbisse dessen stellvertretender Vorsitzender. So kann es kommen. Ob die Landesorganisation die großen Erwartungen, die an sie geknüpft wurden, bis heute erfüllt hat, mag bezweifelt werden. Trotzdem halte ich im Grundsatz die Entscheidung immer noch für richtig, und zwar nicht nur, aber auch wegen der zwei Genannten.

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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