Ende 1971 (ich dachte immer, es sei 73 gewesen, aber ich habe noch einmal nachgeschaut, und siehe da, es war tatsächlich schon 1971) wurde ich in Nachfolge des Sprechers Joachim Poß Vorsitzender der Gelsenkirchener Jungsozialisten.
Das war ein wichtiger Posten, denn Sie müssen wissen, dass die Jusos zu dieser Zeit über eine enorme Publizität verfügten. Die Äußerungen des Juso-Bundesvorstandes hatten ihren selbstverständlichen Platz in der ARD-Tagesschau – neben den Veröffentlichungen des Parteivorstandes der SPD.
Manchmal wurden sie sogar vorrangig gehandelt. Entsprechendes fand auf lokaler Ebene statt. Die Presseerklärungen des Juso-UB-Vorstandes erfreuten sich hoher öffentlicher Beachtung, und es war keineswegs überraschend, wenn den Ansichten des Juso-Vorstandes mehr Platz im Redaktionsteil eingeräumt wurde als den offiziellen Mitteilungen der SPD. Überhaupt war damals für die Presse fast alles interessant, was von den Jungsozialisten kam.
Insofern fand auch folgende amüsante Geschichte aus der Juso-AG Bulmke ihren Platz in den Print-Medien.
Gelsenkirchener Medien – damals und heute
Die Presselandschaft der 70er Jahre war in Gelsenkirchen, gemessen am heutigen Zustand, enorm vielfältig. Das Lokalradio gab es zwar noch nicht, aber dafür gab es sage und schreibe vier (!) Zeitungen: die WAZ, die Westfälische Rundschau, die Ruhr-Nachrichten und die Buersche Zeitung. Das hatte verschiedene positive Konsequenzen, z. B. die, dass jede Zeitung sich selbstverständlich um eine umfassende Berichterstattung gerade auch aus dem politischen Bereich bemühte. Man wollte den Konkurrenten ja nicht hinterher hinken.
Besonders in der BZ stand zudem viel Platz für Hintergrundkommentare und z. B. für eine eigene Jugendseite zur Verfügung, auf der herrlich mit der Jungen Union und der DKP/SDAJ gestritten werden konnte.
Wie reduziert ist dagegen die aktuelle Situation mit nur einer einzigen Monopolzeitung, bei der man auch nicht weiß, wie lange sie noch in der bestehenden Form existieren wird. Die Geschichte, die ich erzählen will, trägt den Titel „Der alternative Stadtfilm“.
Pikant ist sie auch deshalb, weil der bekannte Grüne Bernd Matzkowski, seines Zeichens Kabarettist („Nachtschalter“) und staatsalimentierter Deutschlehrer, in diesem Stück eine tragende Rolle spielt.
Matzkowski, der wie ich sein Abitur am Grillo-Gymnasium gemacht hatte (Bekanntschaft von daher vorausgesetzt), verirrte sich für eine kurze Zeit in die SPD, was er heute wahrscheinlich nicht mehr gerne hört. Auf alle Fälle hatte er schon damals, das muss man ihm lassen, originelle Ideen. Eine dieser Ideen war der „alternative Stadtfilm“.
Hintergrund: Sie wissen vielleicht, dass die Stadt Gelsenkirchen jahrelang einen Stadtfilm herausgab, der in Form einer Jahreschronik zugegebenermaßen betulich und auch schönfärberisch die Geschichte Gelsenkirchens aufzuzeichnen versuchte. Warum auch nicht? Sollte etwa von einer offiziellen Auftragsarbeit erwartet werden, dass sie die Stadt in die Pfanne haut?
Gerade das aber provozierte den Gedanken, dem offiziellen Stadtfilm etwas Kritisches, Alternatives, schlichtweg etwas Anderes entgegenzusetzen, und das hatte fraglos seinen Reiz. Matzkowski drehte also einen entsprechenden Schmalfilm, von dem ich nur noch weiß, dass er die tristesten Ecken der Stadt genüsslich ausleuchtete.
Von meiner Absicht, den Film in einer Versammlung der Juso-AG Bulmke aufführen zu lassen, hatte mittlerweile auch die Ortsvereins-Führung gehört. Sie reagierte umgehend, wahrscheinlich auch nicht ohne Beeinflussung von „höheren Stellen“, und mir wurde unter Androhung eines Parteiordnungsverfahrens schlichtweg verboten, die Veranstaltung durchzuführen.
Wieder die Frage: Was tun? Die Lösung des Problems war ganz einfach. Ich kam in die Bulmker Juso-Versammlung, sah den aufgebauten Projektor und die erwartungsvollen Blicke der Anwesenden. Selbst der damalige Stadtfilmer Werner Nickel war dabei, was dem Ganzen noch einen besonderen Kick gab. Also erklärte ich die Versammlung kurzerhand für aufgelöst, ohne natürlich auf den Hinweis zu verzichten, dass alles, was sich nun abspielen würde, eine reine Privatangelegenheit der Beteiligten sei.
Alle, ich eingeschlossen, genossen daraufhin doppelt den Film, obwohl er tatsächlich miserabel war. Immerhin: Zum wiederholten Male hatten wir die „Mafia“, wie wir damals die SPD-Führungstruppe respektlos nannten, richtig schön vor die Pumpe laufen lassen.
Nachgetragen sei, dass Bernd Matzkowski nach seinem Intermezzo bei der SPD lange Jahre in einem heruntergekommenen Zechenhäuschen in Bulmke dem KPD/ML-Proletkult frönte, bis ihn dann seine reale bürgerliche Existenz doch einholte und er sich standesgemäß bei den Grünen verortete.
Wie sagte schon Karl Marx? Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Was sind „ML-Richtungen“? KPD/ML heißt „Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten“. Diese Gruppe kam aus der 68er-Studentenbewegung, übertraf die orthodoxen Kommunisten (DKP) um ein Vielfaches an Radikalität und Sektierertum und spaltete sich wieder in andere Gruppen auf. Man orientierte sich nicht an Moskau, sondern an Peking und Mao – oder an dem, was man dafür hielt. Mir erzählte einmal jemand, der eine Zeit lang Mitglied der KPD/ML gewesen war, dass er sich mit der Begründung, in China gäbe es das nicht, keine Stereo-Anlage hatte kaufen dürfen. Was lächerlich klingt, ist bitter ernst, denn die ML-Gruppen waren und sind antidemokratisch und totalitär. Es herrscht eine strikte Kommandostruktur von oben nach unten, und die Mitglieder werden bis ins Privatleben hinein streng reglementiert.
Eines der Überbleibsel der ML-Richtung ist die Polit-Sekte MLPD (Marxistisch-leninistische Partei Deutschlands), die speziell in Gelsenkirchen ihr Unwesen treibt.
Was Bernd Matzkowski damals an dem ML-Misthaufen so faszinierend fand, ist mir heute noch ein Rätsel.