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Kneipe International – Neueröffnung seit Jahrzehnten

Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.

Johannes Stüttgen liebt sie abgöttisch, seine Gelsenkirchener Rasselbande, wohnt aber in Düsseldorf. Markus Lüppertz verklärt seine Zeit unter Tage in Gelsenkirchen, lebt dennoch in Florenz, Düsseldorf, Berlin und nicht im Ückendorfer Kreativquartier, in Hüllen oder Schalke.
So wie man früher die Nase rümpfte, wenn die Stadt der 1000 Feuer erwähnt wurde, Lehramtskandidaten lieber aufs Lehramt verzichteten, statt den ihnen zugewiesenen Job in der Stadt der Malocher anzutreten, schmückt man sich heute gerne mit der Zierde, (s)ein Herz verloren zu haben an die offenen, ehrlichen, aufrechten, ursprünglichen Kumpel und Rabotniks, die auf Kohle geboren werden und am Ende ihrer Tage in flüssigem Eisen in die ewigen Jagdgründe floaten.

Das sehen auch zahlreiche leitende Angestellte aus Verwaltung und Wirtschaft (angeblich) so, trotz anders lautender eigener Hausadressen.

Nicht jeder schafft es also, mit dem Ziel seiner Begierde eins zu werden.

Georg Kreisler wurde noch zu Lebzeiten Zeuge der erstaunlichen Lernfähigkeit der Gelsenkirchener, erkannten sie doch immerhin nach einigen Jahrzehnten, dass der Zeitgeist den Tatbestand der Majestätsbeleidigung als Ausdruck von Borniertheit, Engstirnigkeit und gar nicht recht passend für eine Stadt empfindet, die sich selber gerne als großen Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten und als Integrationsmaschine darstellt.

An diesem Mythos zu kratzen, bedeutet nach wie vor soziale, gesellschaftliche, politische Ächtung, weshalb sich Politiker klugerweise gegenseitig mit Lobeshymnen auf die unvergleichlich herbe Schöne übertreffen. Sie wissen, dass schon ein falscher Zungenschlag einen Shitstorm der Bürger auslöst und ihre Wiederwahl gefährdet.

Flammende Liebeserklärungen, ekstatische Oden, Bekenntnisse, Treueschwüre an die Stadt, klingen deshalb auch eher wie ein trozig entironisierter Text über den Mond von Wanne Eickel, wie ein sich selbst erfüllendes Prophezeihungsmantra, will man sich doch nicht vor sich selber und dem Rest der Republik lächerlich machen.

Irene Mihalic WAZ 05.10.18
Natürlich hat Gelsenkirchen auch seine Schwächen. Es ist nicht immer überall ganz toll. Aber das gehört eben auch zu einer Großstadt dazu. Ich bin davon überzeugt, dass Gelsenkirchen eine sehr lebenswerte Stadt ist.

Und ich bin davon überzeugt, dass die Anbetung eines Rechenschiebers gefühlvoller daher kommen würde.

Aber: der Bürger(in) will es so und verhindert in seiner Obsession, immer neuere Kleider des Kaisers zu sichten, einen realistischen Blick auf seine Situation.

Kinderarmut? Langzeitarbeitslose? Überalterung? Eine Stadtgesellschaft, die weder einen Ort zur gemeinsamen Kommunikation hat, in weiten Teilen seit Jahrzehnten nicht einmal eine gemeinsame Sprache spricht?

Alles gefälschte Statistik, ohne Berücksichtigung, dass wir einen Schalker Altar haben, den Mythos leben und die Gräber der Fußballgötter bepilgern können.

(Globalisierungs)Probleme, die weder lokal verursacht wurden, noch gelöst werden können? Armutswanderung? Geldwäsche durch Immobilienkauf? Clankriminalität? Islamisierung? Auseinandersetzungen verfeindeter ausländischer Gruppen?

Egal, wir sind weltoffen, Meister der Herzen und verwechselten immer schon Ingnoranz mit Toleranz. Wer sich diese Verwechselung nicht zu Eigen macht, ist wahlweise Rassist, Faschist, Identitärer, Xenophob, Fremdenfeind, erkennt die wahren Ursachen der Misere nicht, will die Armen, statt die Armut bekämpfen.

Psychosoziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme durch funktionelle Analphabeten? Verwerfungen durch die Renaissance patriarchaler Gesellschafts- und Geschlechterordnungen? Schwindendes staatliches Gewaltmonopol?

Egal, wir machen Konterrevolution, drehen die Industrialisierung zurück. Die war doch nur ein Disziplinierungsprojekt der Reichen gegen die Armen. Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß, Disziplin, Höflichkeit, Sauberkeit, Ordnungsliebe, waren immer schon überbewertet. Deshalb lassen wir es lässiger angehen, setzen da an, wo die Antiautoritären 68ziger aufhörten, vollenden nun endlich die 68ziger Kulturrevolution.

Höhere Lautstärke in der Öffentlichkeit? Erhöhte Gewaltbereitschaft? Höheres Desinteresse am Umfeld? Mißachtung und außer Kraft setzen von Regeln, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen?

Ellbogencheck und Unfreundlichkeiten gehören nun mal zu Metropolen. Wenn die Kinder so verpimpelt sind und sich schon in die Buchse machen, wenn der Spielplatzkonkurrent nur erwähnt, zum Clan XYZ zu gehören, haben sie ihr Zugangsrecht zu öffentlichen Spielgeräten eh zu unrecht bekommen.

Messereien aus nichtigem Anlass gehören wieder zu den Kulturtechniken, mit denen man umgehen muss, gekoppelt mit dem Glauben an die Erzählung, dass es noch nie in der Geschichte der Menschheit so sicher in Gelsenkirchen war, wie heute.

Spricht man mit den in Runden Tischen Engagierten, erklären sie im Brustton der Überzeugung, dass alles schon ziemlich gut, demnächst aber noch viel besser werden würde und dass sie das mit den Angsträumen oder Massenschlägereien arabischer Clans für Übertreibungen halten würden.

Hakt man nach, stellt sich heraus, dass sie nicht an Orten arbeiten, wo kulturell bedingte verschiedene, nicht vereinbare Erwartungshaltungen aufeinander treffen. Sie gehen nie Nachts zu Fuß, sie benutzen keine öffentlichen Verkehrsmittel, sie haben keine Nachbarn mit einem anderen Verständnis von Rücksichtnahme.

Der Gelsenkirchener romantisiert gerne vergangene „Mach meinen Kumpel Ali nicht an“ Zeiten, freut sich über Kaue Seife, Handtücher, Bergmannsunter- und Oberwäsche, als Kumpel geschwärzte Models mit Blau-Weiß Schals auf Plakatwänden und dekliniert nun auch die Parteienlandschaft neu durch.

Früher 120% SPD, nun 17% AfD.

Wer glaubt, dass die Dauerkrise in Gelsenkirchen außer einer politischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Agonie irgendwelche nennenswerten Impulse für einen Aufbruch, eine Änderung gebracht hat, ist schlicht Gelsenkörki.

Die beweglicheren gehen weg, die anderen richten sich ein.

Aber das sagt man alles ohne ein schnelles Pferd besser nicht.

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Von Heinz Niski

Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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