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Die us-amerikanische Debatte um Jason Aldeans Song „Try that in a small town” ist in Deutschlands Blätterwald angekommen. Auch der muss rauschen, wenn es um Vorwürfe wie Lynchjustiz, Gewalt und vor allem „weißen“ Rassismus geht. ***Auf dem Gefechtsfeld „Kulturkampf“, der noch die letzten Atemzüge im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegenüber „Rammstein“ und Till Lindemann macht, ist das eine wohlfeile Munition, ist doch „weißer“ amerikanischer Country-Folk per se schon verdächtige Ware.
Vielleicht ist es lohnend, Aldeans Lied zu betrachten und dabei einige Jahrzehnte zurückzugehen, nämlich ans Ende der 60er Jahre, und dabei den Film „Easy Rider“ als eine Art Folie zu nehmen.

DER ENTWURF
Easy Rider“ ist ein Film, der zum kulturellen Marschgepäck vieler Menschen meiner Generation gehört. Der Film kam im Dezember 1969 in die deutschen Kinos – ein Motorrad-Road-Trip mit kräftiger Rock-Musik, die nicht unwesentlich zum Erfolg des Films beigetragen hat, und mit drei Hauptdarstellern (Peter Fonda, Dennis Hopper und Jack Nicholson), die hier noch recht unbekannt waren, aber am Beginn ihrer Karriere standen. Ein Film mit  grandiosen Landschaftsaufnahmen, einer ziemlich abgedrehten Story mit Drogenräuschen, Lagerfeuer-Romantik und Freiheitsdrang und brutaler Gewalt.
Die drei „Helden“ sind, an bürgerlichen Maßstäben und Rechtsnormen gemessen, zweifelhafte Gestalten: Wyatt und Billy schmuggeln Kokain aus Mexiko in die USA und starten mit ihren Bikes zu einem Road-Trip durch die USA. Der dem Alkohol verfallene verkrachte Anwalt George Hanson wird im Laufe der Fahrt ihr Begleiter und Kumpel. Die drei Biker transportieren das Zeitgeistgefühl des Drangs nach Freiheit und Rausch und Ausbruch aus der spießigen Enge, der sie auf ihrer Fahrt durch ein Land im Umbruch mit seiner schier unendlichen Weite der Landschaft auf der einen und dem Mief ländlichen Lebens auf der anderen Seite begegnen.
Der Geist des Woodstock-Festivals (15. bis 17. August 1969), das in drei Tagen 400 000 Menschen unter dem Motto Love, Peace and Music in einer improvisierten Stadt versammelte, war so etwas wie ein Gegenentwurf zum Amerika mit seiner Biederkeit, sexuellen Verklemmtheit, Bigotterie, geistigen Enge und obszöner Gewalt, der die drei Reisenden schließlich zum Opfer fallen. Damit bewahrheitet sich, was in einer Szene des Films angedeutet wird: In einem Restaurant in einem ländlichen Ort in Louisiana wollen die Drei essen. Mädchen aus dem Ort flirten mit den fremden Männern, die so ganz anders aussehen und auftreten als die Dorfbewohner. Die Männer aus dem Dorf und der Sheriff zeigen ihre Verachtung gegenüber den Fremdlingen. Und einer der Männer deutet an, dass  sie die Grenzen der Gemeinde nicht erreichen werden, was auch eintrifft. George wird erschlagen, als die Drei in der Natur übernachten, Wyatt und Billy werden auf der Straße, die  raus aus der Ortschaft führt,  von den Landbewohnern erschossen, denen diese langhaarigen Motorradfahrer ein Graus sind. Sie verlassen die Ortschaft tatsächlich nicht!

Hieran scheint der Song fast unmittelbar anzuknüpfen, wenn es heißt:
Sehen Sie, wie weit Sie es auf der Straße schaffen
See how far ya make it down the road

Hier kümmern wir uns um uns selbst
Around here, we take care of our own

Wenn Sie diese Grenze überschreiten, wird es nicht lange dauern
You cross that line, it won’t take long

Damit Sie es herausfinden, empfehle ich Ihnen, es nicht zu tun
For you to find out, I recommend you don’t

DIE UMKEHRUNG

Stellt der Film den Freiheitsdrang einer jungen (eher großstädtischen) Generation zur Zeit des Vietnamkrieges der Enge des weiten Landes (ein Schein-Paradox) gegenüber, singt Jason Aldean das Loblied auf die ländlichen Regionen und die Kleinstadt im Gegensatz zu den Metropolen. Die sind bestimmt durch Gewalt, Kriminalität, Staatsverachtung und Hass auf die Nation, was die ersten Zeilen in „Momentaufnahmen“ schnappschussartig verdeutlichen:
Der Trottel hat jemanden auf dem Bürgersteig geschlagen
Sucker punch somebody on a sidewalk

Überfallen Sie eine alte Dame an einer roten Ampel
Carjack an old lady at a red light

Richten Sie eine Waffe auf den Besitzer eines Spirituosenladens
Pull a gun on the owner of a liquor store

Du denkst, es ist cool, na ja, benimm dich wie ein Idiot, wenn du willst
Ya think it’s cool, well, act a fool if ya like

Beschimpfen Sie einen Polizisten, spucken Sie ihm ins Gesicht
Cuss out a cop, spit in his face

Treten Sie auf die Flagge und zünden Sie sie an
Stomp on the flag and light it up

Der alte Woodstock-Traum von Love and Peace ist zu einem gewalttätigen Horrortrip geworden. Dieser gewalttätigen, erbarmungslosen, kalten, herzlosen und die staatlichen Institutionen verachtenden Gesellschaft der Metropolen stellt Aldean das „Landleben“ und das Leben in den „kleinen Städten“ gegenüber:
Hier kümmern wir uns um uns selbst
Around here, we take care of our own

Der großstädtischen Entfremdung und Einsamkeit, dem Mangel an Gemeinschaftsgefühl und dem Zivilisationsverlust stellt diese Zeile die Gemeinsamkeit der „Dorfgemeinschaft“ gegenüber. Man kennt sich, man kümmert sich um sich selbst und zugleich um die Gemeinschaft. An die Stelle des YOU in den ersten Zeilen tritt nun das WE, der Einzelne und Vereinzelte steht dem Kollektiv gegenüber.
Bezeichnend ist in der Debatte, dass die Vorwürfe (Aufruf zur Lynchjustiz, Rassismus) schwerlich aus dem Text abgeleitet werden können, weswegen statt des Liedes gerne das Video zum Song in den Fokus gerückt wird. Im SPIEGEL ist zu lesen:

Problem ist nicht der Song, sondern der Schauplatz des Clips: das Maury County Courthouse in Columbia, Tennessee. Dort kam es im November 1927 zu einem Lynchmord. Ein junger Schwarzer namens Henry Choate wurde beschuldigt, ein 16-jähriges weißes Mädchen belästigt zu haben. Ein Mob aus mehreren Hundert Männern entführte ihn zunächst aus einer Gefängniszelle und erhängte ihn schließlich an einem Fenster des Gebäudes. Zum Verlauf des Lynchmordes gibt es unterschiedliche Angaben. Dass er dort stattfand, ist unstrittig.“ (Quelle: siehe unten)
Wo der Text nicht ausreicht für die Vorwürfe, müssen die Bilder herhalten. Weil es 1927 im Courthouse zu einem Lynchmord kam, muss das Bild des Gebäudes im Video symbolisch dafür stehen, dass der Sänger rund 100 Jahre später Lynchjustiz predigt?
Das Magazin „countrymusicnews“ weist – ohne Aufregung – auf folgende Tatsache hin:

Das Musikvideo ist tatsächlich nicht explizit rassistisch, sondern bleibt ganz allgemein nebulös. Auf der anderen Seite ist das Gebäude ein beliebter Drehort. Der Film „Steppin‘ into the Holiday“ mit Mario Lopez und Jana Kramer wurde dort gedreht. Auch Runaway Junes Video „We Were Rich“ nutzte das Motiv und selbst im Weihnachtsfilm „A Nashville Country Christmas“ mit Tanya Tucker oder auch in „Hannah Montana – Der Film“ ist das Gebäude zu sehen.“

Den Vorwurf des Rassismus könnte man erheben, wenn im Text oder im Video die Gewalttätigkeiten einer bestimmten Ethnie zugeordnet würden, was aber nicht der Fall ist. Die „Täter“ im Film sind keiner Ethnie zuzuordnen, es geht vielmehr um die tägliche Gewalt und um Demonstrationen, in denen Gewalt gegenüber den Polizeikräften oder anderen Menschen oder Sachen (Gebäude, die Staatsflagge) ausgeübt wird. Und verortet ist diese Gewalt im städtischen Raum. Diesen urbanen „riots“, dieser Kriminalität und Brutalität (Aufnahmen aus Nachrichtensendungen etc.) werden am Ende des Videos einige wenige idyllische Bilder gegenübergestellt: Menschen auf dem Land, spielende Kinder, in kleinen Orten, ein Traktor bei untergehender Sonne, zwei Jäger mit Flinten. Bilder einer alten, vertrauten Welt – ein wenig am Rande des Postkarten-Kitsches entlang. Und entlang der Tradition, von der der Ich-Sprecher im Lied singt: das Gewehr, das er besitzt, hat er von seinem Großvater bekommen:
Ich habe eine Waffe, die mir mein Großvater geschenkt hat
Got a gun that my granddad gave me

Auf der Ebene des Personals ist ein Dreieck entstanden: Das ICH, eingebunden in ein WIR, und das DU (YOU), das direkt angesprochen wird. Dieses DU, in der Gewalt der Großstadt lebend und mit ihr vertraut, wird gewarnt: Das, was in der Großstadt an der Tagesordnung ist, weil die Institutionen nicht mehr funktionieren und weil sich Anarchie, Kriminalität und Staatsverachtung breitmachen konnten, geht in der kleinen Stadt nicht, weil die Gemeinschaft noch funktioniert, weil der Einzelne im Kollektiv aufgehoben ist, im WIR, das aus GOOD OLD BOYS besteht, die noch „erzogen“ worden sind: Die kleine Stadt ist
“Voller guter alter Jungs, richtig erzogen
Full of good ol‘ boys, raised up right “.****

Der Versuch, die Gewalt und die Missstände der Metropolen in die kleine Stadt und den ländlichen Raum zu tragen, wird scheitern, so verkündet das Lied. Wer bei diesem Versuch die Ortsgrenze überschreitet, wird auf Gegenwehr treffen und untergehen, so verkündet der Ich-Sprecher!
Waren in „EASY RIDER“ die drei Biker die Verkörperung der Freiheit und der Sehnsucht nach Freiheit, standen ihnen in den Landbewohnern die Verkörperung des Alten, des Muffs, der Enge und der Gewalt gegenüber. Im Lied von Jason Aldean hat sich die Sichtweise umgekehrt. Die Gewalt geht von der Stadt aus, wo sie eine ungezügelte Herrschaft angetreten hat, wo Vereinzelung und Entfremdung herrschen. Demgegenüber steht die „ländlich-kleinstädtische Idylle“ und mit ihr eine Lebensweise, die verteidigt werden soll – notfalls auch mit Waffen. Werden die drei Biker im Film die Grenze des Städtchens nicht mehr verlassen, ruft der Song auf, es überhaupt nicht zu versuchen, die Grenze der Stadt zu überschreiten, um in sie zu gelangen. Insofern ist die Dichotomie von GUT und BÖSE hier umgekehrt worden. Das einst, im Film, als reaktionär Gezeigte, ist im Song nun positiv besetzt!
Eine Umkehrung hat stattgefunden!
Die vor allem aber eins zeigt:
Ein gespaltenes Land!

Und das Feuilleton?
Springt gerne auf den Zug auf, wenn man meint, irgendwo Rassismus gewittert zu haben. Auch wenn am Ende nur eine ideologische Bettelsuppe serviert wird und der Text selbst kaum von Interesse zu sein scheint. Hauptsache, man hat schon mal laut „Skandal“ gerufen!

*** Um nur drei Beispiele für die Debatte zu nennen:

https://www.spiegel.de/kultur/musik/country-song-try-that-in-a-small-town-in-den-usa-ruft-dieses-lied-zum-lynchmord-auf-a-38abba95-e38b-4a64-8ebb-932250291012

https://www.stern.de/politik/ausland/jason-aldean–ein-countrysong-facht-den-kulturkampf-in-den-usa-an-33712136.html

https://www.countrymusicnews.de/aktuelle-nachrichten/10915-jason-aldean-und-die-kontroverse-um-try-that-in-a-small-town

****siehe etwa:
https://goodoleboysoutdoors.com oder auch https://oldguysrule.com/collections/t-shirts

(Produkte)

Video:

Text
Der Trottel hat jemanden auf dem Bürgersteig geschlagen
Sucker punch somebody on a sidewalk

Überfallen Sie eine alte Dame an einer roten Ampel
Carjack an old lady at a red light

Richten Sie eine Waffe auf den Besitzer eines Spirituosenladens
Pull a gun on the owner of a liquor store

Du denkst, es ist cool, na ja, benimm dich wie ein Idiot, wenn du willst
Ya think it’s cool, well, act a fool if ya like
Beschimpfen Sie einen Polizisten, spucken Sie ihm ins Gesicht
Cuss out a cop, spit in his face

Treten Sie auf die Flagge und zünden Sie sie an
Stomp on the flag and light it up

Ja, du denkst, du bist hart
Yeah, ya think you’re tough
Versuchen Sie das mal in einer Kleinstadt
Well, try that in a small town

Sehen Sie, wie weit Sie es auf der Straße schaffen
See how far ya make it down the road

Hier kümmern wir uns um uns selbst
Around here, we take care of our own

Wenn Sie diese Grenze überschreiten, wird es nicht lange dauern
You cross that line, it won’t take long

Damit Sie es herausfinden, empfehle ich Ihnen, es nicht zu tun
For you to find out, I recommend you don’t

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town
Ich habe eine Waffe, die mir mein Großvater geschenkt hat
Got a gun that my granddad gave me

Sie sagen, eines Tages werden sie zusammentrommeln
They say one day they’re gonna round up

Nun ja, dieser Scheiß könnte in der Stadt herumfliegen, viel Glück
Well, that shit might fly in the city, good luck
Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town

Sehen Sie, wie weit Sie es auf der Straße schaffen
See how far ya make it down the road

Hier kümmern wir uns um uns selbst
Around here, we take care of our own

Wenn Sie diese Grenze überschreiten, wird es nicht lange dauern
You cross that line, it won’t take long

Damit Sie es herausfinden, empfehle ich Ihnen, es nicht zu tun
For you to find out, I recommend you don’t

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town
Voller guter alter Jungs, richtig erzogen
Full of good ol‘ boys, raised up right

Wenn Sie auf der Suche nach einem Kampf sind
If you’re looking for a fight

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town
Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town

Sehen Sie, wie weit Sie es auf der Straße schaffen
See how far ya make it down the road

Hier kümmern wir uns um uns selbst
Around here, we take care of our own

Wenn Sie diese Grenze überschreiten, wird es nicht lange dauern
You cross that line, it won’t take long

Damit Sie es herausfinden, empfehle ich Ihnen, es nicht zu tun
For you to find out, I recommend you don’t

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town
Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town

Ooh Ooh
Ooh-ooh

Versuchen Sie das in einer Kleinstadt
Try that in a small town
Quelle: Musixmatch

https://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=try+that+in+a+small+town+Text+%C3%9Cbersetzung&ie=UTF-8&oe=UTF-8±±±±

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Mi.Rob.

Gut, dass wir die Texte verstehen, die auf der anderen Seite des Ozeans so gesungen werden, so dass wir sie anschliessend auf der nach oben offenen Rassismus-Skala bewerten (lassen) können.
Bei deutschsprachigen Interpreten wie Rammstein u.a ist dies natürlich noch einfacher möglich.
Kann bei dieser Gelegenheit mal jemand für mich übersetzen, was derweil in Gelsenkirchen so gesungen wird?
https://youtu.be/KSDkGaIdnnQ

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