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Saisonfinale 1976/1977. Die Panini- und Bergmann-Sammelalben der laufenden Bundesligasaison waren vollgeklebt. Der Tauschkurs des Schalke-Wappens lag bei 100 Sammelbildern. Es lief sehr gut für die Knappen.

Schalke 04 landete auf Platz 2 in der Bundesliga, einen winzigen Punkt hinter Borussia Mönchengladbach. Hätten die Fohlen am letzten Spieltag bei den Bayern ein Tor weniger erzielt, Schalke 04 wäre Meister geworden. Der 4:2-Sieg gegen die Borussen aus Dortmund am selben Tag half nicht, die Enttäuschung über den verpassten Titel aus den Seelen der kleinsten Fans in Gelsenkirchen zu fegen, die ihren Vorbildern täglich nacheiferten. Aber gut, das Leben lag noch vor ihnen. Sie schauten optimistisch in die Zukunft und meinten, dann würden die Blau-Weißen eben im nächsten Jahr alles klar machen und die Schale holen. – Sie waren noch sehr jung und sehr naiv.

Unter den kleinsten Straßenfußballern im Stadtteil formierten sich damals auf magische Weise feste Mannschaften für das ganze Frühjahr und den Sommer. Das Wählen der Mitspieler per „Piss-Pott“ wurde von jetzt auf gleich durch ein intuitives Zugehörigkeitsgefühl, den Mannschaftsgeist, ersetzt. Ein Team bestand aus fünf bis sieben Jungen, in der jeder Knirps seine feste Spielposition einforderte. Diese ergab sich aus seinem jeweiligen fußballerischen Vorbild.

Rüssmann beispielsweise hielt den Strafraum, in Nachahmung der kompromisslosen Art des Idols, frei von gegnerischen Angriffsbemühungen und ließ niemanden zum Torschuss kommen. Das faire Reingrätschen hatte er perfektioniert. Anfangs tat niemand im Team etwas für den Spielaufbau. Im Mittelfeld taten sich darum riesige Lücken zwischen der Abwehr und dem Angriff auf. Irgendwann wurde gemeinsam beschlossen, Rüssmann eine Position im zentralen Mittelfeld zu geben. Sein Vorbild sollte ab sofort Bongartz sein – aber er durfte seinen Namen behalten. Die Umstellung gelang in wenigen Minuten. Fortan gestaltete Rüssmann die Spielzüge mit Dribblings und Steilpässen und spielte Doppelpässe mit Fischer oder Abramczik, die bei jeder Gelegenheit sofort abzogen. Selbstredend versuchte Fischer jede zweite Hereingabe des Flankengotts Abramczik mit einem Fallrückzieher abzuschließen. Wenn er dabei unglücklich auf dem Rücken landete, blieb ihm manchmal minutenlang die Luft weg.

Nigbur stand wegen der Dominanz seiner stürmenden Mitspieler meist beschäftigungslos im Tor herum. Wenn aber ein Ball in seine Richtung kam, dann warf er sich mit einem Hechtsprung auf diesen, begrub ihn unter sich und rollte sich anschließend endlos ab. Er hatte aufgrund einer extremen Sehschwäche eine Brille mit dicken Gläsern, die alle paar Tage an ihre Verformungsgrenze gebracht wurde. Irgendwann war sein Vater es leid, wöchentlich beim Optiker aufzuschlagen. Er verpasste ihm darum ein so stabiles und schweres Kassengestell, dass dieses sich immer den Nasenrücken abwärts bewegte und von Nigbur mit einer Hand festgehalten werden musste – auch während seiner Paraden.

Das taktisch neu justierte Team spielte eine Art Pressing – also alle Mann gleichzeitig nach vorn – und meistens ohne nominelle Abwehrspieler. Nur ab und zu kam Fichtel vorbei, um die Abwehr zu bilden. Fichtel hatte zu Hause jede Menge zu tun und konnte sich nicht an jedem Tag aus den Klauen seiner Mutter befreien. Im Mittelfeld sicherte Oblak gerne den Ball ab. Er hatte etwas Übergewicht, war aber erstaunlich flink bei der Rotation um die eigene Achse. Er besaß einen satten Schuss, vor allem beim Torwartwarmschießen, was dem Optiker von Nigbur sehr gefiel. Lütgebohmert lief und lief und lief und lief und lief und lief, mal mit, mal ohne Leder. Er wurde von den anderen oft zum Ballholen animiert, besonders wenn Abramczik eine Flanke bis ins Unterholz geschlagen hatte und zu faul war, das Spielgerät zu suchen.

Die Spielfeldgröße auf der Wiese zwischen den Häusern der „Neuen Heimat“ war flexibel. Tore waren gedachte horizontale Linien zwischen zwei Häufchen aus Krempel, den Jungen damals mit sich herumschleppten: Stöckern (nicht Stöcke!), Dreh-und-trink-Flaschen, Schultonnen, Jacken oder Spielzeuggewehre, deren Lauf man als Pfosten in den Boden rammte. Das Tor galt in der Vertikalen als maximal so hoch, wie der Torwart in der jeweiligen Spielsituation groß war. Ein erfolgreicher Schütze rief meistens „Heu!“, hob die Arme, drehte ab und überließ dem gegnerischen Torwart das Ballholen aus dem Brombeerstrauch. Das T-Shirt auszuziehen war als Jubelpose noch unbekannt. Langes herumlamentieren war verpönt. Streitfälle, wie vermutete Lattentreffer, wurden schnell geklärt: der Stärkere hatte Recht. Außerdem galt: drei Ecken ein Elfer. Seitenaus war da, wo keiner mehr Lust hatte, hinzurennen. Der letzte Mann durfte den Ball in die Hand nehmen, falls der Torwart auch mal weiter vorne als Feldspieler mitspielen wollte.

Fouls waren selten. Die Jungen fielen hin, standen wieder auf, schauten sich flüchtig ihre neu erworbenen Schrammen an, warfen sich lautstark ein paar erniedrigende Fremdbezeichnungen zu, legten den Ball irgendwo zum Freistoß hin und spielten weiter. Spiele begannen irgendwann und gingen so lange, bis nur noch vier Jungen, also zwei pro Mannschaft, auf dem Platz standen, weil laute Rufe aus mütterlichen Kehlen den Rest der Truppe schon nach Hause abkommandiert hatten. Uhren brauchte man nicht. Sobald eine Mannschaft 10 Tore erzielt hatte, begann ein neues Spiel und der Spieltag ging weiter. Das Wort Freizeitkicker war wörtlich zu verstehen. Es wurde in der kompletten Freizeit gekickt.

Das fußballerische Treiben im Ortsteil blieb dem jungen Sportlehrer, der frisch an die Grundschule gekommen war, nicht verborgen. Er war eine schlaksige Erscheinung mit schulterlangen Haaren und Fusselbart, trug Jeans mit ganz großem „Schlach“ und einen Bundeswehr-Parka – so wie seine Schüler bald darauf auch. Die Jungen mochten ihn vor allem deshalb, weil sich der Sportunterricht im Frühjahr und Sommer nun auf das Wesentliche konzentrierte, nämlich draußen auf der Rasenfläche neben der Turnhalle zu pöhlen. Der Platz hatte seine Tücken, denn er lag in einer Senke, in der sich gerne das Regenwasser sammelte. Außerdem gab es, wie überall in den Randbezirken Gelsenkirchens, Stacheldrahtzäune, die entweder einen Bach, eine Köttelbecke oder eine Kuhweide absichern sollten. Das Publikum bestand darum manchmal aus Rindviechern, die endlos kauend dem Spiel teilnahmslos zuschauten und nur kurz zuckten, wenn ein Ball am Stacheldraht sein Leben aushauchte.

Eines Tages stellte der Sportlehrer eine Mannschaft zusammen und meldete sie zur allerersten Stadtmeisterschaft der Gelsenkirchener Grundschulen im Fußball an. Außer ihnen gab es nur eine einzige weitere Schule, die mitmachen wollte. Es sollte also sofort zum Finale kommen. Rüssmann, Nigbur, Fischer, Fichtel, Abramczik, Oblak und Lütgebohmert behielten ihre Positionen in der Schulmannschaft bei. Verstärkt wurden sie durch weitere Schüler. Das waren sowieso schon eine Weile ihre nachmittäglichen Gegner und so kannten sich alle recht gut, waren eingespielt und konnten sich aus ihrer Sicht damit sämtliche Sondertrainingseinheiten klemmen, was sie ihrem Lehrer auch prompt mitteilten. Er bestand zu ihrer Verwunderung auf einen Crashkurs in Regelkunde, was dringend notwendig war.

Nigbur bekam zu Hause einen neuen Torwart-Dress spendiert, weil die alte Trainingshose an den Knien bereits mehrfach mit dickem Stopfgarn geflickt war. Außerdem wurde ihm ein Gummiband verpasst, mit dem die Brillenbügel hinter seinem Kopf zusammengehalten wurden, damit er beide Hände frei hatte im Tor. Rüssmann versuchte bei den Verhandlungen bezüglich eines neuen Ausstattervertrags bei seinen Eltern Schuhe mit drei Streifen herauszuschlagen, war dabei aber wenig erfolgreich. Die Suche nach einem Satz kostenloser Spielkleidung für den Zwergenhaufen entwickelte sich zu einem echten Problem. Es gab in ihrer Größe nur langarmige Trikots mit Jägermeister-Aufdruck, was die Jungen gut fanden, ihr Lehrer weniger. Von irgendwoher organisierte dieser schließlich einheitliche Textilien, die mindestens drei Nummern zu groß waren. Das Wichtigste war ihre blaue Farbe. Und sie hatten Rückennummern. Rüssmann nahm sich die 4.

Das Spiel fand auf dem improvisierten Fußballfeld neben der Turnhalle statt. Zwei nagelneue Handballtore warteten auf ihren ersten Einsatz im Duell der Kleinsten. Fischer besaß als einziger eine Kapitänsbinde und sollte darum als Spielführer auflaufen. Er gab sie ein paar Minuten vor Spielbeginn an Fichtel weiter, weil er Angst bekommen hatte vor dem schweren Amt und der riesigen Verantwortung, das Begrüßungsritual fehlerfrei über die Bühne zu bringen. Kurz vor dem Anpfiff hatte es stark geregnet. Etliche Pfützen warteten darauf, den Lauf der Dinge durch den Faktor Zufall zu beeinflussen. Es entwickelte sich ein Kampf um jeden Ball unter der Anfeuerung der ganzen Schule. In einer denkwürdigen Wasserschlacht auf schwerem Geläuf bezwangen die heimischen Helden ihre Herausforderer mit 2:0.

Sie waren damit Weltmeister, Deutscher Vizemeister und Stadtmeister. Nach dem Schlusspfiff feierten sie ausgelassen ihren Sieg, legten sich ins Gras, tranken Malzbier, kauten auf ihren Kaugummizigaretten herum und bewarfen sich mit „Slimy“. Das Leben war wunderbar. In ihren jungen Jahren hatten sie damit praktisch alles erreicht, was man im Leben werden kann. Was konnte jetzt noch Größeres kommen? – Das Team von damals spielte nie wieder in dieser Besetzung zusammen.

Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.

Die Jungen wurden in den folgenden Jahrzehnten noch mehrmals Fußball-Weltmeister und Europameister. Deutscher Meister wurden sie bis heute nicht. Ihre Spuren haben sich verloren. Ein Comeback ist unwahrscheinlich. Heute sind sie zum 5. Mal in die 2. Liga abgestiegen. – Rüssmann trauert.

P.S.: Nigbur war nicht Torwart der Schalker Vizemeister-Mannschaft von 1977.  Er war zu Saisonbeginn nach Berlin gewechselt. Dies einem kleinen Jungen mit Brille klarzumachen, war damals unmöglich.

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Bernd Matzkowski

Eine sehr schöne und für mich nachvollziehbare Geschichte aus dem wahren Leben. Wenn du heute Jugend-Fußballer trainierst, haben sie häufig Trikots von Fußballern aus der ganzen Welt an, Schalker Namen sind eher selten. Eine gewisse Zeit lang war Ronaldo Top-Name. Ronaldo, den ich fürchterlich finde – nicht als Fußballer, sondern als Selbstvermarktungsweltmeister und Typ mit blöder Selbstinzenierung. Meine Buben, die meine Abneigung gegen ihn kennen, haben mir kürzlich als Gag drei Unterhosen zum Geburtstag geschenkt von der Ronaldo-Marke und mit Aufdruck CR7. Ich kann ihn, zumindest in Form einer Unterhose, also anfurzen!
Und ansonsten: Seit 1958 leben Schalker von der Hoffnung!Und mit enttäuschten Hoffnungen! Auch in dieser Saison – und in der kommenden! Und trotzdem(oder deshalb?) steigen die Mitgliederzahlen. 2. Liga: wir kommen!

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