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Zunächst: Von meiner konfessionellen Herkunft bin ich evangelisch-lutherisch, habe aber die Institution Kirche nach der Konfirmation verlassen, obwohl oder weil ich an religiösen Fragen und Texten durchaus großes Interesse hatte. Sowohl mein Pfarrer, der mich konfirmiert hat, als auch mein Religionslehrer am Grillo-Gymnasium haben mir angeraten, doch Theologie zu studieren. Ich bin ihrem Rat ebenso wenig gefolgt wie dem Rat meines Sportlehrers in der Oberstufe, ich solle doch Sport studieren. Die Distanz zur Institution Kirche hat aber mein Interesse an Glaubensfragen oder meinen Bezug zu den Texten der Bibel nicht geschmälert – wie ja auch die ablehnende Haltung gegenüber dem DFB nicht meinen Spaß am Fußballspiel verdorben hat. Was meine Familie angeht: Meine Ehefrau ist römisch-katholisch, was ihren praktizierten Glauben angeht, wir haben katholisch geheiratet, einer unserer Jungs ist Messdiener und bei den Pfadfindern, der andere leistet regelmäßig technische Hilfe beim Streaming der Gottesdienste in St. Augustinus. Mein dritter Sohn (samt Ehefrau und Kindern) ist in einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde engagiert, ein Schwiegersohn ist Moslem (aber mit eher lockerer Bindung an die Religion). Ich könnte, etwas zugespitzt, sagen: Eine jüdische Schwiegertochter wäre gut, dann bin ich nach allen Seiten hin religiös abgesichert!
Müsste ich die Frage nach den drei Büchern, die ich auf die Insel mitnehmen würde, beantworten, fiele mir die Antwort nicht schwer: Die Bibel (AT und NT), Karl Marx, Das Kapital (Bd.1) und Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz. Marx und Döblin lege ich mal zur Seite. Die Bibel? Eine großartige Textsammlung. Das Alte Testament ist Sex, Crime, Drugs and Rock ‘n Roll, ist Sandalenfilm und Schlachtenorgie, ist Katastrophenfilm, ist Untergang, Zerstörung, Gewalt, Katastrophe in Endlosschleife, ist gigantomanisch und doch in den Psalmen, Gebeten und Liedern auch von einer poetischen Zärtlichkeit, wie sie sonst nur in großer Lyrik vorkommt. Ist Märchen und utopischer Roman. Und ist nicht zuletzt eine mögliche Antwort auf die Fragen, die Menschen sich von Beginn ihrer Menschwerdung an bis heute stellen: Woher kommen wir? Wer hat den Himmel über uns und die Welt erschaffen? Warum sind wir auf dieser Welt? Was macht den Menschen aus?
Das Neue Testament (NT)? Auch ein Märchenbuch, auch eine Utopie. Der sanfte Gegenentwurf zu vielen Passagen im AT. Manchmal, wie ich finde, auch zu sanft. Da ist Jesus mir zu lieb – zu unmenschlich sanft. Deshalb ist meine Lieblingsstelle auch die, als der junge Jesus die Händler und Geschäftemacher aus dem Tempel verjagt und mal so richtig „aggro“ ist. Verdächtig ist am NT allerdings, dass wir ansonsten, von dieser Episode abgesehen, nichts über den Jesus zwischen Geburt und den wenigen Monaten vor seinem Tod erfahren. Die Zeit als Kind (widerborstig?) und Jugendlicher (Pubertät) und junger Mann (erste Liebe) ist völlig ausgeblendet, könnte aber doch lehrreich sein. Der Ton ist ruhiger im NT, die Geschichten haben fast immer ein Happy End, selbst die grausame Geschichte von Jesus selbst. Wo im AT die Gewalt und die Faust regieren, sind es im NT Liebe und Vergebung. Und am Ende des NT dann der Knaller: die Offenbarungen des Johannes. Ein Text – wie im Rausch geschrieben – in einer Sprache mit ungeheurer Bildkraft und Wucht! Das NT ist der Parallel- und Kontrasttext zum AT, erst beide Teile zusammen aber machen den Kern des christlichen Glaubens aus – natürlich gespickt mit alten Mythen, mit Legenden, mit Versatzstücken vorchristlicher Glaubensströmungen aus dem kleinen Teil der Welt, in dem die jüdische und die christliche Glaubenslehre und der Islam entstanden sind.
Das und noch mehr ging mir durch den Kopf, als ich in der Lokalausgabe der WAZ ein Interview mit Probst (neuere Schreibweise: Propst) Pottbäcker gelesen habe, in dem es wesentlich um die Kirchenschließungen ging. Und natürlich musste Pottbäcker die Schließungen bedauern, und natürlich – und, wie ich finde, zurecht – musste er auf die drastisch zurückgehenden Zahlen von Gläubigen und Kirchenbesuchern verweisen, um die Schließung bzw. Aufgabe von Kirchengebäuden und deren Verkauf oder Niederlegung zu begründen. Und das Schließen oder sogar die Niederlegung einer Kirche ist mehr als ein Verlust für die verbliebenen Gläubigen, zumal die Älteren, die dadurch ein Stück geistiger und geistlicher Heimat verlieren und nicht unbedingt gewillt oder in der Lage sind, ein entfernteres Gotteshaus aufzusuchen. Das Verschwinden der Kirchengebäude ist auch ein Verlust eines Teils unserer Tradition, unserer Herkunft aus einer christlich-abendländischen Kultur und Geschichte – mit ihren hellen und dunklen Seiten in der Vergangenheit und Gegenwart. Insofern sind sie auch für Nicht-Besucher der Gotteshäuser „Geschichtsmarken“ in den Stadtteilen oder eben die „Landmarke“ in ihrem Viertel.
Dass die Zahl der Kirchenbesucher immer geringer wird, es immer weniger Täuflinge, Kommunionskinder, christliche Hochzeiten gibt, ist zunächst der demographischen Entwicklung geschuldet. Und dass angesichts der Skandale im Kontext von sexuellem Missbrauch und Gewalt und reaktionären Geisteshaltungen, etwa zur Rolle von Frauen in der Kirche, sich Austritte mehren, liegt nahe. Umso dringlicher müsste doch die Frage gestellt werden, die das Interview aber leider nicht stellt, welche Rolle denn die katholische Kirche, jenseits der Gebäude, überhaupt noch haben soll? Und da kann die Erklärung nicht im Zölibat und in der Rolle der Frauen liegen, denn die evangelische Kirche, die ja Priesterinnen hat, leidet ebenfalls unter dem Mitgliederschwund und steht vor der Schließung von Kirchengebäuden.
Ich habe darauf nur (m)eine Antwort: Die Besinnung auf die Kernfragen unserer Existenz, wie ich sie oben schon genannt habe. Die Fragen also, die jenseits der Tagesaktualität liegen, also das Grundsätzliche, das Spirituelle. Mir kommt es nämlich manchmal so vor, als meinten die Kirchen (beide Konfessionen), sie müssten sich als eine Art Speerspitze des Klimaschutzes, des Woken, des Genderns und all der angesagten Ideologiehäppchen des Zeitgeistigen verstehen. Dafür brauche ich aber die Kirche nicht, die in früheren Zeiten den Schäfchen gepredigt hat, ein guter Christ müsse Adenauer oder Erhard wählen, und mir heute in Predigten Vorträge über gesundes Essen, Diversität und die richtige Haltung zum Klimaschutz hält und in deren Gemeindebriefen Jünger zu Jüngerinnen und Gott zur Göttin werden. Mit solchen Belehrungen werde ich durch die Medien tagtäglich traktiert, dass es mir zu den Ohren nur so herausquillt. Und diese ideologische Bettelsuppe will ich nicht auch noch in der Kirche beim Gottesdienst auslöffeln müssen! Wenn ich denn Zuhörer bin!
Da will ich das Grundsätzliche, das Existenzielle, das den Wesenskern Berührende hören!
Kurz: Es soll um das ECCE HOMO (Johannes 19, Vers 4-5) gehen!
In diesem Sinne : schöne Feiertage!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

typisch evangelisch – die christliche Pflicht der Nächstenliebe verlangt Waffen für die Ukraine, aber bitteschön mit gaaaaanz schlechtem Gewissen. Darauf erst mal ne Hostie.

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Ro.Bie.

..von Pottbäcker nebenan.

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