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Vom Splitter und vom Balken, Domenico Fetti – Metropolitan Museum of Art, online collection (Inventar Nr. 1991.153), gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Immer dann, wenn in Zeitungsartikeln der Konjunktiv auftaucht, könnte ein drohender Rechtsstreit zur Vorsicht bei der Darstellung eines Themas geraten haben. Oder die Autoren wollen damit klar machen, dass sie sich – vollkommen der Objektivität verpflichtet – von der dargestellten Sachlage distanzieren.

Beim Lesen der WAZ vom 19.08.2022 fiel bereits einiges auf, was noch ergänzt werden kann: der Konjunktiv bei der Begriffserklärung zu „Cisnormativität“.

Zitat: „Cisnormativität stellt Cis-Geschlechtlichkeit, also die Annahme, es gebe nur zwei Geschlechter, als Norm und Trans*- bzw. Intergeschlechtlichkeit als Abweichung dar.“

Vermutlich abgetippt aus einer bunten Publikation, steckt in diesem Satz eine ganze Weltanschauung. Der Begriff Norm kommt aus der Mathematik. Im Fall der „Geschlechter“ sind z.B. über 99% der Menschen genau zwei biologischen Geschlechtern eindeutig zuzuordnen. Sie sind entweder weiblich oder männlich. Die Abweichung von der Norm im Sinne einer Normalverteilung sind Menschen, die mit nicht überwiegend eindeutigen Geschlechtsmerkmalen eines der beiden Geschlechter geboren wurden, nämlich Intersexuelle. Diese haben aber keine Geschlechtsmerkmale ausgebildet, die bei einem der beiden Geschlechter nicht auch zu finden wären. Der Eintrag „d“ (divers) im Personenstandregister hätte auch „uneindeutig“ lauten können und wurde erst vor wenigen Jahren ermöglicht. Ein Grund dafür war, dass direkt nach der Geburt manchmal Fehlbildungen an den äußeren Geschlechtsmerkmalen falsch interpretiert werden. Ein Monitoring ergab, dass 0,007 % der Neugeborenen betroffen sind. Ein vorläufiger Eintrag kann später zu einem passenden Geschlechtseintrag beim Standesamt gewandelt werden, ohne einen Geschlechtswechsel im Familienbuch protokollieren zu müssen. Ein zweiter Grund bestand darin, dass Intersexualität (wenn auch nur sehr selten vorkommend) bis dahin rechtlich nicht darstellbar war. Betroffene Menschen sollten mit ihrer Besonderheit des uneindeutigen biologischen Geschlechts endlich rechtlich berücksichtigt werden. Die Anzahl der Menschen, die von diesem Eintrag Gebrauch machen, ist übrigens äußerst gering. Die Anzahl der betroffenen Personen wurde im Vorfeld weit überschätzt.

Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts war es möglich geworden, dass Menschen durch Medikamente und Chirurgie ihre Geschlechtsmerkmale ändern lassen konnten. Anfang der 1950er wurde nach Hormontherapie und sechs Operationen aus Georg William Jorgensen Jr. schließlich Christine Jorgensen, die erste (tatsächliche) Transsexuelle. Ärzte können bei so einer Person natürlich nicht auch ihre Chromosomen tauschen. Aus XY wird durch Chirurgie und Hormongaben niemals XX, aber wen stören schon solche Details? Es war eine Sensation, die von der Presse argwöhnisch begleitet wurde. Der Spiegel tat sich mit der Berichterstattung darüber äußerst schwer: 1953, 1954, 1955. Erst 1966 erschien dann ein Artikel, der dem Phänomen angemessen begegnete. Wenn eine Person diese schmerzhafte Tortour durchziehen will, kann sie das heute in vielen Ländern tun. Die gesellschaftliche Akzeptanz für solche Menschen ist längst gegeben.

Daneben gab es schon immer Menschen, die sich verkleideten und das andere Geschlecht spielten. Sie nannte man früher Transvestiten. Niemand von diesen Menschen sah sich selbst als einem eigenen dritten oder vierten Geschlecht zugehörig an. Transvestiten sind häufig als Kunstform auf Bühnen zu sehen. Die gesellschaftliche Akzeptanz für diese Menschen ist ebenfalls keine Frage.

Soweit der Stand der Wissenschaft, wenn Biologie und Psychologie sich ergänzend forschen.

Dann kam über die Soziologie und die Erforschung von Geschlechterrollen in Gesellschaften nach und nach eine nicht mehr reflektierende oder gar differenzierende Debatte auf. Es begann damit, dass der Begriff „Geschlecht“ im Deutschen für das englische Wort „gender“ eingeführt wurde, welches die englische Soziologin Ann Oakley Anfang der 1970er bei der Beschreibung ihres Forschungsgegenstands verwendete. Während man im Englischen sex (biologisches Geschlecht) und gender (gesellschaftliches Rollenverständnis) sprachlich voneinander unterscheiden kann, gelingt das im Deutschen nicht.

In der Folge wurde vieles, was in irgendwelchen anderen Zusammenhängen als Geschlecht bezeichnet wird (z.B. auch Fachtermini in der Linguistik die Grammatik einer Sprache betreffend) in einen Topf geworfen und anschließend mit einem High-Speed-Mixer verquirlt. Als Folge davon entstand ein unverdauliches Carpaccio – und viele neue Lehrstühle an den Universitäten. Akademiker verschiedener Fachrichtungen sollten sich zumindest im Nebenfach mit dem nun „Gender Studies“ genannten Thema beschäftigen, um in dem Chaos, was sie teilweise selbst angerichtet hatten, wieder Orientierung zu geben.

In einer weiteren Eskalationsstufe wurde „Gender“ mit den sexuellen Neigungen von biologisch männlichen, biologisch weiblichen und intersexuellen Menschen zu den angeblich vielen „Geschlechtern“ kombiniert. Ein genialer Schachzug, basierend auf den Gedanken der feministischen Philosophin Judith Butler. Es entstand eine gut geschmierte Maschinerie, die beliebig viele neue Minderheiten erzeugt, welche alle ihre besondere Beachtung fordern, sei es online oder irgendwo auf dem Campus. Im Alltag begegnet einem das Phänomen kaum. Vermutlich wird es  deshalb mit missionarischem Eifer in die Welt getragen.

Jede winzige Minderheit hat sich also erst von allen anderen separiert und dann – unter einer zu allen Gelegenheiten hochgehaltenen und in den Rang einer Nationalflagge erhobenen Regenbogenfarbenfahne – wieder zusammengefunden in einer angeblich riesigen bunten LGBTQIA+-Gemeinschaft (Community) – so die Geschichtenerzählung nach Queer. Das „gefühlte Geschlecht“ gekreuzt mit der „sexuellen Orientierung“, garniert mit dem Begriff „Liebe“ (der wiederum ein halbes Dutzend Bedeutungen hat, in diesem Kontext aber meist im romantischen Sinn einer gefühlsbegründeten Hingezogenheit verwendet wird) ergibt das eigene Selbstbild. In einfacher Sprache bei Logo! erklärt, damit es auch schon die Kleinsten nachlesen können.

Das Ganze wird ziemlich cringe (Jugendwort des Jahres 2021 für „irritierend, zum Fremdschämen“), wenn nach dem Wunsch der Ampel demnächst jede Person einmal im Jahr seinen Geschlechts- und Namenseintrag standesrechtlich ändern lassen kann. Die Biologie, also die Naturwissenschaft, liefert damit nicht mehr die entscheidenden Tatsachen für den Gesetzgeber oder das Standesamt, sondern ein wodurch auch immer entstandenes individuelles Gefühl und Selbstbild, neudeutsch Identität genannt. Das „Self-ID-Gesetz“, wie es auf denglisch genannt wird, werde der Durchbruch zu einer Gesellschaft sein, in der die Diskriminierung von Minderheiten ein für alle Mal ein Ende finden werde. Alle Nöte und Schmerzen von innerlich zerrissenen Personen, die sich Queer zugehörig fühlen, könnten erst mit diesem Gesetz beseitigt werden, so behaupten die Befürworter.

Wer öffentlich gegen solche und andere Behauptungen aus dem bunten Haufen argumentiert, der läuft Gefahr von „Aktivisten“ (Synonym für intolerante Wächter und Lautsprecher mit Alleinwahrheitsanspruch) in der Öffentlichkeit mit dem Etikett „transphob“ oder „biologistisch“ gekennzeichnet zu werden. Bei „Transgender“ als Sammelbegriff der sich unwohl Fühlenden, wurde die Vorsilbe trans (hindurch, auf die andere Seite) schließlich zum Substantiv erhoben. „Trans*“ ist nun der Joker für viele esoterisch anmutende Benennungen, bis das Gefühl endlich einen passenden Ausdruck zur Selbstdarstellung gefunden hat.  Wer Transgender als unwissenschaftlichen Blödsinn bezeichnet, Transfrauen (also biologische Männer, die lieber Frauen sein möchten, auch ohne den Körper umbauen zu lassen) nicht Frau nennen will, der könnte bald vor den Kadi gezogen werden.

Manche lesbische Feministin weiß nicht mehr, wie ihr geschieht. Sie findet sich plötzlich sogar mit ultrakonservativen alten weißen Frauen und Männern gemeinsam auf der immer rechts-außen-stehenden Anklagebank wieder. Ihr gemeinsames Vergehen ist, zu verneinen, dass ein am Standesamt per Sprechakt umetikettierter biologischer Mann eine Frau sei. Der Gesetzesentwurf geht den Kritikern viel zu weit und ermöglicht nebenbei jeden denkbaren Missbrauch. Der „Queerbeauftragte“ Lehmann findet, das sei „Hetze“. Die Biochemikerin und Medizinnobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard sagt in einem lesenswerten Interview: „Da hat Herr Lehmann vielleicht den Grundkurs in Biologie verpasst.“

Der Spiegel hilft gerne bei der endgültigen Einordnung der Dinge. Die Kurzzusammenfassung des Artikels eines Gastautors aus dem Universitätsbetrieb lautet:

Aktivistische Netzwerke mit unverstellter Transphobie seien am Werk, um mit AfD-hafter Polemik die Leitmedien von Welt bis Zeit zu missbrauchen und Ressentiments gegen „Trans*“ zu organisieren.

Die inhaltlich überraschend dünne Argumentation, die in ebenfalls AfD-hafter Polemik verfasst wurde, kann damit als 1A-Verschwörungstheorie durchgehen, die im Spiegel veröffentlicht wurde.

Die WAZ scheint gut beraten zu sein, Vorsicht walten zu lassen und eindeutige Feststellungen der Naturwissenschaft (in diesem Fall die der Biologie) nur noch in Form der Chiffre „Cisnormativ“ im Konjunktiv zu erwähnen. Wer will schon riskieren, als Pressekonzern in den digitalen Pranger-Portalen abgeurteilt zu werden und dadurch Investoren und Werbepartner zu verlieren, deren Marketingabteilungen gerade Milliarden in den Hype um den Regenbogen investiert haben?

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Heinz Niski

Längst überfällig, die vorherrschende Heteronormativität / Cisnormativität im Alltagsleben aufzubrechen. Analog zu den Frauenparkplätzen leicht umsetzbar wären FLINTA Parkplätze (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen *). FLINTA Hinweise sollen sagen: Cis-Männer haben hier keinen Zutritt.
Ebenfalls unproblematisch wären verschiedene Einkaufszeiten in Einkaufszentren, Supermärkten.
Perspektivisch muss es FLINTA Abteile in Zügen, Bussen, Straßenbahnen geben. Einzelne Sitze zu reservieren für Cis-Männer wäre problematisch, wie die Erfahrungen der Rassentrennung in Amerika zeigte.
Ich denke, wir sind auf einem guten Weg, wenn sich alle bemühen und sich respektvoll auseinanderbewegen und voneinander fort.

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Fra.Prez.

Ich empfinde mich als lesbische Amöbe (…ja, Zellteilende können auch lesbisch sein), gefangen im Körper eines alten Mannes weisser Hautfarbe (komplett verachtenswert!) dazu mit schlechtem Mundgeruch. Wo kann ich mich melden, um Anerkennung zu bekommen?

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Heinz Niski

vermutlich redest du von den holistischen Aspekten des Leib-Seele Problems und verwechselt Amöbe mit Monade, solche Gedankendreher kommen beim Ruhri schon mal vor. Hmm… ich glaube in Duisburg drehen die im Landschaftspark gerade einen neuen „Tribute von Panem“ da könntest als Statist Ruhm und Ehre einheimsen. Mit Mundgeruch.

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Fra.Prez.

Er spricht mir in Rätseln.

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