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Den dicksten Schlussstrich unter der fünfjährigen Kontroverse zogen keine Geringeren als die Bürgerinnen und Bürger der Stadt Gelsenkirchen. Bisher habe ich ja nur aus dem internen Blickwinkel berichtet, was den falschen Eindruck erweckt haben könnte, dass die ganze Sache in einer höhere Form der Geheimhaltung abgelaufen wäre und die Öffentlichkeit als zu vernachlässigende Größe hätte behadelt werden können. Dem war keineswegs so. Tatsächlich nahm die Öffentlichkeit äußerst regen Anteil an den Stürmen in der SPD – wie man den Dokumenten des Buches unschwer entnehmen kann.

Breiteste Presseberichterstattung (teilweise auch überregional), Pro- und Contra-Leserbriefe, Kommentare, Hintergrundberichte und Interviews prägten das Bild ebenso wie Erklärungen und Pressekonferenzen gegnerischer Parteien (v. a. der CDU), die aus unseren Konflikten Honig saugen wollten. Das war nicht zu unterschätzen, ja sogar gefährlich.

Eine heillos zerstrittene Partei, die ihre Probleme auf dem offenen Markt austrägt, hat normalerweise keine Chancen, das Vertrauen der Bürgerschaft zu gewinnen. Es gab also nicht unbegründete Befürchtungen, dass die Kommunalwahl der SPD eine deftige Quittung ausstellen könnte. Ein derartiges Ergebnis wurde aber nicht nur befürchtet, sondern auch erhofft, und zwar nicht nur von den gegnerischen Parteien, sondern auch von Teilen unserer geschlagenen innerparteilichen Kontrahenten bzw. von lokalen und überregionalen SPD-Politikern, die unser „Treiben“ mit äußerstem Unbehagen beobachtet hatten. Von einem der Abgewählten soll der Ausspruch stammen: „Wir warten nur das miese Kommunalwahlergebnis ab, und dann jagen wir sie (gemeint waren wir) mit der Peitsche aus dem Hans-Sachs-Haus.“ Sicher ist, dass man auch im Bezirk Westliches Westfalen Gewehr bei Fuß stand, um uns nach einer verlorenen Wahl den Garaus zu machen. Sei’s drum, die Peitsche stand im Raum und alarmierte zusätzlich. Sollte unsere „Revolution“ Bestand haben, mussten wir die Wahl mit einem akzeptablen Ergebnis gewinnen, und das hieß bei den Gelsenkirchener Verhältnissen: Unter einer, wenn auch knappen absoluten SPD-Mehrheit wäre für uns alle nichts mehr drin gewesen. Um es nicht zu spannend zu machen: Die Peitsche konnte und musste im Schrank gelassen werden, denn alle Hoffnungen der Missgünstigen auf eine Revision der neuen SPD-Situation durch eine verlorene Kommunalwahl zerplatzten wie die Seifenblasen. Das Ergebnis übertraf alle unsere geheimen Wünsche. Die SPD errang über 63 % der Stimmen und damit das zweitbeste Kommunalwahlergebnis, das die SPD jemals in Gelsenkirchen gehabt hatte. So hießen denn der neue Oberbürgermeister Werner Kuhlmann, der neue Oberstadtdirektor Heinz Meya, der neue Fraktionsvorsitzende Kurt Bartlewski und die aufmüpfigen Jusos um Poß und Frey zogen als frischgebackene Stadtverordnete triumphierend in den Rat ein.

Als Erklärung für das in dieser Höhe doch unerwartete Wahlergebnis scheinen mir folgenden Überlegungen plausibel:

► Einmal war die Kommunalwahl mit der Landtagswahl gekoppelt, was sich auf die Wahlbeteiligung positiv auswirkte. (Erfahrungsgemäß kam eine hohe Wahlbeteiligung in GE immer der SPD zugute.)

► Zweitens war die politische Großwetterlage für die SPD günstig, und das betraf sowohl den Bund als auch das Land. Wir hatten damit eine Ausgangsposition, in der die drei großen Buchstaben SPD Rückenwind und nicht, wie es bei vielen anderen Wahlen zuvor und danach war, frontalen Gegenwind hatten. Trotzdem! Gerade lokale Wahlen haben ihre eigenen Gesetze und Beispiele aus der Vergangenheit – besonders das Wahldebakel von 1999 – zeigen (übrigens nicht nur bei uns), das örtliche Vorkommnisse einen nicht unbeachtlichen Einfluss auf den Ausgang der Kommunalwahlen haben können. Insofern hätte der Topos „zerstrittene Partei“ dennoch negativ zu Buche schlagen können.

► Ich meine: Des Rätsels Lösung liegt bei dieser Wahl in einem Paradigmenwechsel. Was normalerweise als „zerstritten“ gleich „handlungsunfähig“ wahrgenommen wird, wurde 1975 als lebendiger Aufbruch gewertet. Die große SPD, die bereits verknöchert und unbeweglich schien, hatte es aus sich heraus geschafft, sich zu erneuern. Sie bot neue, unbelastete Personen und frische Inhalte an und stand für Fortschritt und Zukunft. Und das war nicht nur gut für die SPD selbst, sondern v. a. auch für Gelsenkirchen. Diese Stimmung wurzelte natürlich immer noch in dem offeneren politisch-gesellschaftlichen Klima, das ab Ende der 60er bis Mitte der 70er die Republik durchwehte. Diskussionen wurden generell nicht mehr als Palaver, der Streit in der Sache nicht mehr als Gezänk und Personalveränderungen nicht mehr als Sakrileg, sondern als Ausdruck demokratischen Verhaltens gesehen. Dabei halfen uns indirekt auch die Medien, denn wir (d. h. die Jusos, Heinz Meya u. a.) hatten über die Jahre hinweg schlicht die bessere Presse gehabt.

► Letzter Punkt: Der Wahlkampf selbst! Da wir alle wussten, worum es ging, haben wir geackert bis zum Umfallen. Auch das hatte sich gelohnt. Und: Für den Wahlkampf wurden keine Kosten gescheut! Heute darf ich es sagen. Der Wahlkampf verschlang ca. 450.000 DM. Selbst unter Einbeziehung des Landtagswahlkampfes wurde er so zum Teuersten, was sich die Gelsenkirchener SPD jemals geleistet hat. Es dauerte gute fünfzehn Jahre, bis wir die Schulden wieder los waren. Da heute Schulden en masse gemacht werden, ohne zu wissen, wie man wieder aus ihnen herauskommt, möchte ich in einem kleinen Vorgriff auf Band 2 aufzeigen, wie es anders gehen kann. Der massive Sparkurs, der in den 80er Jahren durch die Verschuldung notwendig geworden war (so musste z. B. das Parteibüro in das MdL-Büro von Egbert Reinhard und mir am Neustadtplatz einziehen), zahlte sich aus. Anfang der 90er waren wir saniert, sodass wir ein großes Projekt in Angriff nehmen konnten. Vornehmlich Hans-Willi Simon, unser damaliger Schatzmeister, und ich als SPD-Vorsitzender waren nämlich der Meinung, dass wir uns wieder ein eigenes Parteihaus leisten sollten. Das rechnete sich nicht nur, sondern nahm auch eine alte Tradition der GE-SPD auf, die von den Nazis brutal unterbrochen worden war. Selbstverständlich gab es viele Widerstände gegen das Vorhaben, von denen sich aber weder Hans-Willi noch ich beeindrucken ließen. Gott sei Dank, so meine ich, denn heute ist das August-Bebel-Haus nicht mehr wegzudenken.Die Moral von der Geschicht’: Man kann für einen guten Zweck auch einmal hohe Schulden machen, vorausgesetzt, man sorgt anschließend konsequent dafür, sich ihrer wieder zu entledigen – selbst wenn es streckenweise weh tut. Nach gelungener Operation kann man dann – oh Wunder – sogar neues Vermögen schaffen. Sind derlei einfache Tatbestände den öffentlichen Händen nicht mehr bekannt?

Exkurs: Machen Wahlkämpfe Spaß?

Um das Thema „Wahlkampf“ noch einmal aufzugreifen: In meinem 35jährigen politischen Leben habe ich ungefähr genau so viele Wahlen mitgemacht, wie diese Zeit an Jahren zählt. Es sind nämlich ca. 35. Natürlich rede ich von Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen, nicht von den Wahlen in der Partei und ihren Gremien, in den diversen Fraktionen, im Landtag und wo auch immer. Diese Zahl ist schier unüberschaubar, da faktisch ständig irgendwo gewählt wurde. (Das ist heute nicht anders.) Nein, ich rede von den staatlich organisierten Wahlen, die für die Gesamtpolitik so unglaublich wichtig sind. Rein statistisch habe ich also als politischer Aktivist kein Jahr ohne Wahl erlebt.

Tatsächlich verteilte sich das etwas anders, weil es zwischendurch immer wieder ein oder zwei wahlfreie Jahre gab, während es wiederum Jahre gab, in denen auf einen Schlag zwei oder drei Wahlen stattfanden. (Auch das hat sich nicht geändert.) Wahlzeiten sind für jeden Politiker eine erhebliche Belastung, denn jede Wahl ist mit einem Wahlkampf verbunden, der nicht nur durchgeführt, sondern auch inhaltlich und organisatorisch geplant und vorbereitet werden muss. Außerdem kostet jeder Wahlkampf viel Geld, das die Partei und die Kandidaten erst einmal aufbringen müssen. Überhaupt sind Wahlkämpfe kein Zuckerschlecken. Sie zerren an den Nerven, sind z. T. mühselig, fordern einen hohen persönlichen Aufwand mit zumeist wenig Effekt, verlangen eine Engelsgeduld und sind streckenweise gespickt mit frustrierenden Erlebnissen.

Das gilt allgemein, und es gilt besonders, wenn man selbst Kandidat ist. Ich weiß, wovon ich rede. Denn immerhin war ich in sieben Wahlkämpfen selber als Kandidat involviert (zwei Kommunal- und fünf Landtagswahlen), und bei mindestens zehn Wahlkämpfen hatte ich die zentrale Leitung inne. Wenn behauptet wird, Wahlkampf mache Spaß, dann kann ich das noch augenzwinkernd als beschönigende Propaganda gelten lassen, als Tatsachenbehauptung aber ist sie in meinen Augen abwegig.

Ich gebe ehrlich zu: Mir haben im Prinzip Wahlkämpfe noch nie Spaß gemacht. Ich habe sie immer als Pflicht empfunden, eine Pflicht, die ohne jede Frage unabdingbar notwendig ist (Wahlen gehören nun einmal zum A und O der Demokratie). Wer aber den Wahlkampf mit dem Nimbus eines besonders großen Vergnügens versieht, der hat entweder einen Hang zum Masochismus, ist unsensibel, oder er lügt. Natürlich gibt es Abstufungen. Ich erinnere mich an – allerdings rar gesäte – Wahlkämpfe, denen ich gute und sogar schöne Seiten abgewinnen kann.

Dazu gehören die Willy-Wahl von 1972, der schon erwähnte Kommunalwahlkampf von 1975, die Landtagswahlen 1980 und 85 und die Kommunalwahl 2004. Die Willy-Wahl war deshalb außerordentlich, weil die Zeit außerordentlich war. Das galt in abgeschwächter Form ebenso für die 75er Wahl. Wenn ich mich nicht irre, haben wir in den 70ern den Straßenwahlkampf nicht nur erfunden, sondern auch erstmals im großen Stil durchgeführt. Wir stellten uns mitten unter die Leute, ließen Bands und Straßenkünstler aufmarschieren, und es wurden Würstchen gebraten, Pils gezapft und Kaffee und Kuchen angeboten. Was damals wirklich neu war, hat sich generell durchgesetzt, ohne sich allerdings weiterentwickelt zu haben.

War der Infostand mit Bratwürstchen früher eine kleine Sensation, so kann man ihn heute schon fast nicht mehr sehen. Die Masse der übrigen Wahlkämpfe war in der Regel schrecklich normal und gewöhnlich, und ich wüsste nicht, was es von ihnen Besonderes zu berichten gäbe. Sie waren Teil des politischen Pflichtprogramms, das zu absolvieren war. Selbst von der Schröder-Wahl 1998, die immerhin 16 Jahre Kohl beendete, sind mir außer dem Wahlabend echte Highlights nicht mehr im Gedächtnis. Es gab wohl auch keine.

Der absolute Tiefpunkt aller Wahlkämpfe und Wahlen war für mich und viele andere dagegen die Kommunalwahl 1999 mit dem Vorspiel der Europawahl 1999. Auf dieses Spießrutenlaufen soll im zweiten Band eingegangen werden. Eine wichtige Bemerkung sei noch hinzugefügt. Wenn ich hier das Thema etwas despektierlich, aber ehrlich behandelt habe, dann habe ich lediglich meine Befindlichkeit wiedergegeben. Diese ist bitte nicht zu verwechseln mit einer abwertenden Haltung gegenüber den vielen, die in den Ortsvereinen und darüber hinaus nur um der Sache und der kandidierenden Personen willen ihre Nerven und ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt haben und immer noch stellen.

Ich habe immer die vielen Mitglieder der Partei für ihr Engagement gerade auch in Wahlkämpfen geschätzt und bewundert, und zwar nicht nur, weil die SPD ohne ihre Hilfe einpacken könnte, sondern auch, weil ich in den Jahren mitbekommen habe, dass auch sie in den Wahlkämpfen nicht unbedingt „Spaß“ empfunden haben. Aber sie haben es – wie ich – trotzdem gemacht. Wir haben es gemacht, weil es richtig, wichtig und notwendig war und ist. Auch das ist gelebte Demokratie!

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Von Hans Frey

Hans Frey (geb. 24.12.1949 in Gelsenkirchen, verw., drei Kinder) studierte Germanistik und Sozialwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete dann als Studienrat an einem Gelsenkirchener Gymnasium. 1980 wurde er in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, dem er bis 2005 angehörte. Seit dieser Zeit lebt er (formal) im Ruhestand. Neben der Politik war und ist Hans Frey publizistisch und künstlerisch engagiert. U. a. kreierte er 1996 als Drehbuchautor und Regisseur die Stadtrevue „Ja, das alles und mehr…“, gab sieben Jahre lang das Stadtmagazin DIE NEUE heraus und gehörte 2004 zu den Mitinitiatoren der Kunstausstellung RUHRTOPIA in Oberhausen. Im September 2007 war er Mitbegründer von gelsenART e. V., Verein zur Förderung von Kunst und Kultur im Ruhrgebiet. Unter seinen Buchveröffentlichungen finden sich u. a. - der fantastische Roman „Die Straße der Orakel“, der in einer Antike spielt, die man so aus den Geschichtsbüchern nicht kennt (2000), - das Sachbuch „Welten voller Wunder und Schrecken – Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction“ (2003), ein umfangreiches Werk, das alle Facetten der Science Fiction beleuchtet, - und sein aktuell letztes Buch (September 2009), der erste Band seiner politischen Autobiografie „Ja, das alles und mehr! – Geschichte und Geschichten aus 35 Jahren Politik“ mit dem Titel: „Wilder Honig“.

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