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Rolle der Militärexperten im Ukraine-Krieg – Das Versagen der deutschen Lehnstuhlstrategen

Bislang haben sich nahezu alle Voraussagen deutscher Experten über den Kriegsverlauf als falsch herausgestellt. Das wird die Denkfabriken jedoch nicht davon abhalten, weiterhin das zu tun, was sie bereits seit Monaten tun: mit wenig Analyse und viel Empörung Unterstützung für die Ukraine einfordern.

VON MICHAEL RÜHLE am 29. Dezember 2023

Autoreninfo

Michael Rühle war über 30 Jahre im Internationalen Stab der Nato in Brüssel tätig.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Sicherheitspolitik wieder in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Seit der Nachrüstungsdebatte der frühen 1980er Jahre wurde in Deutschland nicht mehr so ausgiebig über sicherheits- und militärpolitische Fragen diskutiert. Entsprechend groß ist der Bedarf an sicherheitspolitischer Expertise – ein Bedarf, der von zahlreichen Wissenschaftlern aus den einschlägigen deutschen Forschungsinstituten und Universitäten gedeckt wird.

Das altbewährte „Lodenmantelgeschwader“ aus pensionierten Generälen kommt immer seltener zu Wort. An ihrer Stelle erklären nun selbstbewusste junge Frauen und Männer aus den „Denkfabriken“ einem breiteren Publikum den Verlauf des Krieges oder spekulieren über die militärischen Optionen der Kriegsparteien. Die „Zeitenwende“, so scheint es, war der dringend nötige Adrenalinschub, der die deutsche „strategic community“ aus ihrem Schattendasein heraus- und in die Talkshows hineinkatapultiert hat.

Doch wie steht es um die Qualität der feilgebotenen Expertise? Von militärischen Dingen versteht die Zunft jedenfalls nicht allzu viel. Und warum sollte sie auch? Bis zum Februar 2022 wurde sie schließlich nie gefragt. Man gibt folglich das wieder, was man sich vermutlich kurz vor seinem Fernsehinterview aus den Beiträgen amerikanischer und britischer Experten auf dem Internet zusammengegoogelt hat. So ist man dem Publikum immer eine Twitter-Länge voraus, bleibt aber analytisch auf sicherem Boden.
Begrenzter militärischer Sachverstand

Lässt man sich dennoch einmal zu einer Voraussage hinreißen, wird die Luft hingegen dünn. Bislang haben sich nämlich nahezu alle Voraussagen deutscher oder in Deutschland ansässiger Experten über den wahrscheinlichen Kriegsverlauf als falsch herausgestellt. Die ukrainische Offensive hat nicht die prognostizierte Wende des Kriegsverlaufs herbeigeführt, die Krim ist nach wie vor in russischer Hand, und Russland sind bislang weder die Soldaten noch das Kriegsgerät ausgegangen.

Der Hinweis, die prekäre Lage sei vor allem die Schuld des Bundeskanzlers, der aufgrund seiner unbegründeten Angst vor einer Eskalation nicht den Mut aufbringe, der Ukraine das Waffensystem X oder Y zu liefern, wirkt vor diesem Hintergrund nur noch wie eine weitere Bestätigung des begrenzen militärischen Sachverstandes. Diese Waffen mögen neue militärische Möglichkeiten eröffnen; einen ukrainischen Sieg führen sie nicht herbei.

Mehr noch. Je länger der Krieg dauert, umso stärker vermischen sich Analysen mit Durchhalteparolen. Die hartgesottenen Experten verzieren ihre Twitter-Einlassungen inzwischen gerne mit der ukrainischen Flagge oder enden ihre Ausführungen mit einem trotzigen „Slava Ukraini“ (Ruhm der Ukraine). Die ukrainischen Soldaten werden zu „Helden“ – ein Begriff, dessen Verwendung trotz aller Bewunderung für die Leistung dieser Menschen jeden Wissenschaftler eigentlich desavouieren müsste. Und da es schließlich um Fragen von Leben und Tod geht, darf der Mitarbeiter einer deutschen Denkfabrik die zögerlichen europäischen Politiker auch mal als „Hosenscheißer“ titulieren.
Kompromissfrieden als tabuisierter Begriff

Umgekehrt werden Russland immer häufiger imperiale Ambitionen zugeschrieben, die weit jenseits der gegenwärtigen oder absehbar künftigen Fähigkeiten dieses Landes liegen. Nur ein Sieg der Ukraine, nämlich die Wiederherstellung der ukrainischen Souveränität in den Grenzen vor 2014, so wird suggeriert, könne Putin noch davon abhalten, in Richtung Berlin zu marschieren oder sich zumindest einen Teil des Baltikums einzuverleiben. Dass ein Angriff Russlands auf die Nato, anders als auf die Ukraine, einen Krieg mit 30 Staaten, einschließlich den USA, zur Folge hätte, scheint in diesen Analysen keine Rolle mehr zu spielen.

Wo solche Szenarien das Denken bestimmen, ist auch keine intelligente Auseinandersetzung über die Konturen einer Nachkriegsordnung mehr möglich. Da bereits die bloße Andeutung eines Kompromissfriedens dem russischen Narrativ in die Hände spielen könnte, weigert man sich, eine solche Diskussion überhaupt erst zuzulassen.
„15 Minuten des Ruhms“ neigen sich dem Ende zu

Noch genießt die deutsche „strategic community“ ihren neu gewonnen Einfluss und ihre mediale Omnipräsenz. Doch der immer rauer werdende Ton deutet an, dass sich ihre „15 Minuten des Ruhms“ (Andy Warhol) dem Ende zuneigen. Die „Zeitenwende“ stockt – nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo. Die deutsche „strategic community“, die sich richtigerweise mehrheitlich hinter den ukrainischen Überlebenskampf gestellt hat, muss inzwischen fürchten, dass Kiew trotz der zahlreichen Probleme in den russischen Streitkräften am Ende unterliegen könnte – und dass damit auch sie selbst scheitert.

In immer dramatischeren Worten warnt man deshalb vor den Konsequenzen eines Nachlassens der westlichen Unterstützung für die Ukraine und fordert die Regierung auf, entschlossener zu handeln. Die nüchtern-distanzierte Analyse weicht endgültig dem politischen Werben um die bessere Sache; die wissenschaftliche Studie ist nur noch ein notdürftig getarnter moralischer Appell.

Wenig Analyse, aber viel Empörung

Jetzt wäre eigentlich die Zeit für abgewogene Analysen über die Optionen, die Deutschland und dem Westen in dieser schwierigen Lage zur Verfügung stehen. Und natürlich gibt es solide Experten, die solche Papiere zu schreiben vermögen. Doch der Großteil von ihnen kommt aus den USA oder Großbritannien, deren „strategic communities“ eine wesentlich größere militärische Sachkenntnis besitzen. Auch in diesen Ländern geht die Sorge um, die westliche Hilfe für die Ukraine könnte nachlassen und Russlands brachiale Politik dadurch belohnt werden. Und natürlich sind auch dort die Experten nicht frei von Emotionen oder einer politischen Agenda. Dennoch gelingt es ihnen zumeist besser als ihren deutschen Kollegen, Fakten und persönliche Meinung voneinander zu trennen.

Viele deutsche Denkfabriken werden dagegen weiterhin das tun, was sie bereits seit Monaten getan haben: mit wenig Analyse aber viel Empörung Unterstützung für die Ukraine einfordern, den real weiter sinkenden deutschen Verteidigungshaushalt beklagen und über russische Welteroberungspläne spekulieren. Dieses Repertoire ist allerdings zu schlicht, um die „Zeitenwende“ – und damit zugleich die eigene Popularität – retten zu können. Bald wird es daher wieder heißen: Studierstube statt Talkshow. Die Zeit der Lehnstuhlstrategen könnte ebenso schnell vorbei sein, wie sie gekommen ist.

 

Aus Cicero vom 29.12.23

https://www.cicero.de/aussenpolitik/militarexperten-im-ukraine-krieg-versagen-michael-ruhle

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Handwerker, nach 47 Jahren lohnabhängiger Arbeit nun Rentner. Meine Helden: Buster Keaton, Harpo Marx, Leonard Zelig.

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Pet.Teut.

So zutreffend wie erbärmlich im Blick auf die Politik unserer erweiterten BRD..comment image

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