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Zweizeiler der Woche: Defekte Märchen

Die Märchen, die die Grimm-Brüder einst gesammelt und auch etwas gereinigt haben, sollte man als das nehmen, was sie ursprünglich mal waren, nämlich Geschichten zum Erzählen für Erwachsene und nicht für Kinder, denn Kindheit gab es in dem heutigen Sinne noch nicht: „Kindheit ist eine »Erfindung« der europäischen Moderne, entstand also erst im Verlaufe des 18. Jahrhunderts. Im Mittelalter waren Kinder demnach lediglich »kleine Erwachsene«, Kindheit als eigenständige Lebensphase existierte nicht. Der Übergang in das Erwachsenenalter geschah in der Antike und im Mittelalter gewissermaßen unbemerkt, weil Kinder schon früh an allen Aktivitäten ihrer Eltern und Verwandten teilnahmen.“ (Bründel/Hurrelmann, Kindheit heute, Beltz Verlag 2017). Wenn man Märchen also als Literatur für Erwachsene liest, dann lässt sich doch manches an Grausamkeit erklären, was wir heute „Kindern“ zumuten, wenn wir Märchen vorlesen (oder mit modernen Tonträgern vorspielen): Kinder, die von ihren Eltern im Wald zurückgelassen werden, eine alte Frau, die Kinder verspeist, und Kinder, die die alte Frau im Backofen verbrennen (immerhin wurden auch im „echten“ Leben Hexen verbrannt).

Neben den Grausamkeiten und dem immer wieder als Motiv auftauchendem Weg aus der Armut hin zum Reichtum, sogar zur Herrschaft, spielt das Erwachsenwerden eine Rolle. Junge Mädchen werden zu Frauen, wobei die Defloration oder die erste Blutung nur symbolisch angedeutet werden:  Blutstropfen, das rote Käppchen, das Erwachen aus dem Schlaf, der Kuss, die Symbolik von Fenstern, Türen, Türmen, in die zu klettern ist, die Dornenhecke, die überwunden/durchschlagen werden muss. Oder gar die Metamorphose, wenn aus einem pockennarbigen Frosch (pubertäre Akne) ein wunderschöner Prinz (junger Mann) wird und aus einem armen Schlucker der Prinzgemahl.

Lessing lässt den weisen Nathan, bevor er die „Ringparabel“ erzählt, sagen: „Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab.“ (Nathan der Weise, III/6). Und das gilt auch noch heute: es vergeht kaum ein Tag, an dem man uns nicht mit Märchen abspeist – Märchen ohne Feen, Prinzen und Hexen, aber mit politischen Begriffen, die uns lenken, beeinflussen, manipulieren sollen, damit wir hinter einem Schleier märchenhaft klingender Worte die graue Wirklichkeit nicht sehen. Diese Märchen sind defekt, ihre Erzähler(-innen) politische Scharlatane. Das dumme Zeug, das sie uns erzählen, nennen sie hochgestochen Narrative. Aber man muss in den modernen Märchen nur auf die Fehlersuche gehen – dann wird man sie auch finden. Wie die in den Zweizeilern dieser Woche eingebauten Defekte.

Einen schönen Sonntag noch und eine märchenhafte Woche!

Defekte Märchen

Rapunzel ohne Haar und Zopf

Hat jetzt einen Skin-Head-Kopf

Schneewittchen lebt allein im Zwergenland

Denn die Zwerge sind ihr weggerannt

Rotkäppchen traf nicht auf den Wolf

Der spielte mit dem Jäger Golf

Gretl ist neidisch auf den Hans

Der sitzt als Talk-Gast bei dem Lanz

Die sieben Geißlein singen munter:

Der Wolf fiel in eine Schlucht hinunter

Der Sack, er hat es nicht verstanden

Wie ihm der Knüppel kam abhanden

Doch der Goldesel, der wusste schon

Die Taler fraß die Inflation

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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