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Rohr im Kopf

Anton „Wallach“ Kraske lag auf der Station 3 b, als ich ihn besuchte. Die Intensivstation hatte er bereits vor Tagen verlassen können, nach einer Phase der Ungewissheit. Aber er hatte den Sturz vom Balkon seiner Wohnung im zweiten Stock überlebt – mit etlichen Knochenbrüchen. Das Hauptproblem war der Kopf. Mit dem Körper war er auf dem Boden aufgeschlagen, nah an der Hauswand. Und dabei hatte sich unglücklicherweise der Wasseranschluss für den Gartenschlauch in seinen Kopf gebohrt. Den Wasserhahn hatten die Chirurgen operativ aus dem Kopf entfernen können – bis auf ein Anschlussstück. Das war dringeblieben. So wurde aus „Wallach“, der so genannt wurde, weil er dem amerikanischen Schauspieler Eli Wallach geähnelt hatte (jedenfalls vor dem Sturz!), seit dem Sturz „Der mit dem Rohr im Kopf“. Für mich blieb er aber „Wallach“. Und Wallach behauptete, mit immer noch leicht rauer Stimme von den Schläuchen, die er über Tage im Mund gehabt hatte, er hätte jetzt ein drittes Nasenloch, nur dass es halt mittig in seinem Schädel sitzen würde, aber ziemlich praktisch sei zum Ein-und Ausatmen. Er habe aber noch nicht probiert, ob er durch den dritten Zugang auch rauchen könne. Zudem habe er jetzt wegen des Metalls im Kopf das Privileg, nicht mehr diese elektronischen Kontrolltüren durchschreiten zu müssen, weil die Geräte dann anschlügen und Alarm gäben. Vielmehr hätte er das Recht, immer vorbei an der Warteschlange auf Flughäfen, an kontrollierten Eingängen, etwa in Museen oder dem Eifelturm, nach persönlicher Abtastung eingelassen zu werden. Und mit Händen abgetastet zu werden, sei für einen alten einsamen Wolf wie ihn auch nicht immer an der Tagesordnung. Da müsse man sich auch schon mal mit einem Flughafenmitarbeiter zufriedengeben, was das Abtasten angeht.

Ich hatte kaum erwähnt, dass seine Zierfische, um die ich mich samt seiner Wohnung während des Krankenhausaufenthaltes kümmerte, munter und vergnügt die Tage und Nächte verbrachten und auch der Gummibaum in bester Verfassung sei, da ging sein bisher leises Sprechen in ein Flüstern über. Er habe eine Entdeckung gemacht, die ihn beunruhige. Ich wisse doch wohl auch, dass man die Stellung eines Arztes im Krankenhaus an der Zahl der Kugelschreiber erkennen könne, die er in der Brusttasche seines Arztkittels habe. Die Zahl der Kugelschreiber verringere sich, je höher ein Arzt in der Hierarchie stehe. Der Chefarzt habe keinen Kugelschreiber, denn der lasse ja schreiben. Bestenfalls habe so ein Chef einen Füllfederhalter bei sich, etwa einen von Montblanc oder auch einen Pelikan.

Seltsam sei, dass der leitende Stationsarzt, der angeblich Heribert Hiesfeld hieß, immer zwischen 10 und 12 Kugelschreiber mit sich führe, ein leitender Stationsarzt aber bestenfalls, wenn es hochkommt, drei Kugelschreiber in der Jacke habe. Und gestern sei, von eine Minute auf die andere, nachts um zwei Uhr auch noch sein Zimmernachbar samt Bett abtransportiert worden und nicht wieder aufgetaucht. Das sei doch nicht normal! Er glaube, dieser Hiesfeld ginge nachts ganz anderen Beschäftgungen nach!

Nach einer Atempause, in der ich ein leichte Zischgeräusch aus dem Rohr in seinem Kopf vernahm, ohne aber Tabakqualm aufsteigen zu sehen, fuhr er mit einer Art von Gespensterstimme fort: „Ich sage nur: Dr. Frankenstein!“ Kaum ausgeflüstert, drehte sich Wallach auf die von mir abgewandte Seite um, sagte keinen Ton mehr und begann zu schnarchen.

Ich stand auf und fragte mich, ob Wallach nicht besser in der psychiatrischen Abteilung aufgehoben wäre! Ich verließ das Zimmer. Die Station wirkte wie verlassen, es war grabesstill. Das Lebendigste waren zwei Fliegen in der Deckenlampe über Wallachs Zimmertür. Aus einem Raum einige Meter weiter den Gang hinunter trat ein Mann in einem weißen Kittel auf den Flur, zog leise die Tür zu dem Krankenzimmer hinter sich und ging vor mir in Richtung Stationszimmer der Pfleger und Ärzte. Ich musste an Wallach denken und seine Kugelschreiber-Theorie und rief dem Mann nach: „Hallo, Dr. Frankenstein!“

Der Mann drehte sich um, lächelte mich aus blutunterlaufenen Augen so bösartig an, dass ich das Gefühl hatte, mir bohre jemand einen Pfeil in meine Brust. Der Arzt hatte etwa ein Dutzend Kugelschreiber in der Brusttasche seines Kittels! Und er hatte vier ungewöhnlich spitze und lange Eckzähne.

Auf seinem Namenschild stand: Dr. Heribert Hiesfeld, Leitender Stationsoberarzt.

Ein ungewöhnlich kalter, nahezu eisig zu nennender Luftzug wehte mich an.

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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