Anmerkungen zur Lageeinschätzung durch OB Welge
„Aus Wolken tauchen schimmernde Alleen,
Erfüllt von schönen Wägen, kühnen Reitern.
Dann sieht man auch ein Schiff auf Klippen scheitern
Und manchmal rosenfarbene Moscheen.“ ***
Ein wunderbares Trugbild, eine Phantasmagorie mit zauberhaften Elementen malt Georg Trakl am Ende des Gedichts „Vorstadt im Föhn“. Selbst das auf Klippen scheiternde Schiff hat etwas Magisches, Geheimnisvolles, fast Anmutiges, jedenfalls nichts Bedrohliches, an eine Katastrophe Erinnerndes.
Aber es ist eben ein Trugbild, nicht die Wirklichkeit. Eine Gaukelei und Sinnestäuschung, von Trakl in die Zeile gefasst:
„Gebilde gaukeln auf aus Wassergräben“.
An Trakls Gedicht wurde ich erinnert, als ich den Satz von Frau OB Welge zur Kenntnis nehmen musste, den sie bei der Einbringung des Haushaltes formuliert hat: „Das ist der erste Haushalt, den der Rat nicht unter dem Eindruck einer Krise berät.“
Vielleicht ist meine eigene Gedankenführung zu eng und Frau Welge will meinen geistigen Horizont erweitern? Vielleicht ist der Blick nur auf den vorgelegten Haushaltsentwurf zu lenken, der so gestrickt ist, dass die Stadt an einem „Haushaltssicherungskonzept vorbeikommt“, wie es der Kämmerer formulierte. Aber ist die Blickführung nicht lediglich ein Tunnelblick, ein Trugbild wie die schimmernden Alleen, die schönen Wägen und die kühnen Reiter bei Trakl?
Keine Krise?
Haben wir nicht seit über zwei Jahren Krieg in Europa? Stehen wir nicht ständig am Rande einer Ausweitung dieses Krieges bis hin zu einem Großkonflikt? Nichts ist dafür eindeutiger, als die Überlegung, bei einer Lieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine die Steuerung so zu programmieren, dass Ziele in Russland, also weit hinter der Front, nicht erreicht werden können.
Haben wir nicht eine immer noch zu hohe Inflationsrate, die die Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs verteuert? Haben wir keinen Pflegenotstand und keinen Fachkräftemangel mehr in allen Wirtschaftszweigen?
Und überhaupt: Kann man darüber hinwegsehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland lahmt und sich die Krisenzeichen täglich mehren?
Und, um nur einen kurzen Blick auf die Stadt zu werfen:
Sind die Parameter, die die Situation in GE beschreiben, Zeichen einer „gesunden“ Entwicklung oder nicht doch Symptome einer Krise:
Transferzahlungen, die 47% des städtischen Haushalts (Entwurf) ausmachen (657,9 Millionen) bei steigender Tendenz
Die dauerhaft hohe Zahl von Arbeitslosen und Langzeitarbeitslosen
Die Zahl der Jugendlichen, die ohne jeglichen Abschluss die Schule verlassen
Die Zahl derjenigen, die bereits das 1. Schuljahr wiederholen müssen, und die Zahl derjenigen, die „abgeschult“ (ein schreckliches Wort!) werden
Die Zahl der in „Obhut“ genommenen Kinder
Die Zahl von Delikten aller Art (von Diebstahl bis hin zu Gewaltdelikten und Delikten im Straßenverkehr)
Die hohe Zahl von Verstößen, Ordnungswidrigkeiten und Betrugsfällen, die bei jeder Kontrolle des Interventionsteams-Ost festgestellt werden
Der Verlust von Geschäften (Kaufhof, Primark u.a.) und Einkaufsmöglichkeiten
Die steigenden Fallzahlen der „Hilfen zur Erziehung“ (für 2024 eine Verdoppelung der Kosten dafür seit 2019)
Die zunehmende Aufladung mit Aggressionen, die im Alltag festzustellen sind und sich anhand von Meldungen der Polizei zeigen, aber auch bei Bürgerversammlungen moniert werden.
Wenn das keine krisenhaften Elemente sind, sondern Normalität sein soll, was ist denn dann eine Krise?
Ich komme auf Trakl zurück, der in seinem Gedicht die Wirklichkeit in schrecklich-schöne Bilder fasst, bevor er sein Gedicht in die Schlusszeilen der wunderschönen Gaukelei überführt:
Am Kehricht pfeift verliebt ein Rattenchor.
In Körben tragen Frauen Eingeweide,
Ein ekelhafter Zug voll Schmutz und Räude,
Kommen sie aus der Dämmerung hervor.
Und ein Kanal speit plötzlich feistes Blut
Vom Schlachthaus in den stillen Fluß hinunter.
Die Föhne färben karge Stauden bunter
Und langsam kriecht die Röte durch die Flut. ***
***aus: Georg Trakl, Vorstadt im Föhn