4.
Anselm schlug die Augen auf.
„Wie fühlst du dich?“ fragte Feuerbach.
„Ein wenig…matschig“, antwortete Anselm und war einigermaßen erstaunt über sich selbst. Warum erschrak er nicht darüber, dass dieser Fremde, der aussah wie Feuerbach, an seinem Bett wachte, wo doch zu erwarten gewesen war, dass sein Vater hier säße?
„Dein Vater musste wohl weg. Er hat diesen Zettel auf das Nachttischchen gelegt.“
Feuerbach reichte Anselm einen kleinen Notizzettel, auf dem in der klaren, ein wenig nach rechts geneigten Handschrift seines Vaters stand: „Lieber Anselm – muss ganz dringend zu einer wichtigen Besprechung ins Rathaus. Ich bin aber spätestens um 18.00 Uhr zurück. Papa!“
„Toll – der haut ab, hat ja immer nur ganz wichtige Besprechungen, die Mutter ist zu einer …“. Anselms Rede kam kurz ins Stocken.
„Sie ist zu einer…Kur, zu einer Kur. Und mich lassen sie hier liegen – krank wie ich bin“, sagte Anselm in einem Leidenston, der selbst den hartgesottensten Stein zu Tränen gerührt hätte – wenn denn ein Stein in der Nähe gewesen wäre.
„Du bist doch überhaupt nicht krank. Du hast kein Fieber, keinen Husten, keinen Schnupfen, keine Diarrhö …“
„Bitte, was habe ich nicht?“ fragte Anselm, wobei er die Bettdecke zurück schlug und sich auf die Bettkante setzte.
„Keine Diarrhö, also keinen Durchfall, keine Magenschmerzen, kein Ohrensausen, kein…“
„Ja, ja, ist ja schon gut. Sie müssen jetzt nicht alle Volkskrankheiten aufzählen, die ich nicht habe.“
„Du hattest einen kleinen Schwächeanfall, dein Kreislauf war ein wenig….sagen wir mal: verrutscht. Aber jetzt sollten wir los. Wir haben ja nur bis zum Abend Zeit, bis dein Vater zurückkommt.“
„Wie los? Wohin?“
„Ich hatte gedacht, dass wir mit Paris beginnen.“
„Spinne ich? Ich soll mit Ihnen nach Paris? Eiffelturm besteigen, Notre-Dame besichtigen – vielleicht auf den Champs-Élysées einen Kaffee und ´ne Cola schlürfen?“
„Nicht nach Paris, sondern zu Paris, dem Sohn des Königs Priamos von Troja.“
„Ach, und den besuchen wir einfach so, ja? Ist ein guter Bekannter von Ihnen, vermute ich!“
„Kann man so sagen. Aber wir sollten nicht zu viel Zeit verplaudern. Du solltest dir etwas anziehen. Nur so in Unterhose und Unterhemd und Socken – das ist nicht so ganz passend für die Gelegenheit, bei der du ihn treffen wirst.“
Feuerbach reichte Anselm die Jeans und das Sweatshirt, die Anselms Vater über die Bettkannte gelegt hatte.
„Dann mach ´mal!“
Anselm wunderte sich über sich selbst, als er in die Jeans sprang und sich das Sweatshirt überstreifte.
Was tat er da bloß? Wieso warf er Feuerbach nicht einfach einen Schuh an den Kopf und der ganze Spuk wäre wahrscheinlich vorbei?
Mal ebenso verreisen! Paris, Troja! Wie sollte das gehen?
Während Anselm dabei war, sich seine Schuhe anzuziehen, legte Feuerbach ein großformatiges Buch auf Anselms Schreibtisch.
Das war doch ein Bildband seines Vaters! Natürlich mit Abbildungen der Werke Feuerbachs und anderer Maler.
„Dieses prächtige Buch habe ich mir von deinem Vater ausgeliehen.“
„So. Ausgeliehen. Und mein Vater hat wahrscheinlich gesagt: Gerne Feuerbach, blättern Sie ruhig drin. Ich muss sowieso zur Arbeit. Und vielleicht können Sie in der Zwischenzeit auch ein wenig mit Anselm herumreisen, nach Troja zum Beispiel. Und bei der Gelegenheit könnten Sie doch auch mit ihm Paris besuchen, Ihren alten Kumpel. So in etwa hat er doch reagiert, oder?“
„So in etwa hätte er wahrscheinlich reagiert, wenn er mich überhaupt….“
Anselm fuhr dazwischen: „Wenn er Sie überhaupt gesehen hätte, nicht wahr?“
„Richtig, Anselm. Er hat mich nicht gesehen.“
„Und er hat auch nicht den Tabakrauch gerochen, und nicht bemerkt, dass der Aschenbecher auf der Armlehne des Sessels platziert war, und dass das Bild….oh, nee, ich flippe aus, das bekomme ich nicht in meinen Kopf.“
Feuerbach lachte.
„Ja, der Kopf. Das ist wie mit dem Messer bei der Auktion.“
„Mit welchem Messer?“
„Na, mit dem Messer ohne Griff, das keine Klinge hat, aber einen hohen Preis bei einer Auktion erzielt. Der Verstand erfasst eben nicht alles!“
Anselm stand neben Feuerbach, der den Bildband aufgeschlagen hatte. Die Doppelseite zeigte eine Reproduktion von Feuerbachs Ölgemälde „Das Urteil des Paris“ aus dem Jahre 1870, ein im Original mehr als 4 mal 2 Meter großes Bild.
„Dann mache ´mal die Augen zu!“ sagte Feuerbach. Anselm schloss die Augen. Er hörte Feuerbach etwas murmeln, von dem er aber nur Bruchstücke verstand: „Zahlen…Figuren…Licht…Schatten…Märchen…Gedichte….vor einem geheimen Wort…fort.“
Beim letzten Wort erfasste Feuerbach Anselms rechte Hand mit seiner Linken…und sie flogen in das Bild hinein.
5.
Anselm war warm. Man könnte, ohne zu übertreiben, sogar sagen, ihm war heiß. Und er hatte leichte Schluckbeschwerden. Das lag nicht an der Waldlandschaft, in der er sich befand und die sich weiter hinten zu einer Meeresküste hin öffnete. Das lag auch nicht an dem jungen Mann, der, wie Anselm fand, ziemlich lässig, fast gelangweilt wirkend, einen kleinen goldenen Apfel in der Hand, auf einer Rasenbank saß und einen Jagdhund und einen Ziegenbock in seiner Begleitung hatte.
Die Ursache für Anselms Körperwallungen waren vielmehr die drei Frauen, von denen eine ihm den Rücken zuwandte und die zweite von vorne zu sehen war. Beide standen nur wenige Meter von ihm entfernt und waren, nun – na ja, so gut wie nackt! Die Dritte, links von den beiden anderen positioniert und sitzend, nestelte an einem den Oberkörper verdeckenden weißen Gewand herum, dessen Schnüre sie öffnete. Ein dunkler Umhang verdeckte ihre Beine und ein breiter goldener Armreif schmückte ihren rechten Oberarm.
Aber nicht nur zwei der drei Frauen waren nackt. Unbekleidete kleine Engelsgestalten tummelten sich in der Nähe der Damen. Eine hielt der Frau, die Anselm von hinten sah und die eine Strähne ihres goldenen Haares in den Händen hielt, einen Spiegel hin, in dem die Frau sich betrachtete, ein weiterer Engel schwebte über ihr. Der zweiten Nackten, deren Haare von einem Diadem geschmückt wurden, löste ein Engelchen die Riemchensandalen, zwei spielten Boccia und eine weitere Gruppe, etwas von den Menschen entfernt, balgte sich.
Plötzlich wandte der junge Mann seinen Kopf in Anselms Richtung und sein Blick erfasste ihn. Ohne seine lockere Haltung aufzugeben, rief er Anselm zu: „Hallo! Junge! Komm doch ´mal her!“
„Meinen Sie mich?“ fragte Anselm.
„Klar! Nun komm schon und setzte dich einfach zu mir!“
Anselm machte ein paar zögerliche Schritte auf den Mann zu. Die drei Frauen schien seine Anwesenheit nicht zu stören. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Aber der Jagdhund knurrte tief, als Anselm auf der Rasenbank Platz nahm.
„Ruhig, Ares, ganz ruhig. Wie heißt du denn, mein Junge? Ich heiße Paris!“
„Anselm, ich heiße Anselm!“
„Klingt seltsam, dein Name. Ist in unserer Gegend nicht sehr verbreitet.“
„In meiner Gegend auch nicht“, antwortete Anselm.
„Und wie heißt die Gegend, aus der du kommst?“
„Deutschland oder auch Germany.“
„Ist mir unbekannt, dieses Land. Wahrscheinlich war unsere Flotte noch nicht bei euch!“
„Nein, eher nicht!“ antwortete Anselm und senkte den Kopf, als suche er auf dem Boden nach den Fliesen aus dem Schulflur. Die Frau, die er zunächst nur von hinten gesehen hatte, drehte sich Paris zu und blickte den Königssohn lächelnd an. Das Tuch, das ihren Unterleib teilweise bedeckte, hielt sie locker über den rechten Arm drapiert, so dass sie nun völlig nackt von vorn zu sehen war.
„Wie gefällt sie dir?“ fragte Paris.
„Schön, sie ist schön“, murmelte Anselm, ohne die unbekleidete Frau wirklich zu betrachten. Seine Schluckbeschwerden meldeten sich zurück – ziemlich heftige Schluckbeschwerden sogar. Paris schien das aber nicht zu bemerken.
„Finde ich auch, das finde ich auch. Sie heißt Aphrodite. Die dort sitzt, das ist Athene, und in der Mitte steht Hera. Und ich soll entscheiden, wer von ihnen die Schönste ist.“
„Und Sie werden….Sie werden, äh, Sie werden Aphrodite wählen, … und ihr als Zeichen…ja, Sie werden ihr, äh, tja, den kleinen goldenen Apfel überreichen, den Sie in der Hand haben.“
„Ja, daran habe ich gedacht, aber wie kommst du darauf, Anselm? Und warum stammelst du auf einmal so herum, mein Junge?“
„Weil, also, weil…“
„Nun, heraus damit!“
„Weil Hera doch die Göttinnen-Mutter, die Frau von Zeus, die Herrscherin im Olymp ist. Die wird mächtig verärgert sein, wenn sie diesen Wettbewerb verliert. Die wird so zornig und verletzt sein, dass sie Troja Rache schwören und es zerstören lassen wird — durch die Griechen.“
„Die Griechen. Ja, die waren schon immer scharf auf unser Gold. Und dass sie Zoll entrichten müssen bei der Durchfahrt durch die Meerenge, die wir beherrschen, fuchst sie natürlich gewaltig. Aber Krieg? Die Griechen wissen doch, dass wir gut gerüstet sind und dass die Mauern unserer Stadt Troja uneinnehmbar machen. Doch sag´ mal: Bist du ein Wahrsager, der aus dem Flug der Vögel oder den Innereien von Opfertieren die Zukunft ablesen kann? Woher willst du das wissen mit den Griechen und Heras Zorn?“
„Nein! Die Zukunft kann ich nicht vorhersehen. Ich bin nur ein Schüler, und ich weiß aus Büchern ein wenig — über die Vergangenheit.“
„Über die Vergangenheit? Verstehe ich nicht“, antwortete Paris, während Aphrodite sich wieder in das Tuch hüllte und zur Seite trat, um Hera Platz zu machen.
„Ich gehe jetzt besser“, sagte Anselm. „Schön, dass Sie mit mir geplaudert haben. Aber ich werde erwartet, ich muss um sechs Uhr zu Hause sein, dann kommt mein Vater von der Arbeit. Alles Gute, und …und denken Sie doch noch einmal über Ihr Urteil nach.“
„Werde ich machen, Junge. Werde ich machen—-oder auch nicht“, sagte Paris lachend. „Aber das noch: Was trägst du für seltsame Gewänder? Dieses Beinkleid und dieses eigentümliche Oberteil – das habe ich ja noch nie gesehen! Eine komische Mode! Verrückte Schneider müsst ihr in diesem Deutschland haben.“
Anselm war aufgestanden und hatte den drei Frauen zugenickt, aber ohne sie wirklich anzusehen oder ihnen gar in die Augen zu blicken.
Er drehte sich zu Paris um: „ Das ist ein Kapuzen-Sweatshirt. Und das Beinkleid nennt man Jeans. Kommen ursprünglich aus den USA. Sind bei Jugendlichen und Erwachsenen sehr beliebt – jedenfalls bei uns! Und, Herr Paris, denken Sie daran: Wählen Sie lieber Hera!“ Mit diesen Worten verschwand Anselm in Richtung auf die zerfallene Tempelsäule zu, hinter der Feuerbach auf ihn wartete.
„Ja, ich verspreche es dir“, hörte er Paris noch rufen, dessen Satz aber in ein Lachen überging.
6.
„Wie fandest du Paris?“ fragte Feuerbach.
Er saß neben Anselm auf dem Sofa im Wohnzimmer und hielt den Bildband auf den Knien. Die Doppelseite mit der Abbildung seines Gemäldes war aufgeschlagen.
„Für einen Königssohn recht locker. Aber im Gemälde ist er am Rand positioniert und fast im Halbschatten, wogegen die Frauen wie von Scheinwerfern hell ausgeleuchtet sind, ihre Körper strahlen ja fast.“
„Sonst noch was?“
„Ja, das finde ich schon komisch. Das Bild heißt ´Das Urteil des Paris´, aber Paris sitzt am Rand und in der Mitte streckt uns Aphrodite ihren nackten A…“
„Ihr Gesäß!“ fiel Feuerbach Anselm ins Wort.
„Von mir aus: ihr Gesäß entgegen, und Hera steht uns in ihrer ganzen Nacktheit gegenüber. Wissen Sie, was ich glaube, Herr Feuerbach?“
„Nein, was denn?“
„Ich glaube, das mit dem Paris-Urteil ist nur ein Vorwand!“
„Vorwand wofür?“ fragte Feuerbach und schaute Anselm erwartungsvoll an.
„Für so eine Nacktmalerei. Das ist ja fast so, als wenn man Frauen durch ein Schlüsselloch beim Entkleiden beobachtet.“
„Hmmh! Nacktmalerei hört sich aber so an, als wäre ich beim Malen nackt gewesen, war ich aber nicht. Was du meinst ist Aktmalerei. Und da liegst du nicht ganz verkehrt mit deiner Vermutung. Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“
„Man könnte fast meinen, Sie hätten sich beim Malen nicht viel Mühe gegeben. Oder Sie können nur eine Frau malen.“
„Hmmh! Wieso?“
„Die drei Frauen sehen sich doch sehr ähnlich, die Körper und die Gesichter, so als sei es ein und dieselbe Frau, dreimal gemalt.“
„Soll ich dir mal etwas verraten! Auch damit hast du Recht! Diese Frau, sie hieß Lucia Brunacci und hat mir…Modell gestanden.“
„Modell gestanden. So nennt man das also.“
„Ja, so nennt man das. Oder besser: So nenne ich das.“
„Und wir nennen das heute GNTM!“ sagte Anselm.
„Was nennt ihr so?“ fragte Feuerbach.
„Na, so einen Schönheitswettbewerb – wie damals bei Paris. Germanys Next Top Model, GNTM. Nur dass die Frauen dünner sind, so richtige Hungerhaken, aber dafür mehr Kleidung anhaben. Und dass nicht unbedingt ein Mann der Hauptjuror ist.“
„Wie – kein Mann, etwa eine Frau?“
„Ja, eine Frau mit Quietschestimme, die jungen Mädchen verspricht, sie könnten Model werden. Das ist wie mit den Selfies!“
„Bitte was, Anselm?“
„Na, mit den Selfies. Fotos, auf denen sich die Menschen selbst abbilden. Sie haben das in ihren Selbstbildnissen gemacht – mit Pinsel und Öl. Heute machen wir das mit einem Handy, tausendmal und tausendfach schneller.“
„Und auch besser? Das bezweifle ich“, meinte Feuerbach.
„Eher nicht. So schnell wie es gemacht ist, ist das Bild auch wieder gelöscht. Da haben Sie und Ihre Malerkollegen schon mehr Aufwand getrieben. Aber was ich noch fragen wollte: Können wir das eigentlich nochmal machen? In so ein Bild einsteigen und…“
„Was? Nackte Frauenkörper betrachten?“
Feuerbach lachte laut auf, klopfte Anselm auf die Schulter und fragte dann:
„Warst du schon einmal auf Rügen?“
„Nein!“
„Dann sollten wir ´mal hin. Aber erst muss ich noch ein Opferfeuer entzünden. Dieser schöne Aschenbecher darf nicht unbenutzt bleiben. Und wer weiß: Vielleicht herrscht auf Rügen überall Rauchverbot. Sogar in der Natur. Man ist ja vor keiner Überraschung mehr sicher.“
Feuerbach steckte sich eine Zigarette an. Fünf Kringel aus Rauch zogen durch den Raum. Anselm blickte ihnen nach.
Sie bildeten die Buchstaben R-Ü-G-E-N.