Der hier besprochene Band enthält acht Geschichten, in deren Mittelpunkt der Rabe Socke steht – alle erzählt von Nele Moost und gezeichnet von Annet Rudolph. Socke hat seinen Namen nach der Fußbekleidung, die in seinem Fall rot-weiß geringelt ist und die er nur am linken Fuß trägt. Wo die zweite Socke geblieben ist, erfahren wir nicht. Damit ist schon fast alles gesagt – aber eben nur fast.
Klar wird schon auf den ersten Blick, dass dieser Rabe nichts mit dem Raben gemeinsam hat, wie er uns in Mythen und in der Literatur begegnet. Dort taucht der Rabe häufig als Begleiter von Hexen, Zauberern und Totengöttern auf, ist ein Todesbote (E.A. Poe, The Raven), ist Folge einer Verwünschung oder Strafe (Die 7 Raben), ist Symbol einer Verwandlung, so etwa in Preußlers Jugendroman „Krabat“, in dem die Lehrlinge des Hexenmeisters in Raben verwandelt werden, wenn sie zu „Zaubergesellen“ werden. Der Rabe steht mit Tod, Gefahr und Schrecken in Verbindung, so wie die zur Gattung der Rabenvögel gehörenden Krähen in Hitchkocks Klassiker „Die Vögel“ (1963).
Von all dem hat Rabe Socke nichts. Vor allem nichts von den wesentlichen Eigenschaften der Rabenvögel, denen ja nicht nur Anpassungsfähigkeit an die Umweltbedingungen, sondern auch ein hoher Grad von Intelligenz zugesprochen wird. Dieser Rabe Socke ist vielmehr von ausgesuchter Naivität, nein – falsch, man muss schon ganz offen von abgrundtiefer Blödheit sprechen. Diese geistige Beschränktheit wird übrigens noch von seiner rücksichtslosen Selbstverliebtheit übertroffen. Ein Beispiel gefällig? Socke lädt Freunde ein und spielt Schule. Er gibt natürlich den Lehrer und eröffnet den Unterricht mit den Worten: „Bei mir lernt ihr rechnen. Da müsst ihr Zahlen malen und am Bleistift nuckeln. (…)Aber zuerst basteln wir für jeden eine dicke große Schultüte, in die ordentlich was reinpasst. Am besten erst mal eine Riesentüte für mich.“ (S. 52)
Im Kosmos, in dem Socke lebt, fallen seine Blödheit und Selbstsucht aber nicht wirklich auf, denn von den anderen im Panoptikum und Pandämonium der Socke-Geschichten auftauchenden Vollpfosten und Honks kann keine als Korrektiv gelten. Was soll man auch schon von Figuren erwarten, die Eddi-Bär oder Stulle heißen, und von einer Welt, in der einfältige Hühner die Schule bevölkern.
Wie dieser Flachpfeifen-Rabe tickt, kann anhand der letzten Geschichte des Bandes exemplarisch verdeutlicht werden (Alles in Ordnung oder Socke macht alles bunt).
Der Hase möchte einen Garten anlegen, und seine Freunde helfen mit und machen sich wirklich nützlich: das Schaf zupft Unkraut und das Wildschwein harkt die Erde glatt. Der Hase hat bestimmte Vorstellungen, wie sein Garten aussehen soll und hat entsprechend Samenkörner besorgt. Diese soll Socke in die Erde einsäen. Wo die einzelnen Körner hin sollen, hat der Hase durch Schilder markiert. Schon nach kurzer Zeit verliert Socke die Geduld und Lust an der Arbeit. Das Aussäen geht ihm nicht schnell genug. Seine Hilfe für den Freund sieht nun so aus: Er schüttet alle Samenkörner in eine Schüssel, vermengt sie und wirft sie schließlich einfach durcheinander auf die Beete. Als dann zur Blütezeit nichts so aus dem Boden sprießt, wie vom Hasen gewünscht, versucht Socke zunächst, den Hasen zu übertölpeln und vertauscht die Schilder. Doch der Hase fällt auf diesen dumm-dreisten Trick nicht rein. Im nächsten Schritt will Socke die Schuld an dem Durcheinander dem Hasen selbst zuschieben. Und dann kommt ihm auch noch die Geistesgröße Eddi-Bär zu Hilfe und sagt, der Garten sei doch jetzt schön bunt. Den endgültigen Tiefschlag versetzt Socke dem Hasen, wenn er selbstgefällig und wichtigtuerisch von oben herab sagt:„Siehste, Löffel, da kannste noch so viel planen. Nur mit mir wird das Leben richtig bunt.“ Im Grunde eine Haltung, die dem Hasen signalisiert: „Wie dein Garten aussehen soll, geht mir doch am Arsch vorbei.“
Und obendrein grinst er noch dabei und pflückt sich, ohne den Hasen zu fragen, gleich einige Blumen.
Nun wird jedes nicht gerade tiefbegabte Kind, das aufmerksam zugehört hat, fragen: Aber Papa, wieso wird denn ein ganzes Buch über den Socke gemacht? Der verhält sich doch meistens schäbig. Und wie der den Hasen behandelt- das hat doch nichts mit Freundschaft zu tun.
Wenn man nicht zu einer Notlüge greifen will, dann muss man wohl sagen: Na ja, das ist doch prima, wenn du erkennst, dass der Socke sich ziemlich daneben benimmt. Dann machst du es halt besser als er und verhältst dich nett zu deinen Freunden.
Und das Kind wird weiter fragen: Aber das mit dem Garten. Der ist doch jetzt ganz wild durcheinander und unordentlich. Das ist doch nicht richtig, oder?
Und wir werden gezwungen sein zu antworten: Das mag schon sein. Ja, aber in der Natur wächst ja auch nicht alles geordnet in Beeten, sondern auf einer Blumenwiese wächst allerlei durcheinander. Das kann auch schön aussehen.
Und dann wird das Kind sicher – nach einer kleinen, aber gewichtigen Pause des scheinbaren Nachdenkens – mit einem maliziösen Lächeln sagen: Dann kann ein Durcheinander also auch was Positives sein?
Und wir werden uns räuspern und einen leichten Schluckreiz bekommen, weil wir ahnen, woraus das hinauslaufen soll. Aber noch bevor wir einen Gedanken formuliert und ihn gar ausgesprochen haben, wird das Kind sagen:
Das ist ja gut. Dann muss ich morgen mein Zimmer nicht aufräumen. Weil ja Unordnung auch mal ganz schön sein kann.
Und der Vater wird stumm nicken.
Dann wird alles gut, wird das Kind sagen und sich dann endlich umdrehen und einschlafen.