Heute mit: Einem Rundflug durch Zeit und Raum in einem Gelsenkirchener Quartier
Ich habe kürzlich Gerhart Hauptmann, Nobelpreisträger für Literatur und bedeutender Autor des Naturalismus („Die Weber“), in Gelsenkirchen getroffen. In einer Pommesbude in Bulmke, nahe dem ehrwürdigen Gauß-Gymnasium. Und eigentlich habe ich bei dieser Gelegenheit dort auch noch Brechts „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ getroffen. Allerdings als Mann, was ja heutzutage im Zeitalter fluider Geschlechtlichkeit nichts Außergewöhnliches sein muss. Natürlich habe ich Hauptmann und die Heilige Johanna nicht wirklich getroffen, aber Menschen aus Hauptmanns Dramen und Romanen und die Heilige Johanna – ins Hier und Jetzt versetzt. Ich war in der Pommesbude mit einem Bekannten verabredet, der dort mehr oder weniger regelmäßig verkehrt („Mittagstisch – mit Vorbestellung“). Der Bekannte hatte gesagt: „Lass´uns mal dort treffen. Du kannst einen Ausschnitt Gelsenkirchener Wirklichkeit erleben.“
Die Pommesbude ist klein, sehr klein – gefühlt sechs Sitzplätze. Der Mann hinter der Theke, ich nenne ihn mal Pommes-Alfons, betreibt die Bude seit Jahren. Er ist eine Art „Heilige Johanna“. Er bietet neben der üblichen Pommes-Buden-Ware (Currywurst, Pommes, Frikadellen etc.) einen Mittagstisch mit wechselnden Gerichten an (freitags natürlich Fisch, Vorbestellung für die Gerichte nötig, Preise zwischen sechs und um sieben Euro). Während unseres Aufenthaltes dort kamen fünf Personen in die Bude. Einer war ein Mitarbeiter der Stadt, der kam, um den Hinterhof („Garten“) zu besichtigen, denn Pommes-Alfons hatte sich über die Zustände beschwert. Der städtische Mitarbeiter war relativ schnell wieder weg. Nach Auskunft der Heiligen Johanna hatte er sich ein paar Notizen gemacht, aber ansonsten gesagt, da kenne er Schlimmeres.
Nun, Johanna führte meinen Bekannten und mich in den Garten. Recht groß, Bäume, Sträucher, Rudimente früherer Beete, Wildwuchs. Vor allem aber: ein Haufen alter Autoreifen, kaputte Möbelstücke, unbrauchbares oder defektes Spielzeug, ein entsorgter Herd, zerfallene Gartenmöbel, halb eingestürzte Schuppen, verstreuter Müll und – die Hauptattraktion – von Ratten angefressene Mülltonnen. Das, was für die Bewohner ein gemeinschaftliches kleines Paradies sein könnte, war zu einer Müllkippe verkommen. Aber es gibt in Gelsenkirchen offensichtlich „Schlimmeres“, wie zu erfahren war. Alfons-Johanna führt seit Jahren einen Kampf gegen diese Zustände. Räumt auf, schreibt an die Stadt, versucht vergeblich, einen Ansprechpartner (Eigentümer) zu finden. Und die Nachbarn: ein Kommen und Gehen, auf monatelange Leerstände folgen, seiner Einschätzung nach, Überbelegungen. Ein nachbarschaftliches Miteinander kann sich nicht entwickeln – nicht nur wegen der Sprachbarrieren, sondern auch wegen der häufig wechselnden Bewohnerschaft und nicht vorhandenem Interesse, aus dem Garten einen Gemeinschaftsraum zu machen, den man Garten nennen kann.
Zurück in die Bude. Nacheinander vier Gäste. Drei Männer, eine Frau. Ältere und alte Jahrgänge. Geh-Hilfen (Krücken), Gehschwierigkeiten, ein Rollator. Vier Hauptmann-Figuren. Vom Leben, von der Arbeit, von der Armut gezeichnet. Keiner bleibt zum Essen in der Bude, alle machen sich mit ihrer „Mahlzeit“, in Plastikschälchen verpackt und in einer Plastiktüte verstaut, auf den Heimweg. Sie kommen aus dem Viertel, sind Stammgäste, reden nicht viel, müssen sie auch nicht, haben wohl auch nicht viel mitzuteilen. Und der Johanna-Alfons weiß, was sie brauchen und wollen. Ein paar aufmunternde Worte, die Tüte mit dem Mittagessen wird über die Theke gereicht. Die Frau lässt anschreiben, was der Mann hinter der Theke ohne Kommentar akzeptiert. Er kennt seine Gäste und weiß, dass die Frau bezahlen wird, wenn sie am Folgetag (dem ersten Februar-Tag) „frisches Geld“ bekommt!
Wir haben unsere Currywurst mit Pommes verputzt, während uns Alfons noch ein paar Handy-Fotos gezeigt hat, die er im „Garten“ geschossen hat. Es sind Dokumente der Verwahrlosung, des Abstiegs, des Niedergangs eines einst belebten Quartiers. An der Ecke war früher mal die Discothek „flash“. Ich habe vor rund 50 Jahren, damals noch Student, eine Zeitlang in dem Quartier gewohnt. Ich gestatte mir einen Anflug von Wehmut, als mein Bekannter und ich uns vor der Bude trennen.
Da war ich Luftlinie einen Steinwurf als Quartiersmanagerin entfernt, Bronnerstraße. 2014 fing alles an. Als mich einheimische Deutschtürken auf der Straße anschrien: “Was tut ihr Deutschland an?” Während ich Hoffeste für die Anwohner mit und beim Fahrradflüsterer organisierte, damit die Nachbarschaft zusammenrückt…bis das Geld alle war.
Zwischer Wanner und Bronner muss dann wohl wieder Verwahrlosung statftinden.
Ich bin als ungehobelter Malocherbengel auf dem C.F. Gauß-Gymnasium positiv sozialisiert worden. Das “Flash” war praktisch gegenüber und als Klopperbude verrufen. Frage mich ernsthaft, ob der Autor des Textes sich dessen bewußt war. Oder war er vielleicht ein Teil der Klopperbande, die das Territorium gegen Unbekannte handfest verteidigt haben? Dieser kleine Aspekt aus meiner Vergangenheit ist auch der einzige Vermouthstropfen in meiner Erinnerung an Bulmke. Damals ein bürgerlicher und lebenswerter Stadtteil. Anders ist es heute, wie man ja in der Geschichte über Pommes-Alfons erfährt. Wenn ich diesen kleinen Alltagsgeschichten aus GE begegne, dann überkommt mich mittlerweile eine seltsame Gefühlsmischung, die mir bis vor weniger Zeit noch fremd war. Fatalismus gemixt mit Sarkasmus und einem Schuss tiefer Verachtung für die Entscheidungsträger dieser Stadt. Egal ob aus Politik oder Verwaltung. Und das ist neu im mich leitenden Gefühlsmix. Verachtung! Das besorgt mich auf der einen Seite, weil es wirklich kein konstruktiver Wesenszug ist Personen oder -gruppen zu verachten. Auf der anderen Seite ist meine Resilenz gegenüber jenen aus SPD/CDU/GRÜNEN/LINKEN/AFD/WIN, die mit ideologisch genährter Einfalls- und Mutlosigkeit den Niedergang verantworten bzw. beschleunigen vollkommen verflüchtigt. Ich glaube weder an eine gute Zukunft für GE, noch an die o.g. Protagonisten in ihren Ämtern, Ehrenämtern, Pöstchen und Hinterzimmern. Glückauf
Ich war kein Discogänger. Im “flash” war ich, meiner Erinnerung nach, bestenfalls einmal. Diese Seite des Rufs, die du schilderst, war mir nicht bekannt, die “Disco” war mir mehr ein Mythos. Mit dem “Flash” verbinde ich nur, dass ein sturzbetrunkener Besucher- während ich im Urlaub war (ohne Auto), meine vor der in der Wohnung in der Bronnerstraße (um die Ecke vom “flash”) geparkt Studenten-Ente rund 20 Meter mit seinem Fahrzeug vor sich hergeschoben hat und die Polizei ihn, weil er später, besoffen wie er war, aufgriff, als er an den Ort der Tat zurückkehrte.Die Ente war verloren. Der Aufstieg begann: R 4.
Danke für die Schilderung deiner Eindrücke und Empfindungen, die ich gut nachvollziehen kann. Bis auf ein paar Arbeitsjahre im Sauerland (Hochsauerland genauer) habe ich hier gelebt (in Gladbeck gearbeitet), meine Kinder sind hier aufgewachsen. Ich romantisiere das “früher” nicht, habe noch die letzten Trümmerreste des Krieges als kleiner Junge gesehen. Manches am “früher” habe ich erst in den letzten Jahren aber bewusst wertschätzen gelernt. Ich fürchte, dass eine Umkehr aus dem Niedergang nicht geben wird.