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In der Wochenendbeilage der WAZ gibt es die Kolumne „Familienbande“. Da präsentieren Redaktionsmitglieder Ereignisse aus dem Familienleben, die sie für witzig, originell oder eben lesenswert halten. Über Jahre wurden diese kleinen Geschichten von der Redakteurin Julia Emmrich verfasst und kamen, zu zwei Bänden zusammengefasst, sogar als Bücher auf den Markt. Wirklich interessiert hat mich diese Rubrik in der WAZ nicht. Als Vater von vier Kindern (und mittlerweile Opa von zwei Enkeln und zwei Enkelinnen) habe ich genug eigene Episoden erlebt, die mein Leben bereichert und oft Anlass für Erheiterung gegeben haben.

Neuerdings lese ich diese Kolumne aber gelegentlich – aus einem recht profanen Grund: Die Rubrik ist von einem (noch jungen) Redakteur übernommen worden, der in der Gelsenkirchener Lokalredaktion tätig und bestimmt ein hipper, woker, auf jeden Fall aber „modernerer“ Vater ist, als ich es jemals gewesen bin!

Für diese Einschätzung war die Kolumne in der heutigen Ausgabe des Blattes  ein schönes Beispiel. Es ging um das Thema St. Martins-Umzug. Gordon Wüllner-Adomako lamentiert in seiner Kolumne mit der doppeldeutigen und leicht ironischen Überschrift „Die brandneue Leitkultur“ über vergangene St. Martinszüge, bei denen er durch „wenig schöne Quartiere“ Essens latschen musste, in Hundehaufen getreten ist, durch Marihuana-Wolken stapfen musste und in Menschenmengen eingequetscht war, aber den St. Martin-Darsteller auf seinem Pferd nicht zu Gesicht bekam. Soweit zum Thema Leidenszeit mit der „Leitkultur“. Was ist an die Stelle getreten bei den Wüllner-Adomakos? Ein „Lichterfest“ im Garten mit Feuerschale, Musik aus Boxen, Marshmallows, Sitzen statt Wandern. Aber Laternen sind trotzdem erlaubt. Das alles mündet in den Begriff „Leitkultur 2.0“.

Deutlicher, finde ich, kann man den Generationen-Unterschied nicht festmachen. Seitdem meine Kinder und Enkelkinder den Kindergarten verlassen haben, war ich auf keinem St. Martins-Zug mehr. In diesem Jahr aber schon! Und dies, obwohl ich keiner Kirche angehöre. Ganz bewusst habe ich zu meiner Frau (katholisch) gesagt: „Lass uns nachher zum Zug von St. Augustinus gehen. Gesicht zeigen!“ Das war mir, wenige Tage, nachdem in unserer Nachbarstadt Essen Menschen durch die Straßen gezogen sind mit der Forderung, ein Kalifat zu errichten, und ihren Hass auf die westliche Lebensart und die Juden herausgeschrien haben, ein Bedürfnis! Zu meiner Leitkultur gehören (Verfehlungen der katholischen Kirche und ebenso der evangelischen hin oder her) neben dem Geist der Aufklärung, den Werten der Demokratie und grundsätzlichen (politischen) Überzeugungen auch die christliche Tradition, die Botschaft der Bergpredigt, die Sprache Luthers, der antinazistische Kampf der „bekennenden Kirche“. Das ist die eine Seite, die grundsätzliche, das Fundament. Das andere ist das Gemeinschaftserlebnis: das Singen dieser intellektuell herausfordernden Lieder (rabimmel, rabammel, rabumm, brenne auf mein Licht usw. usf.), der Gang durch das Viertel mit dem St. Martin an der Spitze, ja- und die vielen selbst gebastelten Laternen, die übrigens seit den Kindergartentagen der eigenen Kinder an Vielfältigkeit, Originalität, Einfallsreichtum und Design noch einmal zugelegt haben. Selten habe ich so viele „individuelle“ Martinslaternen gesehen. St. Augustinus war gefüllt wie sonst nur zu Weihnachten oder Ostern. Nach dem „Martinsspiel“ in der Kirche lief ein sehr langer Martinszug über die Bahnhofstraße und von dort aus zum Kindergarten St. Martin.

Interessant: auch in anderen Stadtvierteln bzw. bei anderen Umzügen, so wurde mir berichtet, waren weitaus mehr Menschen anwesend als in den letzten Jahren. Menschen in den Fenstern hätten den Menschen im Zug zugewunken und umgekehrt, so hörte ich. Ob bei anderen Teilnehmern am Zug  eine ähnliche Motivation bestanden hat wie bei mir, weiß ich nicht und ist auch zweitrangig.

Interessant finde ich aber, dass man bei einem christlich geprägten Anlass auf die Straße geht – just nach einer Machtdemonstration islamischer Judenhasser!

Das ist eben etwas anderes , als bei einem austauschbaren „Lichterfest“ im heimischen Garten dabei zu sein, das bei uns eben nicht in der (schwedischen) Tradition des Lucia-Festes (Lucia -lat.lux/lucis – Licht) steht, sondern ein austauschbares „event“ zu allen möglichen Anlässen ist („Schlagerfest der tausend Lichter“ oder war es das „Lichterfest der 1000 Schlager“?)

Ja, St. Martin ist die Personifizierung einer „Leidkultur“, einer Kultur, die Leid sieht, Leid teilt (wie Martin den Mantel teilt) und insofern „mitleided“ (und dadurch Hoffnung schafft) im Sinne Lessings, der Mitleid einst als die höchste Tugend bezeichnete. Demgegenüber steht eine „Leitkultur“, also eine Kultur „light“ – so wie etwa Cola light oder Joghurt light.

Ich habe übrigens nichts gegen „Lichterfeste“ im Garten – mit Feuerschale, Musik aus der Box, Marshmallows. Die können durchaus heimelig sein, schön, vergnüglich, angenehm, toll für die Kinder. Und wenn man einen fiesen Nachbarn hat, können sie erst recht vergnüglich sein! Daher: machen! Aber sie sind „privat“, nicht öffentlich. Sie stehen nur für sich selbst. Deshalb sehe ich sie nicht als eine Alternative zum St. Martins-Umzug. Der ist öffentlich, nicht privat, kann auch vergnüglich sein. Und zugleich ein Bekenntnis – zum Glauben, zur Nächstenliebe oder zu unserer Kultur und Lebensart.

Und ein Schuss Nonsens, Anarchie und Dadaismus steckt doch auch drin. Oder was soll mir die Zeile „rabimmel, rabammel, rabumm“ denn nun sagen?!

 

 

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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