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Die Migrationsdebatte hat auch Gelsenkirchen erreicht. Vor ein paar Tagen stellte die Stadtverwaltung ihr neues „Projekt“ zu Integration vor. * Heute befindet sich in der Papierausgabe der WAZ eine ganze Lokal-Seite zur Thematik „Migration“ im Kontext der Überlegungen, sechs Westbalkan-Staaten in die EU aufzunehmen. Zunächst werden in einem Beitrag die Positionen des SPD-Bundestags-Abgeordneten Markus Töns breit dargestellt. U.a. lesen wir: „Ich kann die Zukunftsangst in Gelsenkirchen verstehen“, sagt Markus Töns, SPD-Politiker und direkt gewählter Bundestagsabgeordneter aus der Stadt, zu den möglichen Folgen weiterer EU-Beitritte. Sollten die sechs Westbalkan-Staaten tatsächlich Teil der Union werden, dürfe man nicht dieselben Fehler machen wie damals bei dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien, so der Europa-Politiker. Eine solche „Naivität“ wie 2007 dürfe man sich nicht mehr erlauben. „Das wäre politisches Harakiri.“

In einem zweiten Beitrag der WAZ wird ein Gespräch zwischen einem WAZ-Redakteur und dem Regensburger Wissenschaftler Professor Brunnbauer wiedergegeben, der die Ängste, die M. Töns thematisiert, zu beschwichtigen und als weitgehend unbegründet darzustellen versucht. Mit seinen Darlegungen setzen wir uns in diesem Beitrag auseinander.

Unabhängig davon bleibt festzustellen, dass mittlerweile nahezu als Gemeingut die Auffassung anerkannt wird, dass eine Gesellschaft durch  Zuwanderung auch überfordert und nicht nur kulturell bereichert werden und dass Integration auch scheitern kann. Für diese Position wurde man vor nicht allzu langer Zeit gerne noch als Rechtsextremist oder Nazi abgestempelt. Mittlerweile sind offensichtlich etliche naive Blütenträume an der WIRKLICHKEIT ZERSCHELLT! Ebenso wird nicht mehr geleugnet, dass es auch „Armutsmigration“ gibt, also eine Einwanderung in unsere Sozialsysteme.

Nun aber ein Stück „VERRÜCKTE WISSENSCHAFT“:

„Der verrückte Wissenschaftler (engl. „mad scientist“) ist eine literarische Figur, ein Rollenfach oder Stereotyp der Popkultur. Er tritt in RomanenComicsFilmenFernsehserien und Computerspielen auf.“ (WIKIPEDIA)

Diese stereotype Figur („verrückter Wissenschaftler“) gibt es aber auch im echten Leben! Jetzt sogar in Gelsenkirchen. In Gestalt eines lebendigen Professors, der zwar Brunnbauer heißt, aber trotzdem „Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- für Südosteuropaforschung“ ist. In Regensburg! In Regensburg, wo es die bekannten Domspatzen von den Dächern pfeifen, dass der Mann ein „Experte“ ist, was die WAZ-Lokalredaktion bereits in der Hauptschlagzeile des Beitrags bestätigt:

Experte: Armutsmigration wird sich wohl nicht wiederholen“ (19.10.23) Dass er ein echter Professor und Experte ist (und im Nebenberuf wahrscheinlich Spaßvogel), zeigt sich sofort daran, dass er die These der Hauptschlagzeile gleich wieder ein wenig einfängt, wenn er sagt: „Natürlich kann ich mit der Prognose auch falschliegen, aber wenn ich auf die bisherigen Migrationsströme aus den Ländern schaue, halte ich so eine Entwicklung nicht für besonders plausibel.“ Was mich an das Zitat über Prognosen erinnert: „Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.“

Die Begründung für seine Annahme sieht er darin, dass vom Westbalkan schon viele Menschen zu uns gekommen sind (Westbalkan-Regelung), weswegen er die These aufstellt: „Wer unbedingt auswandern wollte, hat das also vermutlich bereits getan.“ Die Grundlage für die Prognose ist eine Vermutung, also eine ungesicherte Annahme. Nun kann man natürlich auch vermuten, dass diejenigen, die bisher auf der Basis der Westbalkan-Regelung zu uns gekommen sind, in den Arbeitsmarkt eingewandert sind, denn diese Regelung bestimmt den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt nach „§ 26 Absatz 2 der Beschäftigungsverordnung“ und ist an enge Kriterien gebunden (es geht um den Zuzug von Fachkräften). Die Aufnahme der Westbalkan-Staaten in die EU würde aber die Inanspruchnahme des Rechts auf Freizügigkeit beinhalten und den Zugang zu Sozialleistungen erleichtern, was natürlich, so kann man vermuten, zu einem vermehrten Zuzug in die Bundesrepublik führen wird (Armutsmigration).

Die Frage des WAZ-Redakteurs, ob auf dem Westbalkan die Roma besser behandelt werden als in Rumänien und Bulgarien, weswegen man vermuten könne, dass in diesem Fall weniger von ihnen nach Deutschland ziehen werden, beantwortet der Experte mit dem Hinweis, „historisch ist der Grad der Integration der Roma in den Westbalkan-Ländern definitiv höher, ja.“ Nun ist WIKIPEDIA kein wissenschaftliches Lexikon oder Sachbuch, aber man kann trotzdem mal nachschlagen. Und was die Integration der Roma angeht, liest man über den Beitritts-Kandidaten NordMazedonien folgendes:

Nach dem Zerfall Jugoslawiens ging Nordmazedonien als eines der ärmsten Länder Europas heraus. Vor allem die Roma-Minderheit rutschte weiter in die Armut. Viele Roma sind arbeitslos oder im informellen Sektor tätig, die Bildung ist niedriger als bei Mazedoniern und Roma sind immer wieder Opfer antiziganistischer Diskriminierung. (…)

Die meisten Roma leben (…) in Opština Šuto Orizari, einer Vorstadt von Skopje, der auch von den Roma Shutka genannt wird. Dort machen Roma die große Mehrheit aus. Offiziell leben in Opština Šuto Orizari 17.000 Menschen (Zensus 2002), die geschätzte Einwohnerzahl reicht bis 80.00. (…) Opština Šuto Orizari wird daher auch „Hauptstadt der Roma“ genannt. Ein Großteil der Bewohner lebt in slumartigen Behausungen in großer Armut.

Man kann das aber auch weniger „nett“ formulieren, nämlich so: „Besonders hoffnungslos ist das Leben in Shutka, einem Stadtviertel am Rande der mazedonischen Hauptstadt Skopje, auch bekannt als dasgrößte Ghetto in Europa. Mindestens 20.000 Roma wohnen dort. Jeder mit dem gleichen Ziel: bloß weg. Oder auch bloß wieder weg. Denn viele haben schon einmal in Deutschland gelebt.“***

Ein kurzer Blick nach Serbien, denn es soll nicht bei einem Einzelbeispiel bleiben. Die „Bundeszentrale für politische Bildung“ nennt die Roma Serbiens „unsichtbare Bürger“ und formuliert ohne Umschweife: „Das Leben der meisten Roma in Serbien ist geprägt von Rassismus, Diskriminierung und schwierigen wirtschaftlichen Umständen. In einem Land, in dem 20 Prozent aller Bürger unter der Armutsgrenze leben, gehören Roma meist zu den Ärmsten der Armen.“****

Dann noch kurz nach BiH. Dort wird es bestimmt so sein, wie unser Institutsdirektor aus Regensburg es ausmalt, oder? Beim „Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ können wir über Bosnien und Herzegowina und die Roma lesen:

Besonders stark von Diskriminierung betroffen sind die etwa 58.000 Roma. Ihr Zugang zu Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung und Beschäftigung ist schlecht. Zwei Drittel der Roma haben keine Krankenversicherung; ihre Sprache Romani wird in den Schulen nicht als Wahlfach angeboten. Während der Corona-Pandemie waren Roma-Kinder besonders benachteiligt. Da ihre Familien meist nicht über die nötige technische Ausstattung verfügen, konnten viele von ihnen während der Schulschließungen nicht am virtuellen Unterricht teilnehmen.“*****

Die „Annahme“ des Professors steht also auf sehr wackeligen Füßen, denn der Realitätsbezug der Aussage von der „besseren Integration“ der Roma in Westbalkan-Staaten ist doch eher zweifelhaft. Und die Entscheidung, nach einem Beitritt des eigenen Landes in die EU in Richtung Westeuropa, speziell nach Deutschland zu ziehen, ist wesentlich von der sozialen Lage bestimmt und davon, ob bereits Familienangehörige am Zuzugsort leben. Die Frage, ob die Roma in den beitrittswilligen Ländern besser gestellt sind als etwa in Kroatien, ist rein akademischer Natur, hat für die Wanderungsbewegung so gut wie keine Bedeutung!

 Im letzten Teil des Interviews geht es um die grundsätzliche Bedeutung des Beitritts der Westbalkan-Staaten zur EU. Hier hören wir zwei Positionen. Die eine, etwas verklausuliert, sagt nichts anderes, als dass die Westbalkan-Staaten für Europa geopolitisch wichtig sind als „Außenposten“ gegen den wachsenden Einfluss Chinas und Russlands. Hier könnte man eine Verknüpfung mit der Rolle der Ukraine herstellen, was aber nicht erfolgt. Der zweite Aspekt ist die Bedeutung des EU-Beitritts für politische Reformen in den Westbalkan-Staaten selbst. Hier stellt Ulf Brunnbauer die These auf, der Beitritt würde nicht nur „für wirtschaftliches Wachstum in der Region“ sorgen, sondern auch die „Verhältnisse vor Ort grundsätzlich verändern – hinsichtlich der Korruption, der löcherigen Staatsstrukturen. Es kann nur im Interesse der Europäischen Union liegen, die Strukturentwicklung dort voranzutreiben.“

Konstatieren wir also, dass der Herr Professor meint, die EU werde in den Westbalkan-Staaten dazu beitragen, dass dort die Korruption geringer wird, die staatlichen Strukturen sich aber verfestigen. Das sollte die Frage aufwerfen, ob die EU, die schon genügend Probleme mit sich selbst hat und in der seit geraumer Zeit größere Konflikte offensichtlich geworden sind, etwa in der Migrationsfrage, gegenwärtig Länder aufnehmen soll (oder ihnen eine Aufnahme versprechen soll), die die Problemlage in der EU vergrößern, zumal es bei den Beitrittskandidaten reichlich interne Probleme gibt (etwa in Bosnien und Herzegowina die nationalistischen Tendenzen  in der serbischen Teilrepublik und das Problem der  „Muslimisierung“ der bosnischen Teilrepublik), aber auch zwischenstaatliche Probleme (Kosovo-Konflikt). Und von der finanziellen Dimension (die armen Länder werden zu den „Netto-Nehmer-Ländern gehören) einmal ganz abgesehen.

Was bleibt also von unserem Experten? Einige flüchtig hingeworfene Thesen, zweifelhafte (brüchige) Annahmen, eine anscheinend eher eingeschränkte Kenntnis der Lage der Roma in den Westbalkan-Staaten und ein Ausblenden der politischen Konflikte innerhalb der Staaten und zwischenstaatlich.

Es bleiben zunächst zwei Fragen:

Haben die Beiträge des Instituts-Direktors vielleicht nur Funktion eines Sedativums, weil uns hier die Sorge genommen werden soll, es sei mit weiterem Zuzug und einer Zunahme von Problemen durch Migration aus den Westbalkan-Staaten  zu rechnen?

Warum fragt der WAZ-Redakteur nicht an einer Stelle mal nach, etwa bei der These, die Roma seien in den Westbalkan-Staaten besser integriert?

Aber es ist ja gut, wenn man mal miteinander geredet hat! Und wann hat man schon einmal die Gelegenheit, mit einem „Direktor“ zu sprechen, der aus einer Stadt kommt, an deren Universität einst der spätere Papst Benedikt XVI. gelehrt hat.

Da müssen die Weisheiten nur so sprudeln!

*siehe dazu den Beitrag O SANCTA SIMPLICITAS in HerrKules

***https://www.dw.com/de/mazedonien-leben-im-größten-ghetto-europas/video-16671567#:~:text=Besonders%20hoffnungslos%20ist%20das%20Leben,dem%20gleichen%20Ziel%3A%20bloß%20weg. (Hervorhebung in Fettdruck durch mich, BM)

****https://www.bpb.de/themen/europa/sinti-und-roma-in-europa/179558/eine-reportage-aus-serbien-die-aermsten-der-armen-sind-die-roma/

******https://www.bmz.de/de/laender/bosnien-und-herzegowina/soziale-situation-70858

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Dir.Niew.

Mit Verlaub – dieser „Professor“ ist ein Vollidiot. Und die Politiker in der EU machen auf mich auch keinen besseren Eindruck….

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Ro.Bien.

Wir wollen doch bitte den Kosovo nicht außen vor lassen. Wenn seinerzeit (2017) die Waz lokal auf meiner Roma-Veranstaltung gewesen wäre (200 Mulitplikatoren) – aber damals gab es Sinan und Gordon noch nicht – hätten sie sich mit einem richtigen Experten unterhalten können. Den hier:
https://www.medico.de/nicht-verfolgt-aber-diskriminiert-16495?fbclid=IwAR1AxelKKDdtsui_UlgVuA7HOITe2j-tBf_k9P505VaaaxpkEw7CwvozBpE

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And.Gill.

Zwei Fragen stellen sich mir, wieviel Projekte zur Integration gab es denn schon in dieser Stadt? Und hat ein Land wie Serbien, welches jetzt ein Freihandelsabkommen mit China geschlossen hat, seinen EU Beitritt verwirkt?

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Heinz Niski

Als Kontrapunkt, um Geschwindigkeit aus der Thematik zu nehmen:

https://youtu.be/uttZUfRhbHE?si=mDtBaLOUi6rm7XHK

und

https://de.wikipedia.org/wiki/Djelem,_djelem

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sandy.png
Ro.Bien.

ham se in Gelsen bis heute nicht hingekriegt. Bulgaren/Rumänen/Romavereine. Andererseits: Frag mal, was aktuell in der Dortmunder Nordstadt los ist – bei Leuten die da arbeiten – gerade im Bereich Soziokultur.

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Gor.Wüll.Ado.

Berechtigte Kritik. Die Debatte hat gerade erst angefangen.

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Heinz Niski

Die Debatte läuft seit 1995 und die Politik will einfach in ihrem Traumland bleiben und erzählt Märchen über „gelingenden“ Korruptionsabbau, Demokratisierung, Wohlstand für alle. Allenfalls ein „.. ja, da waren wir etwas naiv“ ist zu hören, verbunden mit einem „aber jetzt wissen wir ja, wie man es besser machen kann,“ der Artikel ist der beste Beleg dafür, dass Wunschdenken statt Analyse die „Debatte“ bestimmt und dass die Entscheider kein Interesse haben, die Lebenssituation hier vor Ort zur Kenntnis zu nehmen.

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Ali-Emilia Podstawa

Nun, ein „Vollidiot“ ist er wahrscheinlich nicht. Im Bezug auf die ihm gestellten Fragen ist er aber offensichtlich kein Experte, sondern ein Wünsch-Dir-Was’ler. Deshalb die Bitte an die WAZ-Redaktion, einem weitgehend uninformierten Hochschullehrer vom anderen Ende der Republik nicht voreilig den Expertenstatus zuzusprechen. Die Aussagen dieses ahnungslosen Schwätzers müssen in den Medien viel deutlicher als realitätsfremder Schwachsinn gekennzeichnet werden.
Als ich letztens mit einem interessierten Nürnberger über diese speziellen Probleme mit dem Missbrauch der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit sprach, sagte er wörtlich: „Das hab ich ja noch nie gehört.“ Selbst in den unmittelbaren Nachbarstädten von GE ist die Lage nur bei ganz wenigen Leuten angekommen; häufig bei Leuten mit „neuen Nachbarn“ und bei Trägern von sozialen Projekten mit Kindern und Jugendlichen, sowie bei den Mitarbeitern in den Jugendämtern. Dort herrscht seit Jahren Hoffnungslosigkeit vor, dass die Situation sich jemals bessern könnte.
Den Abriss einer Stadt als „Zukunftsinitiative“ zu framen – so, wie es nun die derzeit Zuständigen Amtsträgerinnen auf Landes- und Kommunalebene tun – gehört in die Abteilung „Bürgerverdummung“. Es soll ja nun auch wieder nur durch Steuergeldverschwendung ein Problem zugeschüttet werden, das auf einer viel höheren Entscheidungsebene verursacht wurde. Das Reaktionsmuster ist kaum mehr zu ertragen.

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Ro.Bien.

Neben der Verelendung und Seggregation diverser Stadtteile durch das Verschwinden von Stahl und Kohle in verschiedene Parallelgesellschaften, hat die Roma-Invasion 2013/14 genau dorthin begonnen. Es hat 10 Jahre gedauert, bis alle, die damals schon wussten, was hier an mafiösen Strukturen bis heute noch funktioniert, nicht mehr grundsätzlich als Nazis und Rassisten beschimpft werden.

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Heinz Niski

Ruhrbarone über Europa & Armutswanderung ins Ruhrgebiet:
https://www.ruhrbarone.de/markus-toens-und-die-grosse-vergesslichkeit-der-spd/225398/

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