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„Müssen“ gehört zu den Modalverben, somit zu der Gruppe von Verben, die dazu dienen auszudrücken, dass wir etwas tun sollen oder können – aus Notwendigkeit oder Möglichkeit.Eine Notwendigkeit markieren die Verben müssen, sollen und wollen, wogegen die Verben dürfen, können und mögen verschiedene Arten von Möglichkeiten signalisieren.

Im DUDEN finden wir:

müs·sen unregelmäßiges Verb

1a.

einem [von außen kommenden] Zwang unterliegen, gezwungen sein, etwas zu tun; zwangsläufig notwendig sein, dass etwas Bestimmtes geschieht

„sie muss um 8 Uhr im Büro sein“

1b.

aufgrund gesellschaftlicher Normen, einer inneren Verpflichtung nicht umhinkönnen, etwas zu tun; verpflichtet sein, sich verpflichtet fühlen, etwas Bestimmtes zu tun

„sie musste heiraten (sah sich dazu gezwungen, weil sie ein Kind erwartete)“

Setze ich also das Verb „müssen“ ein, signalisiere ich, anders als beim Verb „können“, einen äußeren Zwang, dem ich unterliege, oder eine innere Verpflichtung, der ich folge. Bei der Lektüre der heutigen Ausgabe einer Regionalzeitung ist mir zweimal in politischen Kontexten (Beiträgen) das Wort „müssen“ begegnet.

Beispiel 1: Flüchtlingskrise

In einem Kommentar zur „Flüchtlingskrise“ und zum Besuch der Kommissionspräsidentin von der Leyen auf Lampedusa lautet der Schlusssatz: „Die EU muss mehr Gerechtigkeit in den Nachbarregionen schaffen – statt vor allem Politik für Europa zu machen.

Ist das so? Zunächst: Einem äußeren Zwang (siehe oben 1 a) unterliegt die EU in diesem Fall nicht, wohl schon eher, so scheint es gemeint zu sein, einer „inneren Verpflichtung“ (siehe 1b), im Grunde einer gesellschaftlichen Norm folgend.

Aber warum sollte das so sein? Kann man es nicht genau umgekehrt formulieren, nämlich so: Die EU hat in erster Linie Politik im Interesse der ihr zugehörigen Staaten und deren Bevölkerung, also der Gesamtheit der Bürger der EU, zu betreiben. Wieso muss die EU auch noch „mehr Gerechtigkeit in den Nachbarregionen schaffen“, unabhängig davon, wie der Begriff „Nachbarregion“ zu definieren ist. Eine Nachbarregion der EU ist auch Russland, ebenso ist Nordafrika eine Nachbarregion der EU und nur wenige Kilometer durch das Mittelmeer von der EU getrennt. Eine Nachbarregion sind sicherlich nicht bestimmte Regionen Afrikas und Asiens, etwa die rund 50 Staaten der Sub-Sahara oder Staaten wie Afghanistan und Syrien. Aber gegenwärtig gelangen besonders viele Menschen, die sich aus der Sub-Sahara auf den Weg gemacht haben, mit Booten nach Italien. Insofern ist der Begriff „Nachbarregionen“ nicht stimmig und der gegenwärtigen Lage nicht angemessen.

Aber das finde ich eigentlich zweitrangig. Es geht mir um das „müssen“.  Woher kommt der Anspruch, wir Europäer seinen verpflichtet, in anderen Ländern „Gerechtigkeit“ zu schaffen. Und welche Gerechtigkeit? Ist hier der gleiche Lebensstandard der Bürger des jeweiligen Landes gemeint oder der Länder und Staaten untereinander– der übrigens in der EU selbst unterschiedlich ist? Ist hier ein innerer sozialer Friede gemeint, eine funktionierende Justiz, ein entwickeltes Gesundheits- und Schulwesen, eine funktionierende Demokratie? Und warum diese Verpflichtung? Aus Menschlichkeit oder weil einige der „Nachbarländer“ Kolonien europäischer Staaten waren? Woher kommt diese Überheblichkeit zu meinen, wenn wir diesen Ländern unsere Vorstellung von „Gerechtigkeit“ bringen, könnten wir verhindern, dass sich die Menschen auf den Weg nach Europa machen?

Und andersherum gefragt: Hat Europa, wie auch jeder einzelne Staat der EU, nicht das Recht zu bestimmen, wer den Boden des Kontinents oder des Staates betritt?  Warum müssen wir jeden aufnehmen, der zu uns kommt, auch wenn er offensichtlich nicht politisch verfolgt ist und in dem Herkunftsland kein Krieg geführt wird?

Ist es nicht vielmehr so, dass die Probleme der EU wachsen, weil sie keine Lösungen findet, die Interessen ihrer eigenen Bürgerinnen und Bürger zu verfolgen? Weil sie aus „humanitären“ Gründen, letztlich aber aus Opportunismus und politischem Versagen, ihre eigenen Regeln der „Flüchtlingspolitik“ mit Füßen tritt und den Eindruck erweckt, hier handele man für die ganze Welt nach dem Motto des Advent-Liedes „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ aus dem 17.Jahrhundert?

Die in dem imperativischen „müssen“ des Kommentars zum Vorschein kommenden Anmaßung (Europa als Gerechtigkeitsbringer) kaschiert die Problematik des Umgangs mit Flüchtlingen und der Anwendung humanitärer Grundsätze . Zugleich werden die berechtigten Eigeninteressen der Staaten der EU nicht zum Thema gemacht. Nein, wir müssen nicht „müssen“!

Beispiel 2: Der Krieg

Das zweite „müssen“ taucht in einem Interview mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf. Das Interview handelt Fragen ab, die im Laufe des Krieges gegen die Ukraine bereits mehrfach gestellt worden sind. So etwa Fragen zur Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, zur Lieferung von Waffen, besonders zu Taurus-Marschflugkörpern, zur Rolle der USA, falls Donald Trump noch einmal Präsident werden sollte. Sattsam bekannte Fragen, sattsam bekannte Antworten – halt die Kunst der rhetorischen Unverbindlichkeit, des Ausweichens, des Wiederholens. Interessant aber das „müssen“ und seine Verwendung. Es findet sich in Bezug auf eine Frage zur Beendigung des Krieges. Hier sagt Stoltenberg: „Die meisten Kriege dauern länger, als bei ihrem Ausbruch erwartet wurde. Deswegen müssen wir uns auf einen langen Krieg in der Ukraine vorbereiten.“

Abgesehen davon, dass dieser Krieg nicht einfach so „ausgebrochen“ ist, sondern voraussehbar und wohl auch einkalkuliert war, und abgesehen davon, dass hier durch die Hintertür angedeutet wird, dass Russland nicht bald besiegt sein wird (welche erreichten Ziele auch immer „Sieg“ definieren), werden wir hier durch das „müssen“ darauf eingeschworen, uns damit abzufinden, noch sehr lange an der Seite der Ukraine in der kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland zu stehen. Das heißt nicht erster Linie, mit eigenen Soldaten auf dem Schlachtfeld zu agieren, sondern etwas anderes, das Stoltenberg später im Interview offenbart, nämlich eine Rückkehr des Kalten Krieges. Indem er diese Vokabel verwendet, macht er im Grunde genommen deutlich, dass der Krieg in der Ukraine nur ein Teilgefecht ist in einer Auseinandersetzung zwischen dem Osten (Russland) und dem Westen (NATO mit USA) und China als dem neuen großen Kontrahenten (Konflikte im südchinesischen Meer). Dieser Kontext lässt ihn zu einem weiteren „muss“ kommen. Wenn der Westen in dieser Auseinandersetzung bestehen will, so sagt er, müssten wir mehr für „unsere Streitkräfte“ ausgeben, also  „etwa drei bis vier Prozent der Wirtschaftsleistung“, was dem Doppelten dessen entspricht, was die gegenwärtige Beschlusslage vorsieht (2%). Unter Bezug auf den Kalten Krieg und die drei bis vier Prozent-Marke, sagt Stoltenberg: „Wir haben das damals geschafft – und wir müssen es heute wieder schaffen.“ Das gemeinschaftsstiftende WIR deutet im Zusammenhang mit der Verwendung des „müssen“ darauf hin, dass „wir“ uns im Sinne einer „inneren Verpflichtung“ (siehe oben 1b) darauf einzustellen haben, dass hinter den Ausgaben für das Militär nach Stoltenbergs Ansicht andere Bereiche (Gesundheit, Bildung, Infrastruktur) zurückstehen müssen.

Eine globale Auseinandersetzung um die Macht in der Welt mit den großen Playern Russland, China und den USA „muss“ Rückwirkungen auf den Bundeshaushalt haben. Soziale Belange (Bildung, Schule, Gesundheit) „müssen“ zurückstehen hinter den militärischen Forderungen und dem Aufbau einer Drohkulisse., so Stoltenberg nüchtern. Diplomatie, eine Kultur des Diskurses, Verhandlungen als Lösungsstrategie für Konflikte scheint es nicht zu geben. Insofern ist es geschichtsverfälschend, wenn Stoltenberg sein „muss“ an den Namen Willy Brandt koppelt und ihn, nebst Konrad Adenauer, der in Verhandlungen mit Russland die letzten Gefangenen heimholte und die Versöhnung mit Frankreich vorantrieb, als „Kronzeugen“ für sein „muss“ aufruft. Willy Brandt sagte anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1971:

Niemand sollte übersehen: Die westeuropäische Einigung, an der wir aktiven Anteil haben, behält für uns Priorität. Das Atlantische Bündnis ist für uns unverzichtbar. Aber nicht nur die allgemeine weltpolitische Entwicklung, sondern auch die besondere Realität der Westverträge erfordern deren Ergänzung durch gute, normale, nach Möglichkeit freundliche Beziehungen zur Sowjetunion und ihren Partnern im Warschauer Pakt. Darin bin ich mir einig mit Präsident Pompidou, mit den Premierministern Heath und Colombo, mit all unseren Freunden und Verbündeten.“

Sätze wie diese klingen heute wie eine verstaubte Utopie aus einer fernen Zeit. Und der Verfasser dieser Sätze würde heute als Putinist, Verräter an der Sache der Ukraine und des Westens und als Rechtfertiger des russischen Angriffskrieges verleumdet.

Nein, wir müssen nicht! Wir müssen uns nicht zu Geiseln in einem Spiel machen lassen, auf dessen Spielfeld andere Interessen eine Rolle spielen als die, die uns genannt werden!

Quelle: WAZ; 18.9.23

Christian Unger, Europa trägt Verantwortung

Jochen Gaugele/Christian Kerl: Interview mit Jens Stoltenberg

 

 

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Ro.Bien.

Woher kommt der Anspruch, wir Europäer seinen verpflichtet, in anderen Ländern „Gerechtigkeit“ zu schaffen.
Kolonialisierung? https://www.augsburger-allgemeine.de/politik/alle-kolonien-von-deutschland-wann-und-welche-gab-es-id63943906.html?fbclid=IwAR1iBApTpFdv6iW_rW5nrBZqT_Jm5_s9nqtadz7qYCNohIwDbU43zSYfa0Y

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