0
(0)

„Viele, wenn nicht sogar die meisten dieser Mädchen, haben hinterher wirklich große Schäden an ihrer psychischen Gesundheit erlitten. Einige von ihnen kommen nie wieder davon los. Ihr Leben wird sich völlig verändern. Sie werden alles verlieren. Ihr Zuhause wahrscheinlich, ihre Familie. Frauen, die jetzt ernsthafte Essstörungen haben. Nur weil sie mit Rammstein zu tun hatten“, so Lynn. Im Zusammenhang mit der Band sprach sie von „systematischem Missbrauch“ und zahlreichen Betroffenen. „Es sind nicht 10, es sind nicht 50. Ich weiß es nicht, aber es könnten Tausende sein“, mutmaßte die Irin.“ ***

 Shelby Lynn, die erste Frau, die mit Vorwürfen gegen die Band Rammstein und besonders Sänger Till Lindemann an die Öffentlichkeit gegangen ist, äußerte diese Sätze anlässlich einer Veranstaltung in Berlin (Treffen der „Frauen 100“) ****. Interessant daran ist, dass kein einziger Vorwurf konkretisiert wird im Sinne einer möglichen Straftat oder eines Machtmissbrauchs, sondern dass sich Frau Lynn ausgesprochen vage äußert (Frauen, die mit Rammstein zu tun hatten). Diesem Mangel an Konkretheit entspricht die (unbelegte) gr0ße Zahl im konjunktivischen Sprachgebrauch (es könnten Tausende sein).

Was die Causa Rammstein angeht, haben wir die Wiederkehr eines bekannten Musters erlebt, nämlich die wellenförmige Ausbreitung und Erhitzung eines Themas in den sozialen Medien. In rasender Geschwindigkeit gibt es eine breite, geradezu explosionsartige Befeuerung eines Themas mit tausenden von Meinungsäußerungen, die einhergehen mit einer Berichterstattung in den „klassischen“ Medien (Fernsehen, Presse). Mehr oder weniger rasch ist ein Peak erreicht, die Kurve des Interesses verflacht und läuft schließlich aus, ganz der Liedzeile entsprechend: „Schon ist der Moment vorbei“. Dies schließt eine punktuelle, sehr kurzfristige Wiederkehr des Themas in einem „Nachklapp“ nicht aus.

So ist wohl die (eher schmale) Berichterstattung über die Veranstaltung mit Frau Lynn auf der Dachterrasse des Berliner „Hotel de Rome“ auf Einladung des Vereins „Frauen 100“ einzuordnen. Und auch der Beitrag in der WAZ v. 29. Juli 2023 („Panorama“), in dem eine Psychologin den Mechanismus erklären soll, der dazu führt, dass die Konzerte von RAMMSTEIN ausverkauft sind, also die Fans zu Rammstein „halten“. *****

Der Beitrag selbst bringt in der Sache, also den Vorwürfen gegenüber der Band, selbst nichts Neues, nichts Konkretes, nichts, was gerichtsverwertbar ist. Er lässt aber eine etwas, ich sage mal ganz vorsichtig, eigentümliche Auffassung der Redakteurin hinsichtlich unseres Rechtsstaates aufleuchten, wenn sie einleitend sagt: „Trotz der Vorwürfe gehen Anhänger der Band weiter auf Konzerte, beschuldigen die Frauen zu lügen und pochen auf die Unschuldsvermutung.“ ******

 Mich stören hier zwei Aspekte: nämlich die Generalisierung, wenn von den „Anhängern“ (und „Anhängerinnen“?), die alle Frauen der Lüge bezichtigen, gesprochen wird, vor allem aber die Formulierung vom Pochen auf die Unschuldsvermutung. Hier scheint mir, bei aller Vorsicht, doch ein recht wackeliges, unausgegorenes und letztlich auch gefährliches Verständnis eines zentralen Elements unserer Rechtsordnung vorzuliegen. Die Unschuldsvermutung ist ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung und eine historische Errungenschaft, weil sie den staatlichen Organen der Strafverfolgung die Pflicht auferlegt, im Verfahren die Strafbarkeit eines Handelns und die persönliche Verantwortung des Handelnden nachzuweisen. Es geht nicht darum, die Strafwürdigkeit eines Handelns (oder einer Unterlassung) „wegzudiskutieren“, sondern vielmehr darum, sie eindeutig nachzuweisen. Es muss also niemand auf die „Unschuldsvermutung“ pochen, sondern es geht um die Inanspruchnahme und Durchsetzung eines grundlegenden Rechtsprinzips.

Dass wir alle im Einzelfall für dieses Prinzip eventuell gelegentlich kein Verständnis haben, kann ich durchaus nachvollziehen – wir sind uns oftmals sicher, dass jemand Schuld auf sich geladen hat, weil es so eindeutig ist oder zu sein scheint. Wenn man dieses Prinzip aber einmal aufgibt, öffnet man einer Willkürjustiz (und sogar der Lynchjustiz) Tür und Tor.

Die von der WAZ befragte Psychologin scheint ebenfalls das Prinzip der „Unschuldsvermutung“ eher locker zu sehen. Sie wirft nämlich den Fans, besonders den weiblichen Fans vor: „Die Frauen verhalten sich dahingehend ein bisschen wie der verlängerte Arm des Patriarchats. Indem die Frauen die Vorwürfe nicht hinterfragen, sich nicht distanzieren oder etwas dagegensetzen, sagen sie ´Ja ´ zu einem patriarchalen System, zu missbräuchlichen und gewalttätigen Verhaltensweisen.“

Hier werden (weibliche) Fans, die zu Konzerten gehen, (verbal) zu Handlangerinnen von Missbrauch und Gewalt gemacht, die sich dem „patriarchalischen System“ unterwerfen. Diese Vorwürfe, Erklärungsmuster will ich das nicht nennen, setzen bereits das Prinzip der Unschuldsvermutung außer Kraft, wobei die Psychologin sogar noch einen Schritt weiter geht, wenn sie ausführt: „Es gibt aber auch sehr viele Frauen, die unbewusst diese Strukturen unterstützen, weil sie einen Vorteil davon haben. Ihnen wird durch die Unterstützung zum Beispiel ein höherer Status, Geld, Zuneigung oder irgendetwas anderes zuteil.“

Etwas zugespitzt heißt das: Frauen, die jetzt noch zu Rammstein-Konzerten gehen, unterstützen (unbewusst) die patriarchalischen Strukturen und tun dies, weil sie sich, auf verschiedenen Ebenen, Vorteile davon versprechen.

Die Frau Psychologin macht es sich einfach mit ihrem Verdammungsurteil, aber sie macht es sich auch einfach mit dem Urteil über die Texte und die Musik von Rammstein, die allerdings wohl (unbewusst?) Ausgangspunkt ihrer „Analyse“ sind, wenn sie über Rammstein und die Fans sagt: „Es gibt also einen Teil in ihnen, der sich mit dem identifiziert, was Lindemann auf der Bühne sagt. Eine ähnliche Haltung gegenüber Leben und Menschen. Die Verherrlichung von Gewalt zum Beispiel.“

Nun, ich bin weder Rammstein-Experte noch Rammstein-Fan. Ich finde, wie auch bei vielen anderen Musikgruppen, manche Lieder gut, andere eher nicht. Ein Rammstein-Konzert könnte ich wahrscheinlich wegen der Lautstärke nicht aushalten. Aber das Werk der Gruppe auf einen Aspekt zu reduzieren (Verherrlichung von Gewalt) ist schon etwas fahrlässig. Es passt aber hier gut zu den ausgebreiteten „Erklärungsmustern“, die übrigens an keiner Stelle auch nur minimal etwas Neues zu den Vorwürfen beitragen, sondern ihre gerichtsfeste Wahrhaftigkeit einfach unterstellen. Ob das der Wahrheitsfindung dient und den Frauen, die tatsächlich zu Objekten sexualisierter Gewalt geworden sind, nützt, steht auf einem anderen Blatt.

Vielleicht wird die Zeit es richten!

Ich liege hier in deinen Armen
Ach, könnt es doch für immer sein
Doch die Zeit kennt kein Erbarmen
Schon ist der Moment vorbei

Zeit, bitte bleib stehen, bleib stehen
Zeit, das soll immer so weitergehen
Zeit, es ist so schön, so schön
(Rammstein, Zeit)

***Quelle:   https://www.merkur.de/deutschland/berlin/news-rammstein-till-lindemann-vorwuerfe-shelby-lynn-rede-berlin-missbrauch-92429094.html  (Münchener Merkur/merkur.de, 29.7.23, Hervorhebung im Fettdruck durch mich)

 **** FRAUEN 100: „Die Initiative FRAUEN 100 wurde 2021 gegründet, um starke und einflussreiche Frauen aus unterschiedlichen Branchen zu vernetzen und Themen in den Vordergrund zu stellen, die für Frauen besonders relevant sind. Inzwischen ist FRAUEN 100 das wohl wichtigste Frauennetzwerk Deutschlands.“ (Quelle: Webseite https://www.frauen100.com)

***** Eine Kleinigkeit am Rande: In der Unterschlagzeile der WAZ heißt es, die Konzerte der Band wären „gut besucht“. Im Artikel ist dann korrekt zu lesen, dass die Konzerte, auch die in Berlin, alle ausverkauft sind bzw. waren.

****** (WAZ, Hervorhebung durch mich)

 

Wie inspirierend, erhellend, unterhaltend war dieser Beitrag?

Klicke auf die "Daumen Hoch" um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Weil du diesen Beitrag inspirierend fandest...

Folge uns in sozialen Netzwerken!

Es tut uns leid, dass der Beitrag dich verärgert hat!

Was stimmt an Inhalt oder Form nicht?

Was sollten wir ergänzen, welche Sicht ist die bessere?

Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
Meine Daten entsprechend der DSGVO speichern
1 Kommentar
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Heinz Niski

Unschuldsvermutung hin oder her, nicht erst der Fall Kachelmann hat gezeigt, dass auch bei erwiesener Unschuld das Leben nie mehr so ist, wie vor unberechtigten Vergewaltigungsvorwürfen.

Einen interessanten Aspekt gibt es nachzulesen in der NZZ durch den Sexualwissenschaftler Ahlers:

…… Ja, die derzeitige Diskussion um die Band Rammstein: Seit über zwanzig Jahren singt Till Lindemann weltweit vor Millionenpublikum explizit von Sadomasochismus, sexueller Unterdrückung und Ausbeutung, bis hin zu sexuellem Vampirismus und Kannibalismus. Man kann wirklich nicht sagen, dass Till Lindemann mit seinen Neigungen hinter dem Berg gehalten hätte. Er sitzt auf der Bühne auf einer Peniskanone und spritzt Seifenschaum-Sperma in die Menge, die aus auffallend vielen jungen Frauen besteht. Niemand, den das abstösst, braucht die Konzerte zu besuchen – im Gegenteil, viele Frauen nehmen einiges auf sich, um auf die Konzerte zu gehen, und reissen mitunter ihr T-Shirt hoch, um in die Row Zero zu kommen. Jede dieser jungen Frauen weiss, dass backstage weder Rommé noch Canasta gespielt werden. Da findet Sex, Drugs und Rock’n’Roll statt, und genau deshalb wollen viele Frauen dahin. Und da kommen nach einschlägigen Erlebnissen backstage womöglich grosse Schuld- und Schamgefühle wegen des Tabubruchs hoch, die abgewehrt werden müssen, und da ist es für manche einfacher, hinterher zu sagen, dass einem etwas angetan worden sei. Dann ist der andere Täter, und ich bin Opfer und habe keine Selbstverantwortung mehr, obwohl ich die Situation vielleicht selbst mit herbeigeführt habe.

https://www.nzz.ch/wissenschaft/was-wir-in-der-sexualitaet-wirklich-suchen-ist-geborgenheit-ld.1745031

Ich weiß jetzt schon, wie darauf reagiert wird, wie in der MeToo Debatte üblich: DAS IST TÄTER OPFER UMKEHR!

Wer den Artikel komplett liest und seinen ideologischen Schützengraben verlässt, hätte die Chance, differenzierter diese Tabuthemen zu betrachten.

2
0