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Heute mit: Wahlarithmetik, Gewinnern und Verlierern und der Stimmung in einem Nachbarort von Gelsenkirchen

Hätte man es nicht ahnen können, das Wahlergebnis in der Türkei? Schon die 6:0-Klatsche für Schalke in München konnte man als eine Art Menetekel nehmen. Da war im Vorfeld doch auch davon die Rede, man könne den Übermächtigen vielleicht ihre Grenzen aufzeigen – getragen von den Siegen gegen Bremen und Mainz und angesichts des Umstandes, dass die Bayern Schwächen gezeigt hatten.
Und so war es auch in Bezug auf die Wahlen in der Türkei: Die Opposition sei so nahe am Sieg wie nie, Erdogan wanke – die Wirtschaftskrise, die Inflation, das Erdbeben – das würde Erdogan den Sieg kosten. Kaum ein Fernsehbericht, kaum eine Zeitungsseite, die sich nicht diesen Hoffnungen hingab. Und natürlich stieß auch Cem Özdemir in dieses Horn: „Nach Einschätzung von Cem Özdemir (Grüne) ist die Opposition bei der bevorstehenden Türkei-Wahl einem Sieg so nahe wie seit Jahren nicht mehr. Alle Umfragen sagen das voraus“, sagte er am Sonntagabend im ZDF heute journal.“ *** Und dann meinte Özdemir noch, vor dem „Narrativ“ warnen zu müssen, die Mehrheit der wahlberechtigten Türken, die in der Bundesrepublik leben, seien Erdogan-Anhänger. Seine Cem-Özdemir-Wahlarithmetik: „So gebe es 3,5 Millionen Menschen mit türkischem Hintergrund in Deutschland, davon seien „überhaupt nur 1,5 Millionen in der Türkei wahlberechtigt. Von denen wiederum sind bei der letzten Wahl 45 Prozent wählen gegangen. Davon wiederum haben 65 Prozent Erdogan gewählt. Das relativiert wieder ein bisschen das Bild, dass alle Türkei-Stämmigen pro Erdogan wären.“ ***
Nun habe ich zwar nirgendwo die Behauptung gelesen, alle Türkei-Stämmigen, die in Deutschland leben, seien Erdogan-Anhänger, aber etwas zu negieren, was niemand gesagt hat, ist einer der beliebtesten Taschenspielertricks politischer Rhetorik. Tatsache ist, dass in der türkisch-stämmigen Wählerschaft derjenigen, die hier leben, aber wählen dürfen und ihr Wahlrecht auch ausüben, die große Mehrheit Erdogan wählt – auch bei der Wahl am Sonntag. Eine Zweidrittelmehrheit hat Erdogan hier eingefahren – wovon er in der Türkei nur träumen kann. In einigen Kommunen erzielte Erdogan nicht nur Spitzenergebnisse, sondern gewann – gegenüber der letzten Wahl – noch Stimmen hinzu. Die TOP-Erdogan-Adressen in NRW: Essen mit 77,6 % (Spitzenwert in Deutschland), Münster mit 73,1%, Düsseldorf mit 71,1% und Köln mit 66,7%. ****
Was in diesem Zusammenhang gerne übersehen wird, ist der Umstand, dass es zwei Wahlen gegeben hat: die eine, die sehr stark in den Mittelpunkt gerückt worden ist, ist die Präsidentschaftswahl, die in zwei Wochen in die entscheidende Stichwahl geht. Die zweite Wahl ist die Parlamentswahl: und hier hat Erdogans Partei gemeinsam mit den sie unterstützenden Gruppierungen die Mehrheit erobert bzw. verteidigt.
Man mag das Ergebnis der Parlamentswahlen bedauern – und man mag ebenfalls bedauern, dass das Oppositionsbündnis (wahrscheinlich) auch bei der Stichwahl Erdogan nicht die Mehrheit abjagen wird. Letztlich bleibt nur die Erkenntnis, dass Wahlprognosen in der Türkei auch nicht treffsicherer sind als bei uns und dass bei vielen Politikern und Medienmachern hier der Wunsch der Vater des Gedankens war. Die Menschen in der Türkei werden weiterhin von einem Autokraten regiert werden, dem ein gefügiges Parlament nichts entgegensetzen wird. Damit müssen die Türken leben – und wir auch!
Kurz zur zweiten Wahl des Wochenendes, der in Bremen. Hier ist zunächst festzuhalten, dass den GRÜNEN die Flügel gestutzt worden sind. Die einfachen Erklärungen für den Absturz: Habecks Heizungs-Irrsinn und der Graichen-Filz. Hinzu kommt die Wiederauferstehung der Grünen als Verbots- und Bevormundungspartei. Dazu beigetragen hat wesentlich die grüne Verkehrssenatorin und Spitzenkandidatin Maike Schäfer (inzwischen zurückgetreten), die wenige Wochen vor der Wahl in ganz Bremen die „Brötchentaste“ abschaffte, also das kostenlose Kurzzeit-Parken-Ticket an 78 Bremer Standorten. Die grandiose Begründung für diesen Schritt, der ab dem 1. April (!!!) umgesetzt wurde: Die Rettung des Klimas!
Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass die GRÜNEN ihren Zenit überschritten haben, die Sympathie für die Partei aufgebraucht ist, die Besserwisser-Attitüde viele nur noch nervt und das rasche Überbordwerfen langjähriger Grundüberzeugungen als opportunistisches Manöver zur Teilhabe an der Macht gesehen wird. Dass die einstigen Stars Habock und Baerbeck mittlerweile jeglichen Glanz verloren haben und stellenweise jämmerliche Auftritte abliefern, kommt eventuell strafverschärfend hinzu!
Es mag aber auch sein, dass viele Menschen das Politikergeraune generell einfach leid und einfach nur noch „wütend“ sind über die da oben. Jedenfalls scheint das im Nachbarort von Gelsenkirchen so zu sein. Nachbarort nicht geografisch, sondern sozial! Gemeint ist also Bremerhaven, das mit ähnlichen strukturellen Problemen zu kämpfen hat wie Gelsenkirchen: viele Langzeitarbeitslose, schlechte ökonomische und soziale Gesamtsituation mit vielen Transfer-Empfängern, viele Menschen mit geringer schulischer Bildung und ohne berufliche Ausbildung, Strukturprobleme. Dass das so ist, hat RTL2 veranlasst, beide Städte in einem medialen Doppelpack in einer „Doku-Soap“ zu präsentieren, die 25 Folgen haben soll und unter dem Titel „Hartz, Rot, Gold“ medial ausgekübelt wird. RTL2 schreibt über das Format:
Die Sozialreportage zeigt das Leben in zwei der ärmsten Städte Deutschlands: Gelsenkirchen im Ruhrgebiet und Bremerhaven an der Nordseeküste. Die Menschen hier haben eines gemeinsam: Sie leben dort, wo die wenigsten Menschen einen festen Job haben und damit oft jeden Cent zweimal umdrehen müssen.“*****
In Bremerhaven jedenfalls haben wütende Bürgerinnen und Bürger einer Gruppierung ihre Stimme gegeben, die diese Wut im Namen trägt: Bürger in Wut. Und diese Vereinigung ist mit 22,7% der Stimmen hinter der SPD zweitstärkste Kraft geworden (SPD 29,0 %, CDU 21,3%) und hat die GRÜNEN deutlich abgehängt (13,2%) .
Ob sich die von RTL 2 konstatierten Gemeinsamkeiten demnächst auch in Gelsenkirchener Wahlergebnissen zeigen werden? Da müssen wir das Orakel befragen oder uns in Geduld üben! Mehr geht im Moment nicht!

***https://www.zdf.de/nachrichten/politik/turkei-wahl-oezdemir-heute-journal-100.html

****WAZ, 16.5.23(„Das Ruhrgebiet wählte Erdogan“)

*****https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/neue-rtl-2-staffel-hartz-rot-gold-aus-gelsenkirchen-id237256935.html

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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