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Morgenlektüre (heute)
Ich bekenne mich. Nach der Ausübung des Waschens und anderer Verrichtungen am Morgen ist mein erster Gang der vor die Tür zum Briefkasten. Dort fische ich die Qualitätspresse heraus, lege das Exemplar für die Nachbarin in den Hausflur und setze mich mit einem Espresso und der Zeitung an den Küchentisch. Ich habe schon oft überlegt, das Abo abzubestellen. Aber irgendwie hänge ich an dem Ritual am Morgen. Und das Rascheln von Papier, auch der Geruch, der der Zeitung anhaftet – das ist etwas anderes als eine online-Lektüre. Die meinige beginnt mit dem Lokalteil. Da muss ich mich immer selbst ausbremsen. Meine alte Profession als studierter Germanist (Deutschlehrer an einem Gymnasium) und ebenso eine zeitweilige Tätigkeit als Korrektor bei der WAZ in Essen haben so eine Art Korrekturzwang in mir verfestigt. Während ich die Artikel lese oder diagonal überfliege, setze ich – gedanklich! – Korrekturzeichen oder auch komplette Hinweise an den Rand der Zeitung. Und ganz ehrlich: Im Gelsenkirchener Lokalteil gibt es jede Menge zu korrigieren, was Grammatik, Rechtschreibung, Ausdruck und auch den Aufbau von Artikeln angeht.
Manchmal gibt es aber auch interessante Informationen. So z.B. heute über die grüne Landtagsabgeordnete B. aus GE, die zurzeit ihre Abgeordnetentätigkeit in Lützerath ausübt, um dort „zwischen den Demonstrierenden und der Polizei zu vermitteln“, wie sie sagt. Wie sie das nun macht und wie viele vermittelnde Gespräche sie bereits geführt hat, erfahren wir allerdings nicht. Auch nicht, ob ihrer Vermittlungstätigkeit von irgendjemanden erbeten worden ist. Sie behauptet jedoch: „Viele sind dankbar, dass wir hier sind, dass wir vermitteln.“ Und von „positiven Rückmeldungen“ weiß sie zu berichten. Ob die beiden WAZ-Redakteure, die den Personality-Artikel verfasst haben, jetzt nicht konkret nachgefragt haben, was die Vermittlertätigkeit der Abgeordneten B. angeht, etwa bei der Einsatzleitung der Polizei, oder ob Frau B. aus Gründen der Diskretion oder des Vertrauens- und Datenschutzes ihre vermittelnde Tätigkeit nicht konkreter darstellen konnte oder wollte, weiß ich nicht. Ebenso bleibt unklar, ob die Bezeichnung als „parlamentarische Beobachterin“ eine Selbstbezeichnung von Frau B. ist oder ob sie als Mitglied einer Delegation des Landtags diese Tätigkeit ausübt. Auch wer sich hinter dem „wir“ verbirgt (dankbar, dass wir hier sind), bleibt nebulös.

Aber immerhin: Wir wissen jetzt, was eine Landtagsabgeordnete aus GE, von der wir bisher nicht viel lesen oder hören konnten, jedenfalls nicht zur Problematik der kommunalen Finanzen, zur Unterversorgung der Schulen, zu Schrottimmobilien und Jugendbanden, zur Personalsituation der Verwaltung und anderer Petitessen, so macht. Vermitteln!

Konkreter als die beiden Lokalredakteure wird ein WAZ-Kollege in der überörtlichen online-Berichterstattung, der die Lage vor Ort in Lützerath beobachtet und in einem Live-Ticker zitiert wird. Da können wir heute unter 9.49 Uhr von Thomas Mader lesen:
Eine Aktivistin wirft Schokolade, Chips und Thermoskannen in eine Ikeatüte. Der harte Kern zieht sich weiter auf den Dachboden und auf das Dach zurück. Die Polizisten rücken mit Bolzenschneider, Kreissäge und Kettensäge näher. „Die checken die Tür ab unten“, sagt einer. Tadzio Müller ruft aus dem Fenster, halb auf englisch: „Sonne über Lützerath. Wie bei Herr der Ringe, die Schlacht um Helms Klamm. Schau, wer da über den Kamm reitet!
Das ist doch mal etwas Konkretes aus Lützerath: die Aktivisten haben sich von Schokolade und Chips ernährt, sind im Besitz von Thermoskannen und Ikeatüten. Und sie kennen sich aus mit der Herr-der Ringe-Verfilmung, was sie zu Freizeit-Poeten gemacht hat. Damit man die Dimensionen vor Augen hat: In der Verfilmung der Schlacht bei Helms Klamm waren an der Auseinandersetzung 300 Rohirrim, 300 Elben-Krieger, 2000-3000 Reiter des Entsatzheeres und auf der anderen Seite 10000 Uruk-hai beteiligt, deren Heer völlig vernichtet wurde.
Eine deutliche Parallele zwischen der Berichterstattung aus Lützerath (siehe oben) und der erwähnten Filmpassage (siehe Film) besteht darin, dass weder in der von der WAZ geschilderten Szene aus Lützerath noch im Film eine Vermittlerin (Vermittelnde) in ihrer Funktion als „parlamentarische Beobachterin“ auftritt. Insofern hat der oben zitierte (aus dem Fenster rufendende) Tadzio Müller wohl richtig beobachtet. Weit und breit keine Vermittelnden an der Kampflinie!

Was mich zum Lokalteil zurückführt, in dem u.a. ein Artikel über die Premiere des Tanzabends „Odysseus“ zu finden ist. Da wird einer der beiden Choreografen, nämlich Felix Landerer, zitiert: „Als Spota mir von seiner Idee erzählte, Odysseus zu vertanzen, habe ich gedacht: Ach nein, nicht so eine altertümliche Geschichte über einen gewalttätigen männlichen Eroberer.
Gestatten Sie, Herr Landerer! Bitte nicht diese Alte-weiße-Männer-Nummer! Schaut man nämlich in den Mythos, wird man erfahren, dass Odysseus am Eroberungskrieg gegen Troja überhaupt nicht teilnehmen wollte. Er lebte friedlich und zufrieden auf seiner Insel Ithaka. Als die griechische Delegation erschien, um ihn zur Beteiligung am Krieg aufzufordern, behauptete er, er sei erblindet, weswegen er nicht mitfahren könne. Die Delegierten durchschauten aber seine Ausrede und legten eines seiner Kinder vor ihm in die Ackerfurche. Odysseus, der – ganz und gar nicht königlich – selbst den Pflug schob, stand nun vor der Wahl, bei seiner Behauptung zu bleiben und dann das eigene Kind mit dem Pflug zu durchschneiden oder seine Lüge aufzugeben, um das Kind zu retten. Wir wissen, wie sich Odysseus entschieden hat!
Nach zehn Jahren Krieg (Homers „Ilias“ stellt übrigens den Zorn von Achilles, nicht die Taten des Odysseus in den Mittelpunkt) folgen zehn Jahre der Rückkehr (Homers „Odyssee), zu denen Odysseus von denen Göttern nicht deshalb verurteilt wurde, weil er ein gewalttätiger männlicher Eroberer war, sondern weil er Poseidon verspottet hatte. Für diese Hybris wurde Odysseus von den Göttern bestraft! Als er endlich zurückkehrte, verbrachte der „gewalttätige männliche Eroberer“ die erste Nacht als armer Fremdling im Stall eines Schweinehirten – ganz und gar nicht königlich!
Aber so oder so: heute jedenfalls steht die WAZ ganz im Zeichen von Schlachtengemälden – gegenwärtigen und vergangenen! „Jeder Zuschauer“ so wird Choreograf Landerer zitiert, „ist ganz frei in seinen Assoziationen.“
Und davon setzt die WAZ auch heute wieder viele frei!
Manchmal unfreiwillig!

*hollow (Adj.): hohl, leer, dumpf, bedeutungslos

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Vermitteln, früher hieß das neudeutsch „Mediation“, also eigentlich VERHANDELN, das kann man mit der Polizei doch nicht. Die sind nicht verhandlungsbereit und hochgerüstet mit Wasserwerfern und Kettensägen und wollen Maximalforderungen umsetzen. Die führen auch eine Angriffsräumung durch, also verstehen die nur die harte Sprache des militanten Widerstandes. Lasst uns also die Lützis aufrüsten, nicht nur mit Schokolade, nein auch mit Freiwilligen Bataillonen, wenn jeder Grüne Kreisverband 10 KämpferInnen statt MediatorInnen schicken würde, hätten wir Lützerath bald befriedet, den toxisch männlichen Polizeiapparat in seine Schranken gewiesen und etwas Gutes für das Gesamtklima getan.

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Ro.Bien.

Ich jedenfalls bin froh, dass ich so erfuhr, dass sich die Taktik der Grünen fortsetzt: Frauen an die Macht – es braucht weder einen ausgebildeten Beruf, noch ein abgeschlossens Studium, um Karriere zu machen! Das lässt doch hoffen!
Hier übrigens ein frischer Artikel eines kurz vor der Rente stehenden Bochumer stellv. Redaktionsleiters. Dein Rotstift wird vor Freude jauchzen…

https://www.waz.de/staedte/bochum/explodiertes-haus-in-bochum-erste-hinweise-auf-die-ursache-id237344783.html

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Heinz Niski

Die Gleichberechtigung, Gender Pay Gap etc. ist auf hohem Niveau. Frauen ziehen allmählich an den Männern vorbei. Mir fehlen noch ein paar feminine Korruptionsskandale und sexuelle Belästigungen von männlichen Untergebenen. Kriegslüstern genug sind sie ja schon.

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Ro.Bien.

 Nix geht über Strack-Zimmermann! Aber die ist wahrscheinlich über sexuelle Belästigungen hinaus, hoffe ich.

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Heinz Niski

Skandalös! Hier vermute ich eine Altersdiskriminierung. Oder die Delegitimierung von Sexualität über 40 —- SCHOCKIEREND! 🧐

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