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Autoren: Bernd Matzkowski und Wolfgang Heinberg

Fortschritt, das ist eine Binse, heißt nicht nur Fortschreiten zu etwas Neuem hin, sondern auch Fortschreiten von etwas Altem weg. Fortschritt ist ambivalent. Fortschritt ist positiv und negativ besetzt zugleich, denn Fortschritt kann Hoffnung wecken, aber auch Ängste – wie das Konservative bedeuten kann, Wertvolles zu bewahren, aber auch in Verkrustung zu verharren.
Die gegenwärtige Politik lebt von Verheißungen, vom Versprechen, den Fortschritt für alle zu organisieren, alle „mitzunehmen“, wie eine beliebte Floskel lautet, wobei das WIE und das WOHIN alle mitgenommen werden sollen, gerne im Schemenhaften, Wolkigen, kurz: in Sprachhülsen versandet. Der Koalitionsvertrag der „Ampel-Parteien“ trägt nicht zufällig den Titel „Mehr Fortschritt wagen“ und präsentiert bereits im zweiten Absatz der Präambel (S.4. des Koalitionsvertrages) einen bunten Strauß blumiger Worte: „Wir haben unterschiedliche Traditionen und Perspektiven, doch uns einen die Bereitschaft, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft Deutschlands zu übernehmen, das Ziel, die notwendige Modernisierung voranzutreiben, das Bewusstsein, dass dieser Fortschritt auch mit einem Sicherheitsversprechen einhergehen muss und die Zuversicht, dass dies gemeinsam gelingen kann.“.
Was hier mit den Begriffen Modernisierung, Fortschritt, Zukunft Deutschlands und Sicherheitsversprechen als Potpourri daherkommt, ist aber letztlich nichts anderes als der fade Eintopf, der in den letzten Jahren unter Verwendung von Schlagworten wie „Transformation“ oder „Great Reset“ angerührt worden ist. So etwa Kanzlerin Angela Merkel am 1.11.2021 (Konferenz cop 26, Glasgow): „Meine Damen und Herren, wir werden allein mit staatlichen Aktivitäten nicht vorankommen. Denn es geht um eine umfassende Transformation unseres Lebens, Arbeitens und Wirtschaftens.“
Was aber verbirgt sich hinter dem Begriff der „umfassenden Transformation“, die unser Leben, das Arbeiten und das Wirtschaften gleichermaßen erfassen soll? Ist das ein Eingriff in über Jahrzehnte bewährte Entwicklungen, ein radikaler Umbau des bisherigen „Modells Deutschland“? Und welches Hauptziel hat diese „Transformation“? Einen Schub haben derlei Überlegungen und Formulierungen durch das WEF (World Economic Forum) bekommen, zu dessen Treffen in Davos Wissenschaftler, Industrielle und Regierungsvertreter aus der gesamten Welt anreisen, um neue Perspektiven und Entwicklungen zu diskutieren. Das Forum, hinter dem Anhänger von Verschwörungstheorien eine Art geheime Weltregierung vermuten, war schon immer gut für bedeutungsvoll klingende Formulierungen (natürlich englischsprachig), denen aber häufig die Anmutung von „Kalendersprüchen“ eignet, wie die schweizerische „Handelszeitung“ einmal spottete: Great Reset (2021), Great Transformation (2012), Shaping the Post-Crisis-World (2009). Der Great Reset, der das Motto des 2021er-Forums war, suggeriert einen gesellschaftlichen Neustart (nach Covid) und bedient sich nicht von ungefähr des aus der Computer-Sprache kommenden Begriffs „Reset“. Das System wird „heruntergefahren“ und startet von Grund auf neu hoch, wodurch die alten Störungen, Macken und Fehler im System bereinigt bzw. beseitigt werden sollen, damit das System nach dem Neustart wieder „rundläuft“. Was bei Fehlern im Computer als „Radikalkur“ erfolgreich eingesetzt werden kann, muss für gesellschaftliche Probleme jedoch nicht unbedingt funktionieren, sondern kann durchaus zur Vergrößerung der Probleme und zu Verwerfungen führen. Der radikale Umbau, die Aufgabe von Bewährtem, das rasche Verlassen alter Wege, die doch sichere Pfade der Entwicklung waren, kommt gerne als „Modernisierung“ daher, kann aber, bildlich gesprochen, auch ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft sein. Oder ein Heilsversprechen, das nicht eingelöst wird. Deshalb ist die Frage sinnvoll, ob Entwicklung oder Weiterentwicklung zum Ziel (der besseren Gesellschaft) führen oder ob dafür Transformation und Reset nötig sind – also Umkehr, Abkehr oder ein kompletter Paradigmenwechsel.

Vielleicht erleichtert es den Zugang zur Problematik bzw. zur Fragestellung, wenn man sich zwei zunächst nur lapidar erscheinende Handlungsweisen in Erinnerung ruft, die aber von hohem Symbolwert sind. Während des G7-Gipfels in Münster vor wenigen Wochen ist auf Anweisung oder zumindest mit Billigung durch Annalena Baerbock im historischen Ratssaal in Münster, dem Tagungsort des Treffens,  das Kreuz entfernt worden, das zentrale Symbol des Christentums. Das Kreuz, unter dem die Parteien des Friedens von Münster und Osnabrück das Ende des Dreißigjährigen Krieges besiegelt haben.Vor wenigen Tagen hat die Außenministerin das Porträt des Reichsgründers Bismarck aus dem nach ihm benannten Saal im Außenministerium entfernen lassen und den Bismarck-Saal „umgetauft“ in „Saal der deutschen Einheit“, ohne vielleicht einen Gedanken daran zu verschwenden, dass Bismarck auch für die Einheit Deutschlands steht (Reichsgründung). Beide Handlungen sind eine radikale Transformation, letztlich ein Akt, der sowohl ein wichtiges Element, ja sogar ein Fundament der deutschen und europäischen Geistesgeschichte und Kultur (Kreuz in Münster) und eine Persönlichkeit der deutschen Realgeschichte (Bismarck im Außenministerium) ausradiert hat – ohne einen vorausgehenden Prozess des öffentlichen Diskurses, der Suche nach Alternativen, der Offenheit gegenüber durchaus widersprüchlichen historischen Prozessen oder Persönlichkeiten. Letztlich hat die Außenministerin hier einen Akt der Selbstermächtigung vollzogen, mit dem in anmaßender Weise deutsche und europäisch-abendländische Geschichte „entsorgt“ wird. Hier wird nicht ein Geschichtsverständnis weiterentwickelt, das die deutsche Geschichte als sich in Widersprüchen vollziehenden Prozess sieht, sondern ein Verständnis, das eine subjektive Sichtweise (hier gegenüber dem Christentum und dem Reichsgründer Bismarck) zur Richtschnur und zum Muster des Denkens aller erhebt.

Wenn wir das Gebiet der Geschichte bzw. des Umgangs damit verlassen, bietet sich als großer Themenbereich die Betrachtung der ökonomischen Grundlage unseres Zusammenlebens an, dem zentralen Ort der Transformation. Bei der Gründung der Bundesrepublik wurde das Modell der „sozialen Marktwirtschaft“ implementiert, das, bei Berücksichtigung aller Schwächen, Ungerechtigkeiten und zweifelsohne vorhandenen Sozial- und Gerechtigkeitsproblemen, den Deutschen in ihrer Gesamtheit ökonomischen Zugewinn, Stabilität, Aufstiegschancen und Zukunftsperspektiven eröffnet hat. Nun mögen die Koalitionäre den (wirtschaftlichen) Erfolg des Modells nicht leugnen, das wäre auch zu viel an Verblendung. Aber auch im Bereich der Ökonomie geht es nicht ohne die Transformationsverbalakrobatik: „Unsere Wirtschaft legt mit ihren Unternehmen, den Beschäftigten sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern die Grundlage für unseren Wohlstand. Als größte Industrie- und Exportwirtschaft Europas steht Deutschland in den 2020er Jahren jedoch vor tiefgreifenden Transformationsprozessen im globalen Wettbewerb – von der Dekarbonisierung zur Einhaltung des 1,5-Grad-Pfads über die digitale Transformation bis hin zum demografischen Wandel. (…) Wir stellen die Weichen auf eine sozial-ökologische Marktwirtschaft und leiten ein Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen ein. (…) Der Industrie kommt eine zentrale Rolle bei der Transformation der Wirtschaft mit Blick auf Klimaschutz und Digitalisierung zu.“ (Koalitionsvertrag „Ampel“, S. 24 ff.)
Bezeichnend ist hier, dass „der Industrie“ eine zentrale Rolle bei der Transformation zugewiesen wird, aber gleichzeitig die genannten Ziele nicht ökonomischer Natur sind, sondern politischen Zuschreibungen bzw. Setzungen (Dekarbonisierung, Einhaltung des 1,5-Grad-Zieles) oder gesellschaftlichen Entwicklungen (demographischer Wandel) geschuldet sind, die nicht in unmittelbarer „Zuständigkeit“ der „Industrie“ liegen. Die Industrie wird hier für eine „Transformation“ in Haftung genommen, die politisch gewollt ist („ökologisch-soziale Marktwirtschaft“) und einer Ideologie folgt, die zwar von den GRÜNEN und ihren Vorfeldorganisationen ausgegangen ist, sich mittlerweile aber über die SPD, FDP und Teile der Linken bis tief in das bürgerliche Lager hineingefressen hat und große Teile der Medien als Propagandisten hat.
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Frage, ob es den Klimawandel gibt oder nicht und ob dafür der CO2-Austoß der entscheidende Faktor ist, sondern darum, dass man unter der Fahne eines Ziels (1,5-Grad-Pfad) politische Setzungen vornimmt (Dekarbonisierung), für deren Umsetzung man dann andere („die Industrie“) in Haftung nimmt. Beispiel Automobilindustrie: Der bisherige Weg, die ständig Optimierung des Verbrenners mit großen Erfolgen bei der Reduzierung des Ausstoßes schädlicher Abgase, wird aufgegeben zugunsten einer Radikalkur, die darauf setzt, dass E-Mobilität (ebenfalls in der Entwicklungs-Verantwortung „der Industrie“) an die Stelle von Fahrzeugen mit Verbrenner tritt. Dabei bedient man sich propagandistisch eines Taschenspielertricks: Entscheidend soll jetzt sein, dass das einzelne Fahrzeug keine Schadstoffe mehr ausstößt (der saubere Auspuff). Dass die Klimaneutralität aber nur dann erreicht wird, wenn der Akku des Fahrzeugs zu 100% mit Ökostrom aufgeladen wird, bleibt ebenso nicht beachtet wie die Frage des Lebenszyklus eines Fahrzeugs, die Problematik der für die Produktion der E-Auto-Batterien benötigten Rohstoffe und der Arbeitsbedingungen, unter denen diese Stoffe abgebaut werden. Kommt „schmutziger Strom“ (Öl, Gas, Kohle) aus der Wall-Box, mag das Auto klimafreundlich fahren. Aber die Schadstoffe entstehen bereits bei der Stromproduktion. Nur nebenbei: Dass Verbrenner, die hier nicht mehr fahren sollen, dennoch weiter gebaut werden, um dann auf anderen Kontinenten für den Klimawandel zu sorgen, ist nur ein pikanter Nebenaspekt. Die Industrie kann hier fröhlich die (staatlich subventionierten) E-Mobile produzieren und verkaufen und gleichzeitig die Verbrenner-Technologie für die Produktion und den Verkauf im Ausland einsetzen. Der Weg, auf dem die Transformation voranschreitet oder schreiten soll, ist jedenfalls vom Grundsatz her ein anderer als bisher: Nicht die Optimierung, die Weiterentwicklung eines Produktes wird angestrebt, sondern die Abrissbirne kommt zum Zuge.
Ein weiterer Aspekt zeigt sich an diesem Beispiel: Der Staat (die Regierung) entscheidet paternalistisch für uns, indem er eine Option zulässt, eine andere aber verbietet, anstatt den mündigen Bürger am Markt selbst entscheiden zu lassen, welche Option er ziehen will und welches Produkt sich schließlich dadurch durchsetzt. Diese Verfahrensweise ist aber ein Merkmal einer Politik, die an Fort- und Weiterentwicklung nicht mehr glaubt, sondern ideologiegesteuert und staatsdirigistisch meint, für die Bürger alles regulieren zu müssen.
Der von Scholz gebrauchte Begriff der „Zeitenwende“, verwendet im Kontext des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und zunächst auf internationale Beziehungen und die Rolle der Bundesrepublik selbst gemünzt, hat so gesehen noch eine ganz andere Seite: Die Politik bewegt sich in Debatten und im praktischen Handeln weg vom Glauben daran, dass Defizite ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher, sozialer und rechtlicher Art, die es in unserem Gemeinwesen gibt, abgebaut werden können – durch Entwicklung und Weiterentwicklung, wie es über Jahrzehnte geschehen ist und wofür auch durchaus Jahrzehnte gebraucht wurden. An die Stelle der behutsamen Führung und Veränderung geht es nun mit Karacho hinein in die Spitzkehre einer ideologisch grundierten Transformation.
Das Regierungsprogramm der „Ampel“ bedient sich – sicher nicht zufällig- beim Titel („Mehr Fortschritt wagen“) bei einer anderen Regierungserklärung, nämlich der ersten von Willy Brandt im Herbst 1969, deren Motto lautete: „Mehr Demokratie wagen“. Die Akzentverschiebung ist nicht zufällig. Brandt reagierte auf die Ereignisse von 1968 und ihre Folgen, setzte darauf, den Prozess demokratischer Beteiligung zu stärken. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen, vielleicht sogar dringlicher denn je, wenn man auf die Segregation der Gesellschaft und ihrer sozialen Gruppen und auf die teilweise erschreckend geringe Beteiligung bei Wahlen schaut. Das Problem der Erosion der Demokratie berührt den innersten Kern unserer Gesellschaft und ist weder per Knopfdruck (Reset) noch durch eine große Transformation zu lösen. Es ist vielmehr ein Prozess des ständigen Handelns, Reflektierens, des Aushaltens von Widersprüchen und der offenen Debatte, nicht aber paternalistischer Betreuungsangebote, ideologisierter Handlungsmotive und einer Politik der „Transformation“. Bereits 1963 schrieb Hannah Arendt in ihrem Aufsatz „Nationalstaat und Demokratie“ u.a.:
So wie wir heute aussenpolitisch überall vor der Frage stehen, wie wir den Verkehr der Staaten unter- und miteinander so einrichten können, dass Krieg als „ultima ratio“ der Verhandlungen ausscheidet, so steht uns heute überall innenpolitisch das Problem bevor, wie wir die moderne Massengesellschaft so umorganisieren und aufspalten können, dass es zu einer freien Meinungsbildung, zu einem vernünftigen Streit der Meinungen und damit zu einer aktiven Mitverantwortung an öffentlichen Angelegenheiten für den Einzelnen kommen kann.“

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Hannah Ahrend konnte nicht ahnen, dass es einen Informationsoverkill dank der Digitalisierung, der sozialen Medien geben würde und dass Algorithmen Menschen immer fester in Meinungsblasen einbinden würden. Mehr Information führt so zu weniger Wissen, dafür aber zu festen Haltungen, Meinungen und Weigerung, sich auf andere Positionen einzulassen.

Wie da „freie Meinungsbildung“, „vernünftiger Streit“ und „aktive Mitverantwortung“ konkret gelebt werden kann, weiß ich zurzeit nicht. Der Trend geht klar in eine Richtung, für die Anton Hofreiter (Grüne) sowohl optisch als auch ideologisch steht: man signalisiert durch Dresscode und Haartracht, sowohl basisdemokratischer Graswurzeler zu sein, wie auch Panzer fahrender Chief Information Officer des Unternehmens Bundesrepublik. Anything goes – alles geht, niemand anders als die Anhängerschaft der Grünen, kann geschmeidiger solche Brüche in die eigene Biografie, in Karriere dienende Opportunität integrieren. Krieg ist nicht nur der Vater aller Dinge, sondern schafft demokratische Strukturen, ist der Geburtshelfer von Demokratien. So jedenfalls Tony Hofreiter in der Berliner Zeitung vom 15.12.22: „Demokratien greifen einander nicht an“, erklärte er. Die Ukraine habe sich seit 2014 radikal verändert. Der Krieg selbst habe das Land geeint und demokratisiert.“

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/anton-hofreiter-entweder-nato-mitgliedschaft-fuer-ukraine-oder-3200-leopard-panzer-li.298195

Statt langwieriger, permanenter und schmerzhafter Diskussionsprozesse, ein Krieg zur Förderung der demokratischen Gesinnung? Vielleicht zunächst ein kleiner Wirtschaftskrieg? Unter Führung Deutschlands?

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