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Liebes Tagebuch!
Ja, eigentlich habe ich dich schon seit längerer Zeit geschlossen. Du warst vollgeschrieben – bis zur letzten Seite. Aber nun muss eine Extra-Seite her, ein Einlegeblatt, ein Nachtrag. Und warum? Weil ich im Moment die schwärzesten Stunden erlebe! Ich habe das Gefühl, die Sonne ginge schon am Morgen unter! Und deshalb: Es kann zwar ein Tagebuch abgeschlossen sein, aber mein Tagwerk ist es ja nicht. Tag für Tag bemühe ich mich, diese Stadt nach vorne zu bringen, sie lebens- und liebenswerter zu machen – und dies trotz all der widrigen Umstände, der Negativ-Schlagzeilen, der Minus-Parameter. Und trotz all der Missgunst und Häme – innerhalb und außerhalb des Hans-Sachs-Hauses! Und ich muss einen täglichen Kampf führen – gegen die Trägheit in der Verwaltung, gegen die heimlichen Widerständler in der Partei, die immer noch meinem Vorgänger nachtrauern, gegen die bösen Zyniker, die mich schlecht machen, wann immer es geht, gegen eine negativ eingestellte Lokalpresse. Und doch muss ich eingestehen:
Mein größter Feind bin ich selbst, denn ich habe mich ohne Not in die schwerste Krise meiner Amtszeit geritten. Ich wollte witzig sein, Scherze machen, meine Rede beim Bürgerverein mit Gags aufpeppen – und ich habe dabei, um es mal so zu sagen, verbal ins Klo gegriffen, ganz tief ins Klo. Ich habe aus Verärgerung über die Stadtschelte eines Comedian (bestenfalls zweitklassig!) von „unerwünscht sein“ und „soll nicht mehr hier auftreten“ gesprochen. Was als Scherz gemeint war, ist mir als Stein auf die Füße gefallen! Denn was ist aus diesen Anmerkungen gemacht worden: Ich stehe nun da, als wolle ich zensieren, Kritik unterdrücken, als sei ich eine absolute Herrscherin ohne Humor. So gut wie niemand tritt an meine Seite, aber man tritt mich in die Seite. Leserbrief über Leserbrief, facebook-Eintrag nach facebook-Eintrag machen mich zum Zensur-Monster! Und dass meine Anmerkungen ein Scherz waren, das glaubt mir fast niemand! Meine Leichtigkeit habe ich deshalb verloren, stattdessen ergreift mich bleierne Schwere!
Wem soll ich noch trauen, wo ich mir doch im Moment selbst nicht über den Weg traue? Anmerken lässt sich in meinem Umkreis niemand etwas. Aber wenn ich morgens ins Büro gehe und mir begegnet jemand auf dem Flur und begrüßt mich freundlich, dann frage ich mich: Ist das in den Augen Freude oder Schadenfreude? Ist das Lächeln echt oder steckt dahinter boshafte Verstellung? Höre ich hinter den verschlossenen Bürotüren nicht ein Lachen über mich? Und wird mir manchmal schwindelig, weil ich nicht mehr weiß, was ehrlich gemeint ist und wann man mich beschwindelt? Und sind die, die mir in Fraktion und Partei die Hand schütteln, nicht schon dabei, mir mit denselben Händen einen Strick zu drehen, mir Fallen zu stellen, mich zu isolieren, weil sie nicht wollen, dass wegen mir auch an ihnen der Vorwurf der „Zensur“ klebt, so wie er an mir klebt wie der Hundekot, in den man auf dem Bürgersteig mit dem Schuh getreten ist? Ein Fehltritt nur – und man steht am Abgrund. Und ich schaue in den Abgrund und sehe: mich!
Ich stehe vor einer Münchhausen Aufgabe: Ich muss versuchen, mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Und ich werde es versuchen. Ich werde und muss weitermachen, mein liebes Tagebuch!

Doch zunächst: Ich danke dir für deine Treue und Zuverlässigkeit, für die Geduld mit mir und vor allem für deine Verschwiegenheit!
Und es gilt:
Ego sum, qui sum!
Für den Moment aber erst einmal:
Schlaf gut, liebes Tagebuch! Mein ewiger Dank ist dir gewiss!!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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So.Jo.Tien.

…und vielen Dank an meine Freundinnen Larissa und Rebecca, die mir bei meiner Metamorphose durch ihren Comedy- Spot „der Saftladen“, in der Reihe Martina Hill, sehr geholfen haben. Jetzt – als Karissa Welke – fuehl ich mich wahrlich als ich selbst.

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Pet.Behl.

Ein Dilemma. Und nur, weil der kleine dicke Junge in der Pumuckel-Unterhose meint, dass er der Retter der Nation ist! Welt! Schaut nach Chicago! So einfach ist das! Kopf schüttel! Durchhalten heisst jetzt die Parole!
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Fra.Prez.

Da bekomme ich sogar einen Anflug schlechten Gewissens und eine gehörige Portion Mitleid.

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Eu.f.GE.

2 Sätze fallen mir ein zu diese einfühlsame weitschweifige
Zeilen.
Nee, ich lass es lieber. Mensch muss nicht immer alles kommentierencomment imagecomment image

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