Gibt man bei WIKIPEDIA als Suchbegriffe „Deutsche Entdecker und Erfinder des 19.und 20. Jahrhunderts“ ein, erhält man eine mehrseitige Namensliste in alphabetischer Reihenfolge. Ergänzt man die Suche um den Begriff „deutsche Ingenieure“ des genannten Zeitraums, bekommt man eine weitere Liste ähnlichen Umfangs. Deutschland war eben nicht nur ein Land der Dichter und Denker, in der Literatur vor allem festgemacht an den Epochen des Sturm und Drang, der (Weimarer) Klassik, der Romantik und der Aufklärung, sondern auch ein Land der Naturforscher, der Entdecker, der Erfinder und der Ingenieure. Kein Auto ohne Benz und Bosch, kein Computer ohne Konrad Zuse. Egal ob in die Zukunft weisende technische Erfindungen, neue Wege in der Medizin oder neue Erkenntnisse in der Physik – Deutschland war einst führend auf vielen Gebieten. Das hat sich geändert. Eine vergleichbare Spitzenposition auf diesen Gebieten der Wissenschaft und Forschung hat Deutschland schon lange nicht mehr. Aber nicht nur in der Spitze hat Deutschland Defizite, sondern auch in der Breite. Jedenfalls wenn man Bernd Kriegesmann Glauben schenken darf, dem Präsidenten der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen. Kriegesmann stellt in einem Interview in der WAZ jedenfalls fest, dass die Zahl der Anmeldungen an seiner Hochschule nun schon seit zwei Jahren rückläufig ist und das vor allem die Fachbereiche der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) besonders stark betroffen sind.***
Für den Rückgang der Anmeldezahlen nennt Kriegesmann zwei Gründe: den demographischen Faktor („es gibt schlicht weniger junge Menschen“) und den „Corona-Gap“, einen „Sondereffekt nach zwei Jahren Pandemie“, die, so der Hochschulpräsident, dazu geführt habe, dass junge Menschen unschlüssig seien, was ihren (Studien-)Weg angehe.
Nun mag ich Kriegesmann, was diese beiden Faktoren angeht, überhaupt nicht widersprechen, möchte aber einige weitere Überlegungen hinzufügen – in notwendiger Zuspitzung:
Erste Überlegung:
Aus dem Land der Ingenieure, Entdecker und Erfinder ist ein Land der Technologiefeindlichkeit geworden, in dem – aus politisch-ideologischen Gründen – mögliche technische Entwicklungen nicht fortgesetzt oder überhaupt nicht angeschoben werden. Ein Land, das – politisch motiviert – mit Einschränkungen und Verboten arbeitet (Atomkraft, Gentechnik, Fracking, Verbrennermotoren) – sich aber die Doppelmoral leistet, durch Fracking in den USA gewonnenes Flüssiggas ebenso zu importieren wie Atomkraft aus Frankreich oder den geächteten Strom aus Kohle aus Polen zu importieren oder eben, wie im Moment, wegen der „Gaskrise“ sogar hier stillgelegte Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen. Kurz: Deutschland ist ein Land geworden, in dem kein Klima herrscht für Erfindergeist, Entdeckerstreben, naturwissenschaftliche Forschung, Innovation und Tüftelei – und dies völlig unabhängig davon, dass die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung insgesamt in den letzten Jahren stetig angewachsen sind. Wozu allerdings auch die mittlerweile über 200 Lehrstühle für „gender studies“ beigetragen haben.
Zweite Überlegung:
Der Zeitgeist weht gegenwärtig an den Naturwissenschaften vorbei. Auch Studienfächer sind dem Zeitgeist unterworfen, was ihre Beliebtheit angeht. Als ich angefangen habe zu studieren, (1971/72) war das Studienfach „Sozialwissenschaften“ (für das Lehramt am Gymnasium) noch recht frisch. Es passte in den Zeitgeist des Aufbruchs, der Veränderung, des Versuchs, gesellschaftliche, soziale und politische Mechanismen zu erkennen (und dann in der Schule zu vermitteln).Und ich war nicht der einzige junge Student, der das so sah. Die Vorlesungen und Seminare an der Ruhr-Uni platzten aus allen Nähten.
Der Blick auf die Gesellschaft ist heute, so empfinde ich es, bei vielen jungen Menschen, die die Schule verlassen, durch den Blick auf den Bauchnabel ersetzt. Statt der Analyse gesellschaftlicher Mechanismen, Regeln und Normen stehen Selbstoptimierung und die Konstruktion einer eigenen Welt im Vordergrund. Dieser Haltung steht naturwissenschaftlich-technisches Denken, das Entdecken von Regelhaftigkeiten und „gesetzmäßigen“ Zusammenhängen, diametral, ja geradezu feindlich gegenüber. Diese Haltung geht auch mit einer partiellen Diskusverweigerung einher, wenn naturwissenschaftlich geprägtes Denken und Argumentieren, etwa im Bereich der Geschlechterbestimmung, konstruktivistisches Denken anzweifelt. Dann wird naturwissenschaftliches Denken und Argumentieren Teufelszeug, von dem man getriggert wird und dem man sich deshalb entzieht – auch schon mal durch die Sprengung einer Vorlesung!
Dritte Überlegung:
Bernd Kriegesmann weist im Kontext zurückgehender Zahlen im Bereich der Mint-Fächer auf einen wichtigen Umstand hin, wenn er sagt, ein Problem bestünde im Mangel an Lehrkräften für Physik. Das ist sicher richtig, aber Ergänzungen sind aus meiner Sicht sinnvoll. Da ein Mangel an Physiklehrern herrscht, kann nicht jede Schule das Fach anbieten – jedenfalls nicht im Leistungskursbereich. Dies führt notwendigerweise zu dem bei der Schülerschaft in ihrer Mehrheit unbeliebten Wechsel der Schule für Leistungskursschüler (betrifft auch andere Fächer). Die Schüler, die Physik als LK wählen, müssen also immer darauf eingestellt sein, den Kurs nicht an ihrer Stammschule zu haben, weil aufgrund der geringen Zahl derjenigen, die das Fach gewählt haben, die Kursteilnehmer von zwei oder drei Schulen „zusammengelegt“ werden. Zudem ist die Ausstattung an den Schulen unterschiedlich gut oder schlecht, was den Unterricht in der Sek.I betrifft, und Physik konkurriert natürlich mit Chemie und dem beliebten (weil als „leichter“ geltenden Fach) Biologie.
Das von Herrn Kriegesmann genannte Problem können auf Dauer nur gelöst werden, wenn die MINT-Fächer, besonders Physik und Technik, eine deutliche Aufwertung an den Schulen erfahren – in personeller Hinsicht und bezüglich der Ausstattung. Aber auch hinsichtlich ihres Stellenwerts, ihres Ansehens in der Schule! Dabei gilt es auch, Begeisterung für das Fach zu wecken! Schüler sind Pragmatiker, jedenfalls die meisten! Sie gehen den Weg des geringsten Widerstandes, meint: Sie möchten mit geringem Aufwand ihr Ziel erreichen, den Abschluss. Und da gelten die Naturwissenschaften eben als sperriges Hindernis, das man möglichst umgeht! Diese Haltung muss man aufbrechen! Wie man das kann?
Mir fällt nur ein:
Pädagogisches Steineklopfen!
***siehe: https://www.waz.de/politik/landespolitik/studium-mit-jobgarantie-doch-die-studierenden-bleiben-aus-id236060821.html
Klug. Kritisch. Treffend. Auf den Punkt!
Falls ich als MINT-Komplettversager an der Unterhaltung teilnehmen dürfte, würde ich sagen, dass der Mangel an Lehrern und Professoren nur ein Teil des Problems ist.
Amerika kauft sich die Ware (Ingenieurs)Wissen weltweit ein.
Man muss selber also kein gutes Allgemeinbildungssystem haben, um technologisch im Spitzenbereich zu liegen.
Wer aber sein Schulsystem vor die Wand fährt und gleichzeitig hohe Hürden für ausländische Fachkräfte schafft, (CDU Slogan „Kinder statt Inder“) der scheint die Wissensgesellschaft umbauen zu wollen in eine des magischen Denkens.
Es scheint wohl gelungen zu sein.
Deutsche Ärzte laufen weg in die Schweiz, nach England, wir kaufen dafür in der EU ein, den Rumänen, Bulgaren, Polen die Ärzte weg und bekommen als Zuschlag noch billigst Wanderarbeiter für unangenehme Jobs in der Fleischindustrie etc. obendrauf.
In Deutschland werden seit Jahrzehnten die Weichen falsch gestellt. Nicht vorhandene Einwanderungspolitik, trotz des Wissens, dass die Gesellschaft überaltert und dass 80zig jährige nur schwer 90zig jährige pflegen können.
Die Infrastruktur wurde bewusst verfallen gelassen, Schienenverkehr, Datennetze, Straßen, Autobahnen.
Eine irrationale Energiepolitik brachte und bringt uns in Abhängigkeiten von Staaten, die man durchaus im Reich des Bösen (nicht nur Putin ist Böse!) verorten kann und dennoch zwangsläufig zu black outs führen wird.
Kurz und gut, wir haben vor Jahrzehnten aufgehört, als Gesellschaft auszuhandeln, wer, was und wie wir sein wollen, leben in der Illusion einer funktionierenden Demokratie, einer guten Verwaltung, einer reichen Gesellschaft, obwohl wir längst eine Zwei-Drittel-Gesellschaft sind.
Aber Bunt & Divers. Und lustig, mit vielen Comedians und jeder hat seine Haut tapeziert mit Tattoos, die chinesische Botschaften in die Shopping-Malls tragen oder bunte Papageien, Schmetterlinge, Dschungellandschaften über die Hitzeinseln der Städte.
Die MINT Fächer werden dieses Rad nicht mehr zurück drehen.
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Was die „große Linie“ angeht, will ich dir überhaupt nicht widersprechen – im Detail durchaus. Ich finde es einfach „arm“, wenn Deutschland sich „Wissen“ nur noch zukaufen kann und aus anderen Staaten nicht nur – wie bisher- Rohstoffe importiert, sondern auch noch „die klügsten Köpfe“ wegkauft. Und ist die Abhängigkeit von der Ware „Bildung“ aus anderen Ländern nicht ebenso fatal wie die Abhängigkeit etwa vom Gas? Die MINT-Fächer werden, wie du schreibst, das Rad nicht zurückdrehen, sie sind Symptom und Teil einer größeren Krise dieser Gesellschaft. Aber wenn das Rad einen Platten hat, wechsele ich es aus, auch wenn ich weiß, dass das Straßennetz insgesamt marode ist. Wir sollten auf die MINT-Fächer, die für mich nicht nur für Schulfächer stehen, sondern insgesamt für die Wissenschaften, das Forschen und das Entdecken stehen, mit dem (brechtschen)Blick Galileis schauen: „Der Verfolg der Wissenschaft scheint mir diesbezüglich besondere Tapferkeit zu erheischen. Sie handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel. Wissen verschaffend über alles für alle trachtet sie, Zweifler zu machen aus allen.“(Leben des Galilei, 14. Bild)
Es sind lächerlich knappe 20 Jahre her, als ich als Pressestellenfuzzi der FH Bochum Texte von den hauseigenen Profs formulierte wie: „Der schiefe Turm von Pisa“..wie Mathematiker an der Leistung von Erstsemestern verzweifeln…und sich damit herumschlugen, denen die Grundrechenarten für Mintfächer beizubringen…hach ja…manches bleibt.
Wert von x ein für alle Mal auf 5 festgesetzt
https://www.der-postillon.com/2012/08/mathemuffel-erleichtert-wert-von-x-ein.html