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Es ist eine Eigentümlichkeit unseres Wahlsystems, dass es einer Fremd- und Selbsttäuschung Vorschub leistet. Ursache dafür sind wesentlich zwei Aspekte: Für die Mehrheitsbildung spielen die Nichtwähler keine unmittelbare Rolle, sondern nur eine mittelbare. Zweitens: Das System fördert bei der Auswertung der Wahlergebnisse und des „Erfolgs“ der Parteien eine auf Prozentpunkte ausgerichtete Betrachtungsweise. Diese beiden Faktoren führen dazu, dass ein Verlierer sich als Gewinner betrachten und der Schwanz mit dem Hund wedeln kann.
Schauen wir mal zunächst auf die CDU, die nach Prozentpunkten deutlich vor der SPD und noch deutlicher vor den GRÜNEN liegt (35,7 zu 26,7 zu 18,2). Aus diesem Ergebnis leitet die CDU, entsprechend den tradierten Regularien, den Anspruch ab, mit einem Regierungsauftrag versehen zu sein und die anderen Parteien zu Gesprächen einzuladen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass die Prozentpunkte sich auf die abgegebenen gültigen Zweitstimmen beziehen, also auf 7 201 210 Stimmen, nicht aber auf die Zahl der Wahlberechtigten (12 964 754). Von denen haben nur 55,5% überhaupt ihre Stimmen abgegeben. Und etwas mehr als 54000 Wahlberechtigte haben ungültige Stimmen abgegeben, also keine Partei oder gleich mehrere angekreuzt oder irgendeinen mehr oder weniger sinnvollen Text auf dem Wahlzettel hinterlassen und dergleichen mehr. Die größte Partei ist auch bei dieser Wahl einmal mehr die Partei der Nicht-Wähler.
Die Perspektive verändert sich bzw. wird klarer, wenn man auf die absoluten Zahlen schaut: Prozentual hat die CDU im Vergleich zur Wahl 2017 dazu gewonnen, absolut betrachtet, also bezogen auf die tatsächlich abgegebene Zahl der Stimmen für die CDU, hat die Wahlsiegerin beträchtliche Einbußen erlitten, denn 2017 wurde sie von 2 796 683 Wählerinnen und Wählern mit der Zweitstimme gewählt, bei der Wahl am Sonntag von 2 552 337 Wahlberechtigten. Die CDU hat also einen prozentualen Zuwachs erzielt, obwohl sie 244 346 Zweitstimmen verloren hat.
Tatsächlich an Stimmen dazu gewonnen haben die GRÜNEN, die ihre Stimmenzahl (Zweitstimmen) gegenüber der Wahl von 2017 (539 062) auf 1 299 580 Zweitstimmen mehr als verdoppelt haben. Sie haben also nicht nur einen prozentualen Zuwachs erzielt (plus 11,8%), sondern auch einen tatsächlichen Stimmenzuwachs. Setzt man allerdings ihre Stimmen in Bezug zur Zahl der Wahlberechtigten, dann erkennt man, dass sie gerade einmal von rund 10% der Wahlberechtigten gewählt worden sind. Die beiden „Gewinner“ der Wahl repräsentieren, auf die Zahl der Wahlberechtigten bezogen, also eine Minderheit der Wählerschaft.
Gehen wir einmal davon aus, dass es zu einer schwarz-grünen Regierungskoalition kommt, werden die Geschicke des Bundeslandes mit den meisten Einwohnern in den folgenden 5 Jahren von einer Minderheitsregierung gelenkt, deren einer Partner gerade mal 10% der Wählerschaft des Landes repräsentiert, aller Voraussicht nach aber einen Einfluss auf die Landespolitik nimmt, der weitaus größer ist, als es die 10% erwarten lassen. Denn die CDU wird weitgehende inhaltliche und personelle Zugeständnisse machen, um eine andere mögliche Regierungskonstellation zu vermeiden. Kommt es zu Schwarz-Grün, bedeutet das: Der grüne Schwanz wird mit dem schwarzen Hund wedeln! Man könnte auch, in Abwandlung eines Satzes, der Franz-Josef Strauß zugeschrieben wird, sagen: Frau Neubauer kann es egal sein, wer unter ihr Ministerpräsident des Landes ist!
Am Beispiel der Grünen wird die Bedeutung der Nicht-Wähler für das Zustandekommen einer Regierung deutlich: Die GRÜNEN haben mit ihren 18,2% der abgegebenen Stimmen einen Anspruch auf Regierungsbeteiligung erhoben. Ihr prozentualer Zuwachs gegenüber der Landtagswahl 2017 ist zwei Faktoren geschuldet: einmal dem Zuwachs an absoluten Stimmen, dann aber auch der gesunkenen Wahlbeteiligung, also dem Anstieg der Zahl der Nicht-Wähler. Die Nicht-Wähler haben den Effekt des Zuwachses bei den absoluten Stimmen auf der prozentualen Ebene deutlich verstärkt (aus 10% aller Wahlberechtigten, die „grün“ gewählt haben, werden 18,2% der abgegeben Stimmen). Wer nicht wählt, wählt also doch! Wer die GRÜNEN nicht mag, aber nicht zur Wahl gegangen ist, hat ihren prozentualen Aufstieg begünstigt!
Diese Problematik ist unserem Wahlsystem immanent, das bekanntlich ein sogenanntes „personalisierte Verhältniswahlrecht“ ist mit Erst- und Zweitstimme und durch Ausgleichs- und Überhangmandate gerne seit Jahren zu einer Aufblähung der Parlamente führt, wie bei der letzten Bundestagswahl auch. Die Parteien, die laut Grundgesetz bei der Willensbildung „mitwirken“ sollen, haben sich durch dieses System längst den Staat angeeignet, weil Möglichkeiten der unmittelbaren Beteiligung (Volksabstimmungen etc) nicht im Interesse der Parteien sind, denn die Ergebnisse sind gelegentlich nicht die von Politikern gewünschten (siehe Schweiz). Zudem wird ihr Einfluss geschmälert,wenn die Menschen direkt entscheiden können!
Gleichzeitig haben aber über die letzten Jahre die Parteien, von den GRÜNEN abgesehen, ihr Profil verloren: Die CDU ist ebenso vergrünt wie die SPD, die der grünen Ideologie aber noch energischer hinterherläuft: siehe die Wahlplakate mit Kutschaty und Windrädern und den vorauseilenden Gehorsam in Bezug auf alles ist, was irgendwie woke ist bzw. für sich wokeness in Anspruch nimmt. Die SPD verliert dabei ihre Kernklientel aus den Augen, wird aber von der woken Brüder- und Schwesternschaft trotzdem nicht gewählt. Die wählt dann lieber das Original!
Die CDU hat in den sechzehn Merkel-Jahren ihre Identität zerlegt. Als Partei der sozialen Marktwirtschaft mit einem durchaus einflussreichen sozialen Arbeitnehmer-Flügel wird sie nicht mehr wahrgenommen. Auch sie hat nicht mehr die Kraft, den grünen Zaubersprüchen entgegenzutreten, sondern opfert das Wirtschafts-und Gesellschaftssystem Ludwig Erhards auf dem Altar grüner Phantasmagorien!
SPD und CDU haben einen großen Teil ihres Stamms an Wählerinnen und Wählern verloren: Ihnen fehlt die Bodenhaftung, die Verankerung in der Bevölkerung – natürlich auch, weil es die „klassischen“ Wähler nicht mehr unbedingt gibt (Kern der Arbeiterschaft bei der SPD). Auch die Bindung zwischen (katholischer) Kirche und CDU ist zurückgegangen, denn viele Christen haben sich von der Kirche abgewendet – eine Vergreisung hat stattgefunden. Und auch das wirkt sich auf die ehemalige Wählerschaft der CDU aus.

Zudem: Die alten Vorfeldorganisationen von SPD und CDU (Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen, Jugendgruppen) haben an Bedeutung verloren, sind geschrumpft oder durchleben eine Phase der Auflösung. Den GRÜNEN kommt das entgegen, denn sie verkörpern ein Lebensgefühl, das ihre Wählerschaft an die Urnen treibt, auch wenn sie nicht unmittelbar in der Partei als Mitglieder wirken. SPD und CDU haben – im Verbund mit zahlreichen Medien – das grüne Lebensgefühl hoffähig gemacht, abschöpfen können sie das aber nicht in Form von Wählerstimmen.
Die Ernte fahren die GRÜNEN selbst ein!

https://www.wahlergebnisse.nrw/landtagswahlen/2022/aktuell/pdf/a000lw22.pdf

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Fra.Prez.

Deine Rechen- u. Relativierungskunst beeindruckt. Man erkennt den alten Pauker. Universell einsetzbar auch als Springer in Mathe

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Fra.Prez.

Stelle bitte Deine Talente nicht unter den Scheffel!

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Heinz Niski

Armut wählt nicht. Nie.

Die mangelnde Wahlbeteiligung und die daraus fehlende Legitimation der Gewählten sind eindrucksvolle Argumente für eine Demarchie und einen Bürgerrat.

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/buergerbeteiligung-mit-dem-losverfahren-die-demokratie-retten-16268760.html

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Last edited 1 Jahr zuvor by Heinz Niski
M.A.

„Ab wie viel Prozent Wahlbeteiligung ist diese Legitimität gegeben?“ Es gibt scheinbar kein Quorum bei Land- und Bundestagswahlen. Somit müsste die große Gruppe der Nichwähler den Willen der Wähler hinnehmen, selbst wenn es nur wenige Tausend wären.
 
„Den GRÜNEN kommt das entgegen, denn sie verkörpern ein Lebensgefühl, das ihre Wählerschaft an die Urnen treibt“…  ein Lebensgefühl, welches Anspruch und tatsächliches Handeln oft weit auseinanderklaffen lässt. Es ist ein munterer Ablasshandel „Grün“ zu wählen. Wer „Grün“ wählt hat genug zur Rettung des Klimas beigetragen und nimmt für sich in Anspruch, in unbeobachteten Momenten gern mal über die Stränge zu schlagen, so meine Beobachtungen. Jutta Ditfurths Buch „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen“ ist, obwohl vor mehr als zehn Jahren erschienen, aktueller denn je.

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