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Es gibt den ganz realen Krieg. Den Krieg auf den Schlachtfeldern und in den Luftschutzbunkern, den zu Wasser und in der Luft, den mit echten Menschen und mit echten Toten.
Es gibt den Krieg der Worte. Worte, die zu Lügen gerinnen und zu Durchhalteparolen, die Hoffnung bringen oder von Verzweiflung künden, die Trost spenden oder Angst auslösen, die uns manipulieren oder nichts andere sind als Asche aus den Mündern derjenigen, die die Worte gesprochen haben.
Und es gibt den Krieg der Bilder. Bilder, die verzerren und entstellen, die die Wirklichkeit erhellen oder auch verkleistern, die uns manipulieren oder ergreifen, die vielleicht nichts anderes sind als verpixelte Munition und Geschosse aus Kameralinsen.
Der reale Krieg, die Worte und die Bilder: sie fließen ein in Inszenierungen, die uns ergreifen oder abstoßen, begeistern oder gähnend zurücklassen, uns empören oder sogar gruseln lassen. Und es gibt Inszenierungen , die peinlich sind, aber doch aufschlussreich, wenn auch vielleicht unfreiwillig.
Wer Ausschnitte der Veranstaltung auf dem Roten Platz mit Putin als Redner und Szenen der Rede von Selenskyj gesehen hat, wie er durch Kiew geht und sich dabei direkt an das (mediale) Volk gewendet hat, der sieht einen weiteren Unterschied: den Unterschied zwischen einer Laienspiel-Schar mit einem schlechten Hauptdarsteller und einem Profi mit Charisma! Und dies ganz unabhängig von all den Diskussionen, etwa zu Waffenlieferungen, und der Frage, worauf der Krieg eigentlich hinausläuft, wenn er einmal beendet ist!
Putin, dessen Gesicht wie mit Botox behandelt wirkt, sitzt auf der riesigen Tribüne wie eine leblose Puppe, mitten zwischen tatterigen Alt-Generälen, die nur noch von ihren Uniformen zusammengehalten werden. Uniformen, die voll gehängt sind mit Orden in einer lächerlichen Vielzahl. Orden, die auch Karnevalsorden sein könnten oder Orden von Schützenvereinen aus oberbayerischen Bergdörfern oder Plastikspielzeug aus Überraschungseiern. Man wartet darauf, dass jeden Moment eine Brigade uniformierter Krankenschwestern erscheint, bewaffnet mit tragbaren Infusionsständern, an denen, je nach Bedarf, Infusionsflaschen, Blutwärmer, Infusionspumpen oder Spritzen gehängt sind, um die versammelte Schar der Militärmumien zumindest bis zum Ende der Veranstaltung am Leben zu halten.
Und Putin selbst, bei der Rede stehend, ist tonlos im Vortrag, glanzlos in den Augen, wirkt wie festgeschraubt am Rednerpult, steif wie seine eigene Madame-Tussauds-Wachspuppe, bei der aber niemand länger verweilt, um sie aufmerksam zu betrachten. Vielmehr geht man an ihm zügig vorüber – im Kopf eine Rocky-Horror-Show-Erinnerungszeile: It´s so boring! Oder, um es etwas literarischer mit Anklang bei Heinrich Heine zu sagen: Er hat den Stock verschluckt, mit dem er verprügelt wurde. An einer Stelle der Rede entsteht eine nicht zur Dramaturgie gehörende Pause, weil Putin leichte Schwierigkeiten damit hat, die Blätter seiner Rede auseinander zu fummeln, um auf die Folgeseite zu kommen. Bei einigen von der Tattertruppe blitzt der Gedanke auf, man habe es geschafft und könne endlich tot vom Stuhl kippen und seinen Frieden haben. Aber dann geht es doch weiter mit der Rede. Durchhalten also! Am Ende von Putins Vortragsbettelsuppe soll wohl ein begeistertes und begeisterndes HURRA des Redners erschallen, aber Putins Versuch gerät zu ein Art kläglichem letzten Seufzer auf dem Totenbett eines Mannes, der weiß, dass er einen Krieg führt, den er längst verloren hat, was er aber sich und der Welt nicht eingestehen will. Und darüber täuschen auch die aufmarschierten Regimenter und die vorbei rollenden Militärfahrzeuge nicht hinweg. Der Mann ist, jugendsprachlich formuliert: ML. Und das heißt hier nicht marxistisch-leninistisch, sondern „neudeutsch“ MAXIMAL LOST! In einer in Russland verorteten Neuverfilmung von „Die toten Augen von London“ könnte er mitspielen und die Rolle des „blinden Jack“ Jacob Farell ausfüllen. Vladimir Putin als die „toten Augen von Moskau“.
Selenskyj dagegen: Er geht alleine durch „sein“ Kiew, die Stadt, an der die Eroberer (bisher) gescheitert sind. Er ist in Bewegung, dynamisch, spricht das Publikum direkt an und schaut das (imaginäre Fernseh-)Publikum direkt an, spricht ohne Manuskript in der Hand, ist mal dramatisch, mal emotional, mal spricht er mit Emphase, mal nimmt er sich leicht zurück. Er steht der Riesenmacht auf dem Roten Platz gegenüber, er als Person, als einzelner Mensch, stellvertretend für die Ukrainer als Volk. Er ist nicht umgeben von Militärs – er ist der einsame Ritter, der sich gegen einen übermächtigen Feind behauptet. Er ist David, der Goliath besiegen wird. Er ist siegesgewiss, er verkörpert diesen Sieg! Er zeigt: „I´m Still Standing“ (Elton John) und „Against All Odds“ (Phil Collins) in (s)einer Person: Wir widerstehen – gegen alle Chancen, Voraussagen und Annahmen! Selenskyj gibt sozusagen den ukrainischen Themistokles, der sich gegen Putin und seine Armee stellt wie der griechische Anführer sich gegen Xerxes I. und sein Riesenheer gestellt und den Sieg davon getragen hat (Seeschlacht von Salamis, 480 vor Christus).
Wir sehen also zwei Inszenierungen, aber nur eine, die zeitgemäß ist, also modernen Inszenierungstechniken entspricht, aktuelle Stilformen verwendet und an heutige Sehgewohnheiten anknüpft. Und wir sehen eine altbackene Inszenierung, die wirkt, wie einer der verstaubten Sandalen-Filme aus Hollywood mit ihren Massen an Statisten und Mengen an eingesetztem Requisiten-Material vor einer Kulisse aus Pappmaschee. Wir sehen einen Hauptdarsteller, der sich selbst überlebt hat, und einen anderen, der uns zeigt, wie man das heute als Profi machen muss.
Wir sehen einen Politikerdarsteller, der müde und ausgelegt ist, und wir sehen einen Schauspieler, der sein Handwerk versteht und deshalb als Politiker Wirkung entfalten kann.
Und dem das bisher – entgegen allen Erwartungen und Voraussagen – gelungen ist!

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Die echten Gerontokraten waren doch Breschnew, Andropow, Tschernenko und Jelzin. Putin hat mit seinen Ritten auf Bären, Tigern, seinen 500 Meter Apnoe Tauchgängen, seinen Flügen als Kranich Reiseführer, seiner Nation einen vitalen Kontrapunkt spendieren wollen.
Seine Zielgruppe steht sicher mehr auf „steifer Würde“, Selenskyj ist in seinem Image als dynamischer Macher gefangen, als zupackendes Raubein, der die politische Elite der westlichen Hemisphäre zusammen mit seinem Ausputzer Melnyk vor sich her treibt.

Als Method Acting geprägter Konsument, ist mir Team Selenskyj/Melnyk näher, als von den Auswirkungen dieses Scheiß Krieges Betroffener, bekommt keine Seite eine Haltungsnote von mir.

Beide haben nicht alles Mögliche und Nötige getan, um diese Katastrophe zu verhindern.
Beide haben als Politiker, als Strategen versagt. Die Toten auf beiden Seiten, sind wie immer auch Opfer der medialen Inszenierung von Kriegsgründen, Kriegslügen, Kriegspropaganda.
Die Welt dabei zum ersten Mal allerdings in Echtzeit auf Facebook, Twitter und &.

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Ex-SPD-Wähler

https://youtu.be/FOkwT20PrSc
Desinformation und Propaganda. wer lügt glaubwürdiger?

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Heinz Niski

Gesammelte Bonmonts des Dieter Bohlen der Diplomatie – man fragt sich manchmal, ob da Koks im Spiel ist.

https://www.heise.de/tp/features/Arschloch-Leberwurst-Putin-Versteher-Die-Top-Ten-der-Andrij-Melnyk-Attacken-7081189.html?seite=all

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M.A.

Beide versuchen ihre Zielgruppen zu bedienen und entlarven dadurch mehr als ihnen lieb sein sollte. ARTE sendet parallel die Selenskyj-Fernsehserie „Diener des Volkes“ (jetzt als Stream verfügbar) und vermischt dadurch Realität und Fiktion. Originaltext Arte: „Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, ehemaliger Schauspieler und Komiker, spielt in der Serie „Diener des Volkes“ die Rolle, die sein Leben veränderte: einen Geschichtslehrer, der über Nacht zum Präsidenten der Ukraine wird. 2015 wird die Serie im ukrainischen Fernsehen mit großem Erfolg ausgestrahlt. Knapp vier Jahre später gewinnt Selenskyj mit seiner nach der Fernsehserie benannten Partei die Parlamentswahlen und wird Präsident der Ukraine. Eine Serie, die den Lauf der Geschichte beeinflusste.“ Besonders der letzte Satz ist kaum zu toppen. Selbst ARTE kann das nicht mehr auseinanderhalten.

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Heinz Niski

Was ist da los..?
Nicht die toten Augen von Moskau haben uns gestern den Gashahn zugedreht, sondern der flotte Herr Selenskyj.
Nix zu lesen darüber in den Medien, wird also nicht so schlimm sein.
Wurde nicht genau deshalb Nordstream 2 gebaut? Um die Störungen Dritter zu verhindern?

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