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Im Englischen wird das Wort „Bedlam“ als Bild für einen Ort chaotischer Verwirrung und des Wahnsinns verwendet. Die Wortbedeutung geht auf das Bethlem Royal Hospital zurück, das 1247 während der Herrschaft Heinrichs III. von England als Teil des Neuen Ordens von St. Mary of Bethlem in London gegründet wurde. Bis 1377 war das Haus zu einer der wenigen Einrichtungen in Europa geworden, die sich um psychisch Kranke kümmerten.

British Museum, Public domain, via Wikimedia Commons

Zwischen 1536 und 1540 löste König Heinrich VIII. die Klöster auf und enteignete die römisch-katholische Kirche. Das Krankenhaus St. Mary of Bethlehem wurde säkularisiert und kam unter die Kontrolle der Stadt London. In der Folge wurden die Bedingungen für die Patienten verheerend. Die Versorgung der Kranken wurde auf das Nötigste eingeschränkt, unbändige Insassen wurden angekettet.

Als „Irrenhaus“ entwickelte sich die Anstalt im städtischen Besitz weiter zu einer Touristenattraktion, in der sich die Besucher, die einen Eintrittspreis von zwei Pence pro Person zahlten, über die Possen der Patienten amüsieren konnten. Oft wurden die eingesperrten Insassen von den Schaulustigen gehänselt und bis zur Raserei provoziert.

Obwohl sich das Bethlem Royal Hospital zu einer modernen psychiatrischen Einrichtung weiterentwickelte, steht es historisch gesehen für die schlimmsten Auswüchse der „Irrenanstalten“ in der Geschichte.

Zeitsprung: 2016 entstand aus Frust über den in politischen Systemen herrschenden, realen Irrsinn „Time for Bedlam“ von Deep Purple (Text von Roger Glover). Das Stück drückt die Ohnmacht des Einzelnen aus, gegen unsinnige Entscheidungen oder Bevormundungen nicht anzukommen und dem irren Treiben kein Ende bereiten zu können, weil das System es nicht zulässt. Anlass war der Brexit-Entscheid in Großbritannien. Im Mittelteil erschaffen die Musiker eine Atmosphäre von wildem, hektischem Toben und Schreien, das sich immer weiter ins Chaos steigert. Wer ist eigentlich verrückt? Die Besucher oder die Insassen des Irrenhauses? Darunter hämmert der Rhythmus der Zeit. Niemand kann ausbrechen. Kein Entrinnen – von der Geburt bis zum Tod. Alle sind Teil des Systems.

Menschen lassen sich so lange beschwatzen, verängstigen und bevormunden, bis alle den Irrsinn als das neue Normal akzeptieren. Die Welt wird zu einem kalten, unwirtlichen Ort. Wir sehen uns alle in der Hölle wieder…

Zeitsprung: 2022 haben sich heimische Visionen als Tagträume geoutet. Noch hängen einige Besoffene selbstbetrunken an der Illusion einer Energieautarkie. Hektische Reaktionen auf seit Jahren bekannte Sachzusammenhänge zur Schadensbegrenzung des bereits eingetretenen Totalschadens. Fast täglich eine viel zu spät hingelegte 180-Grad-Wende nach der anderen. Immer in Dauerpanik – seit Jahren – und ohne Verstand – seit Jahrzehnten. Befürchtungen zu Gefahren aufgebauscht und die eigentlichen Risiken nicht beachtet.

Ein Land von in sich selbst verliebten Gewählten ohne tiefe Geschichtskenntnis, ohne Ratio, in Gefallsucht und Gefühlsduselei versunken, angeführt von pathologischen Angsthasen, chronischen Vermeidern, gescheiterten Zu-spät-kommern und gut trainierten Wendehälsen.

Auch keine Lösung, aber – sehr laut angehört – besonders wirksam als Überdruckventil, wenn innerlich alles nur noch schreien will, die Tageszeitung vor Fassungslosigkeit schon zerfetzt wurde und der Boxsack bereits seit Tagen schlaff am Boden liegt:

Time for Bedlam (Deep Purple)

Zeit für’s Tollhaus
Ich steig die kalten Stufen der Anstalt für politische Irre hinab, damit ich nie wieder gesehen werde. Ich sage dem Tageslicht Lebewohl. Von nun an werde ich in einem stinkenden Bett aus nassem Stroh verrotten.
Aus der Asche des Lebens heraus habe ich gelernt, mich zu verhalten: Was ich glauben soll, was ich nicht sagen soll – von der Wiege bis zum Grab. Ahhh, wie ein guter, kleiner Sklave.
Ich sauge meine Milch aus der giftigen Titte des Staates, die eindeutig dazu bestimmt ist, jeden Gedanken an Flucht zu unterdrücken. Ahhh, ich ergebe mich dem Schicksal.
Kein Mitleid, kein Mitleid! Ich will kein Mitleid für mich in dieser dreckigen Zelle! Wow, ich sehe dich in der Hölle! Wir sehen uns in der Hölle!
Bin gefangen in der Zeit, bin ein Musterexemplar, bin festgenagelt auf meinem Thron. Mit einer Armee von Schmetterlingen am Pranger, still und behäbig. Ahhh, wir sind nie allein!
Kein Mitleid, kein Mitleid! Ich will kein Mitleid für mich in dieser dreckigen Zelle! Ich sehe dich in der Hölle!
Nach Jahrzehnten des Lebens mit nichts anderem als meinen Überzeugungen: gebrochene Finger, die sich durch die Wände meines Gefängnisses krallen.
Um den Klauen der ewigen Verdammnis zu entkommen: „Ich war im Recht…“
Versuch einer Übertragung des Textes ins Deutsche

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Heinz Niski

Wie es sich für „Zeitenwenden“ gehört, gab und gibt es die passende künstlerische Begleitung in Wort, Bild, Ton dazu.
Reinhard Mey und &:

https://www.youtube.com/watch?v=uq22I531fkE

Das Narrenschiff

https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Narrenschiff_(Brant)

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Last edited 2 Jahre zuvor by Heinz Niski