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Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden.“ (Bertolt Brecht)

Was Brecht hier in ein geschichtsphilosophisch zu verstehendes Beispiel packt, kennt der berühmte Volksmund in der Weisheit: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Welche Folgen Putins Krieg gegen die Ukraine zeitigt, außer der Zerstörung eines Landes und dem menschlichen Leid, das mit Krieg immer einhergeht, ist nicht voraussehbar. Die gewünschten Folgen sind nicht immer die, die kurz-, mittel- und langfristig eintreten. Es mag also sein, dass Putin militärisch siegt und eine ihm genehme Marionettenregierung einsetzen kann. Was der Krieg gegen die Ukraine aber dauerhaft für Russland selbst bedeutet, in ökonomischer, militärischer und geo- wie innenpolitischer Hinsicht, ist momentan nicht seriös voraussagbar. Kurzfristige Folgen sind aber jetzt schon absehbar – auch in Deutschland:

1. Das Böse hat wieder ein Gesicht
Das Böse hat wieder ein Gesicht. Und dies in doppelter Hinsicht. Natürlich ist es zunächst Putins Gesicht. Bei den zahlreichen Demonstrationen der letzten Tage war auf Plakaten und Transparenten immer wieder das Gesicht Putins zu sehen, gerne auch mit Hitler-Attributen wie Bärtchen oder Frisur versehen. Die Zuschreibungen wie Diktator, Tyrann, Machthaber und Alleinherrscher haben das Wort Präsident oder Staatschef ersetzt, Kreml-Herrscher geht noch gerade so durch. Auch Spekulationen über seinen geistigen, psychischen und physischen Zustand sind ein beliebtes Thema geworden.
Entscheidender aber ist, dass „der Russe“ als solcher nun wieder das Gesicht des Bösen geworden ist, wie er es zur Zeit der NS-Propaganda neben „dem Juden“ als Element der Propaganda von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ bereits war und auch in der Zeit des „Kalten Krieges“ noch gewesen ist. Nun ist inzwischen bei uns der Feind aus dem Kalten Krieg von einem Feind-Bild zu einem realen „Feind“ geworden, glaubt man den Nachrichten über Angriffe auf russische Geschäfte und Einrichtungen und selbst auf Einzelpersonen, die als „Russen“ identifiziert werden. Beispielhaft sei der Angriff auf einen russischen Supermarkt in Oberhausen genannt (eingeschlagene Scheiben, Farbschmierereien). Aber auch zunehmende „Entrussifizierung“ in deutschen Supermärkten durch Streichung von Produkten aus dem Sortiment, die als „russisch“ gelten, deuten auf diese Tendenz hin, wobei etwa bestimmte Wodka-Sorten, aber auch andere Produkte überhaupt nicht aus Russland kommen, sondern nur als „russisch“ beworben werden. Und selbst im Kulturbereich kommt es zu einer „Entrussifizierung“, wenn etwa Gastspiele russischer Künstlerinnen und Künstler abgesagt werden, russische Dirigenten, die sich keinem „Gesinnungstest“ (Haltung zu Putin) unterwerfen wollen, mal eben schnell entlassen werden. Selbst der „russische Zupfkuchen“, der überhaupt nichts mit Russland zu tun hat, verschwindet aus Bäckerei-Theken.
Innerhalb kürzester Zeit hat jedenfalls „der Russe“ als solcher den Querdenker, Korona-Leugner, Impf-Gegner, Verschwörungstheoretiker und Halb- oder Vollnazi als Feind Nr. 1 und Gesicht des Bösen abgelöst. Dabei schwingen sicherlich nicht nur die aktuellen Ereignisse mit, sondern tief sitzenden Vorurteile gegenüber „den Russen“, die die Jahrzehnte überdauert haben. Putin hat der Welt und den Deutschen eine neue alte Feindfigur geschenkt, die verschüttet schien. Dieser Feind ist sozusagen die verzerrte Spiegelung der Propaganda Putins, wenn er die frei gewählte ukrainische Regierung als eine Bande von Nazis bezeichnet und den eigenen Nationalismus kultiviert und chauvinistische Großmachtphantasien reaktiviert. Als Reaktion auf diesen Nationalismus bleibt eigentlich nur ein Zitat von Harald Schmidt: „Weißt du, warum die Schotten Whisky, die Franzosen Wein, die Russen Wodka und die Deutschen Bier trinken? Damit man die einzelnen Nationen an ihrer Fahne erkennen kann.

2. Der Krieg als Vater aller Dinge
Im Moment findet ein Gesinnungswandel im Sekundentakt statt. Keine feste Überzeugung und mancher politische Glaubenssatz, seit Jahren gewachsen, scheint mehr Bestand zu haben. Über Jahre hinweg hat die (merkelsche) Regierung der Bundesrepublik ein auch von Deutschland beschlossenes NATO-Ziel nicht umgesetzt und allerlei billige Erklärungen dafür gefunden, die beschlossenen 2% des BIP für die NATO nicht bereitzustellen. Nun aber, angesichts des Krieges in der Ukraine, überbietet man sich in der Eilfertigkeit der Erfüllung dieses Ziels, und Kanzler Scholz kündigt zugleich die Bereitstellung von 100 Milliarden EURO für die Modernisierung der Bundeswehr an. Einige der Ziele:
Die Luftwaffe soll ihre alternden Tornados ausmustern. Bei der Suche nach einem Nachfolger gilt der Kampfjet F-18 als Favorit.  Auch die Entwicklung des Eurofighters zu einem Flugzeug für den elektronischen Kampf soll forciert werden. Die Drohnen der Bundeswehr sollen bewaffnet werden.*
Besonders letzteres hat die Partei des jetzigen Kanzlers mehrfach abgelehnt, lediglich Aufklärungs-Drohnen wollte die SPD zulassen. Und was die GRÜNEN angeht: Die Friedenstaube als Emblem hat wohl ausgedient. Der Regierungszugehörigkeit wegen ist Aufrüstung, auch über die Aufnahme riesiger Schulden in einem Schattenhaushalt als „Sondervermögen“ in Neusprech nach Art Orwells sprachlich versteckt, für die EX-Friedenspartei wohl kein Tabu mehr. Die Friedensgesänge verstummen, das Peace-Zeichen wird eingemottet, Realpolitik ersetzt pazifistische Seifenblasen, die alte Moral-Keule wird ersetzt durch bewaffnete Drohnen.

3. Böse Energie – gute Energie
Plötzlich hat der grüne Energieminister festgestellt, dass der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Atomstrom wohl doch nicht eine so tolle Jahrhundertidee war, weil er – angestoßen durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine – mit dem Rechenschieber ausgerechnet hat, dass ohne Importe von Gas und Öl aus Russland ein Energieproblem auf uns zukommt, weil weder die vorhandenen Windräder noch die Solarmodule russische Gaslieferungen ausgleichen können, so dass, bei all den lautstark verkündeten Sanktionen, russisches Gas auch weiterhin gegen Bares nach Deutschland fließt – Krieg hin oder her! Sogar Energiezukäufe aus den USA, gewonnen durch das teuflische Fracking, sollen vorangetrieben werden. Assistiert wird er dabei von den FFF-Ladies Neubauer und Reemtsma, die nun in blankem Zynismus den Krieg in der Ukraine auch noch für ihre energiepolitischen Seifenblasen instrumentalisieren, wenn sie meinen in die Welt pusten zu müssen, der Krieg zeige, wie notwendig die Energiewende sei, die uns ja unabhängig vom russischen Gas machen würde.

Die Windräder können, glaubt man den beiden Lautsprecherinnen,  eben alles auf einmal: saubere Energie schaffen  und Verhinderung des Krieges anstoßen. Nur dass wir eben leider nicht genug Windräder haben und dummerweise der Wind nicht ständig bläst, um die Grundlastversorgung sicher zu stellen, was Putin und Gazprom freut. Dass die GRÜNEN, große Teile der SPD und die CDU in Gefolgschaft merkelscher Energiepolitik die Milch der frommen Denkungsart von der sättigen Wirkung der regenerativen Energien, die die FFF-Jüngerinnen in Gefolgschaft Gretas serviert haben, zur Leitlinie ihrer Politik gemacht und dadurch die Abhängigkeit von Russland verstärkt und verantwortet haben, bleibt dabei gerne unerwähnt.

4. In der Gefolgschaft Merkels
Von einem Paradigmenwechsel ist seit Tagen häufig die Rede.
Ja, auf einmal ist Militär wieder en vogue, auf einmal steht man fest zu Rüstungs-Beschlüssen und zur NATO. Und auf einmal streifen die Deutschen in Massen ihr pazifistisches Schafsfell ab, und darunter kommt der alte Landser in seiner grauen Wolfsuniform zum Vorschein.
Ja, auf einmal stellt man fest, dass Kohle ein wichtiger Energieträger ist und Atomkraftwerke auch (noch) in Deutschland stehen und dass diese Energiequellen dazu beitragen könnten, die Abhängigkeit vom russischen Gas zu verkleinern und dass das, was gestern noch Teufelszeug gewesen ist, heute ein Leuchtfeuer der Unabhängigkeit von Russland sein könnte.
Ja, auf einmal wird manch einem klar, dass der Wind nicht immer dann passend weht, wenn es sinnvoll wäre, weil er zur Energiegewinnung gebraucht wird, und dass die Sonne nicht immer zu passenden Zeiten scheint und manchmal auch überhaupt nicht – nachts zum Beispiel.
Alte Dogmen in Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Industrie- und Energiepolitik scheinen über den Haufen geworfen zu werden. Doch diese Veränderungen sind nur oberflächlicher Natur, jedenfalls wenn man genauer hinschaut: letztlich stehen diese Entscheidungen, was ihr Zustandekommen angeht, strukturell in der Tradition sechzehnjähriger Politik Merkels. Was nämlich bleibt, ist das, was gerne mit der Phrase „Stunde der Exekutive“ umschrieben wird, aber letztlich nichts anderes ist als die Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie.
In einem voluntaristischen Akt hat Angela Merkel nach der Katastrophe von Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie verkündet, kurze Zeit nachdem auf ihr Betreiben hin die Laufzeiten der Atomkraftwerke durch Parlamentsbeschluss verlängert worden waren. Dass die übergroße Zahl der Toten von Fukushima nicht dem Atomkraftwerk anzulasten war, sondern dem Tsunami, wurde dabei geflissentlich „übersehen“. „Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte 2013 eine Studie zur Einschätzung der Gesundheitsrisiken durch den Unfall. Der Studie zufolge seien außerhalb der am stärksten betroffenen Gebiete keine erhöhten Krebsraten zu erwarten. Deterministische Strahlenschäden seien nicht zu erwarten, da die Strahlendosen in der Präfektur Fukushima weit unterhalb kritischer Werte lagen. Auch seien die Strahlendosen zu gering, um Schwangerschaften negativ zu beeinflussen (…) UNSCEAR veröffentlichte 2015 ein White Paper, in dem sie die in der Zeit seit dem Bericht von 2013 erschienenen 80 Studien auswerteten. Demnach ändere keine dieser Studien die zentralen Schlussfolgerungen des Berichts von 2013.“**
Wohlgemerkt: es geht mir hier nicht um das Für und Wider zur Atomkraft, sondern um ein Beispiel eines Politikstils, der die Rolle des Parlaments aushebelt und Entscheidungen herbeiführt, die letztlich ohne Legitimation durch das Parlament bleiben. Im Stile Merkels sind auch die Entscheidungen der letzten Tage getroffen worden, von denen einige oben beispielhaft erläutert worden sind. Was über Jahre galt, wurde im Minutentakt von der „Regierung“ über den Haufen geworfen – für eine gründliche kritische Bilanz der eigenen Fehler blieben weder Raum noch Zeit, und das mit der Konsequenz: Wer gestern als Militarist verteufelt wurde, weil er für eine Festigung der Bundeswehr eintrat, ist heute „Vordenker“, wer gestern noch Friedenschoräle anstimmte und auf Kirchentagen für den Frieden im Reigen und im Regen tanzte, sieht sich heute als Naivling entlarvt. Wer gestern noch das Loblied der Globalisierung angestimmt hat, weil er meinte, durch die globalisierte Arbeitsteilung wachse die Welt zusammen und Konflikte würden aus wirtschaftlichen Interessen deshalb vermieden, der spricht heute davon, dass man einen Weg aus der Abhängigkeit von anderen (egal ob Energie oder Halbleiter) finden müsse.
Dass die von der Regierung getroffenen Entscheidungen der letzten Tage sprunghaft, halbherzig und letztlich konzeptionslos sind, ist an den Waffenlieferungen abzulesen: Auf das strikte NEIN folgte ein halbgares JA mit der Lieferung von Waffen aus NVA-Beständen und sowjetischer (!) Produktion. Gleichzeitig wird gebetsmühlenartig erklärt, man wolle aber nicht Kriegspartei sein, so als ob Putin auf einer Skala von „gut“ bis „böse“ Deutschland dann bei „noch so eben gut“ einordne, weil er diese feinsinnige Unterscheidung ebenso mache wie die – aus schlechtem Gewissen – erfolgte deutsche Umkehr! Deutschland sei eben Teil der NATO und diese sei ein Verteidigungsbündnis für ihre Mitglieder, für die man im Verteidigungsfall einstehen würde, was die Ukraine eben nicht ist, weswegen ihr das Herz blute – so gestern noch die deutsche Außenministerin im ZDF-Interview! Die Frage, was denn dann deutsche Soldaten in Afghanistan zu suchen hatten und noch in Mali zu suchen haben, wurde leider nicht gestellt. In seiner Rede vor dem Bundestag zum Krieg gegen die Ukraine hat Bundeskanzler Scholz von der „Zeitenwende“ gesprochen. Er sagte u.a.
Wir erleben eine „Zeitenwende“. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf. Ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts. Oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“***
Es ist nur wenige Jahre her, als US-Präsident Barack Obama auch von einer Art Zeitenwende gesprochen hat. Bei ihm klang das so: „Amerika möchte ein starkes, friedliches und blühendes Russland. Die Tage, an denen Großmächte andere souveräne Staaten behandeln konnten wie Schachfiguren, sind vorbei.“

*(vergl. etwa): https://www.morgenpost.de/politik/article234682661/100-milliarden-fuer-bundeswehr-scholz-reaktion-putin.html
**wikipedia/Fukushima: https://de.wikipedia.org/wiki/Nuklearkatastrophe_von_Fukushima.
***https://www.rnd.de/politik/historische-rede-von-olaf-scholz-im-wortlaut-die-welt-danach-ist-nicht-mehr-dieselbe-wie-davor-JPVKDM3PMKS3DBUEY4PYLGYMNA.html

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

@Bernd
erinnerst du dich noch, als Mitte der 80ziger die 3 Tornados bei dir übernachteten und Günter Thews kurzweilige Monologe über den bevorstehenden Untergang des amerikanischen Imperiums hielt? Der Anfang vom Untergang beginnt jetzt. „Nation-Building“ hat ja nirgendwo richtig funktioniert, „Regime-Change“ läuft besser. Kostet zwar Leben, geht einher mit Unruhen, Bürgerkriegen, Kriegen, aber das muss man schon mal für die Neuaufteilung der Welt in Kauf nehmen. Deutschland und Russland als Gegner positioniert, Europa muss nun Amerika den Rücken freihalten, damit Luft ist für die anstehenden Handels- vielleicht sogar heißen Kriege zwischen China und Amerika. Die Frontgeilheit und bedingungslose Kriegslüsternheit von Bild-Döpfner bis zum einfachsten Fazzebuch „Freund“ ist schon verblüffend. Die Aufteilung in Gut & Böse lässt ahnen, wie es im Mittelalter zuging. Würde man Gerhard Schröder auf dem Markt an den Pranger stellen, würden ihn die allermeisten zurzeit mit Scheiße bewerfen und mit Jauche überkübeln, danach teeren & federn und sich gegenseitig loben, weil sie die GUTEN sind. Dass die SPD ihn nun fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, sagt mehr über den moralischen Kompass dieser Partei, als über die nun verfemten Schwesig & Schröder und &.

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Heinz Niski

Eine etwas andere Sicht als die der plötzlichen Bellizisten (die meisten erstaunlich grün) die eigenes politisches Versagen ausschließlich auf die „Fratze des Bösen“ – Vlad dem Pfähler projizieren:

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/518021/Der-Westen-ist-verlogen-die-Putin-Freunde-sind-erbaermlich?src=XNASLSPREGG

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