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Seit Urzeiten geht der gewöhnliche Mensch zu Fuß. Naturgewalten, Krankheiten und Kriege sorgten einst für Unsicherheit im Leben, nicht aber Dinge wie der Straßenverkehr. Fußgänger, die zusammenstießen und dadurch schwer verletzt oder tödlich verunglückten, gehörten zu den seltenen Kuriositäten des Alltags. Der Sturz vom Pferd oder der Achsbruch an der Kutsche war ein Luxusproblem und einst nur wenigen Privilegierten vorbehalten. Die Angst vor hohen Geschwindigkeiten und die Befürchtung daran zu sterben, war dennoch präsent, auch wenn es kaum Gelegenheiten dazu gab, sich schneller als mit 6 km/h fortzubewegen. Erst die Eisenbahn erbrachte im Laufe des 19. Jahrhunderts den Beweis, dass Geschwindigkeit an sich für den menschlichen Körper unproblematisch ist. Ein Problem ergibt sich durch die zeitliche Veränderung des Bewegungszustands. Fällt diese zu groß aus, treten Ausfallerscheinungen auf. Mit den damaligen technischen Möglichkeiten konnten nur große negative Beschleunigungen am menschlichen Körper nachgestellt werden. Sie traten beispielsweise bei Eisenbahnunfällen auf, bei denen die Passagiere in Millisekunden aus der Bewegung zum Stillstand gebracht wurden – meist unfreiwillig. Die daraus resultierenden, zerstörerischen Kräfte forderten ihre Opfer. Doch Eisenbahnunfälle waren anfangs sehr selten. Die Furcht vor dem Verkehrsunfalltod hielt sich darum in Grenzen.

Spätestens mit dem Auftreten einer größeren Anzahl von Automobilen im Straßenverkehr änderte sich die gesellschaftliche Wahrnehmung gründlich. Die Angst vor dem Tod im Auto (Amaxophobie) ergänzte fortan die Palette an Gesellschaftsphobien. Gustave-Désiré Leveau entwarf bereits im Jahr 1903 „Schutzgurte für Autos und andere Fahrzeuge“ und ließ sich diese Erfindung patentieren. Es dauerte noch eine Weile, bis Nils Ivar Bohlin, ein Ingenieur, der bei Volvo seinen Lebensunterhalt verdiente, Mitte der 1950er das Sicherheitsgerät weiterentwickelte, in einen Serien-PKW implantierte und aufgrund der Anzahl seiner Befestigungsstellen „3-Punkt-Sicherheitsgurt“ nannte. Die Körperhaltebänder mussten manuell dem Bauchumfang des Fahrers angepasst werden. Ein zu locker eingestellter Gurt entfaltete seine Haltewirkung nicht. Mitreisende Passagiere ohne Technikverständnis hängten einen zu stramm eingestellten Gurt wieder an die B-Säule des Gefährts zurück und titulierten anschließend wahlweise den Fahrzeugbesitzer oder den Automobilkonstrukteur als Dummkopf.

Wer es sich leisten konnte, bestellte solche Statik-Gurte für sein neues Oberklassegefährt. Im Laufe der Zeit wurde dieses Zubehör auch für günstigere Autos, meist gegen Aufpreis, ab Werk angeboten. Manche Autofahrer, die professionell mit der Beseitigung von Unfallresten auf Landstraßen und Autobahnen beschäftigt waren, rüsteten in ihren privaten Gebrauchtwagen Sicherheitsgurte nach. Die Bilder von an der Lenksäule aufgespießten Fahrzeugführern, vom Lenkrad abgetrennten Köpfen oder aus dem Fahrzeug geschleuderten Beifahrern, deren körperliche Überreste von Bestattungsunternehmen direkt an Ort und Stelle zusammengekratzt und in Zinksärge verfrachtet wurden, schärften bei diesen Personen die Wahrnehmung, dass Autofahren ein Grundrisiko beinhaltet, welches man für sich persönlich verringern könnte. Sie hofften, dass durch Benutzung von Gurten ihr eigener Exitus und der ihrer Liebsten im Fall der Fälle zu einer Verletzung gewandelt werden könnte. Dies war eine realistische Sicht aufgrund des damaligen Stands der Forschung und Technik. Kein Ingenieur behauptete, mit Haltegurten sei man vor dem Tod oder schweren Verletzungen umfassend geschützt. Das taten später andere Akteure.

Der technische Fortschritt ging weiter, gebar eine federbelastete Gurtrolle zur Justierung der Gurtlänge und sorgte so automatisch für die richtige Passform am Mann. Einige Frauen taten sich aufgrund der weiblichen Anatomie dennoch schwer mit der Akzeptanz des strapazierbaren Textilbands. Sie vermuteten negative Auswirkungen auf ihre optische Erscheinung aufgrund zu erwartender, schwerer körperlicher Deformationen im Fall der Fälle. Die Rede war von zerquetschten Brüsten, Strangulationen am Hals und sterbenden Embryonen, eine doppelt-tödliche Falle für Schwangere also. Bei Bedenkenträgerinnen blieb in der Argumentation unberücksichtigt, dass bei einem Unfall in damaligen Fahrzeugen eine nicht angegurtete Person direkt ihren Weg durch die Windschutzscheibe antrat, um anschließend auf der Fronthaube zu verenden. Es herrschte nach einem Unfall schnell Blutarmut in den am scharfschneidig zerbrochenen Frontfenster zerschellten Körpern, falls im Fahrzeug nicht bereits eine Verbundglasscheibe verwendet wurde, die wiederum für ausgeprägte Kopfverletzungen und Genickbrüche sorgte.

In den 1960ern stieg die Zahl der absoluten Verkehrsopfer weiter an, was durch die steil ansteigende Fahrzeugdichte unausweichlich war. Viele Verunfallte verstarben direkt am Unfallort, weil ein öffentliches Rettungssystem nicht vorhanden war. Der Beruf des Rettungssanitäters war unbekannt (erst 1989 eingeführt) und die Infrastruktur, wie Krankenwagen mit Funksprechgeräten oder eine einheitliche Notrufnummer, fehlte vollständig. Zuständigkeiten bei den Behörden und Institutionen waren ungeklärt. Auf der Seite der „Björn Steiger Stiftung“ kann die Geschichte des Rettungswesens in der Bundesrepublik Deutschland nachvollzogen werden, das bis Anfang der 1970er Jahre faktisch nicht vorhanden war und erst auf private Initiative hin entstand.

Der 1969 mit der sozial-liberalen Koalition beginnende „Nanny-Staat“ setzte darum in den 1970ern massiv auf Medienkampagnen zur Erziehung seiner Bürger, um Zeit zu gewinnen für den Aufbau einer zunächst minimalen Notversorgung. Das erste Plakat der staatlich geförderten Werbekampagne von 1971 „Hallo Partner-Danke schön!“  war ganz in grün gehalten und trug den Titel „Klimawechsel im Verkehr.“

Hallo Partner - Danke schön!
Deutscher Verkehrssicherheitsrat, CC BY-SA 4.1

Ein blau-oranger Aufkleber mit grünem Pfeil, ganz im Stil der Pril-Blumen gehalten, verzierte bald nicht nur viele Heckscheiben, sondern fand auch den Weg in die Kinderzimmer, um am abgestoßenen Mobiliar aufgeklebt zu werden. Am Samstagabend um 20.15 Uhr saß die ganze Familie vor dem Fernsehgerät und betrachtete die ZDF-Gala zur Steigerung der Verkehrssicherheit. Live aus dem Zelt des Zirkus Krone in München waren sich alle dort auftretenden A- und B-Promis einig: Nur der Gurt kann Leben retten! Nicht die Expertise der Unterhaltungskünstler, sondern die extra produzierten Singles überzeugten das Publikum endgültig. Es entstanden heute kaum denkbare Werbezweckgemeinschaften von größter gesellschaftlicher Diversität, z.B. „Roberto Blanco mit Günter Noris und die Bigband der Bundeswehr“.

Roberto Blanco
Deutscher Verkehrssicherheitsrat, CC BY-SA 4.1

Plakate zeigten den Gurtskeptikern, dass auch Frauen Sicherheitsgurt tragen konnten. „Könner tragen Gurt“, war darauf zu lesen. Heute wäre so ein Plakat wegen der sprachlichen Ausgrenzung und Unsichtbarmachung der Frau inakzeptabel.

Könner tragen Gurt
Deutscher Verkehrssicherheitsrat, CC BY-SA 4.1

Statistiker errechneten damals, wie viele tausend Leben durch den Sicherheitsgurt gerettet werden könnten. Fortan wurde jeder Unfall, bei dem die Insassen auf den Vordersitzen mit angelegtem Gurt überlebten, als vermiedener Todesfall gewertet. Wenn jeder den Sicherheitsgurt nicht nur angeboten bekäme, sondern auch anlegen würde, könnten praktisch alle Menschenleben gerettet werden, wurde behauptet. Tatsächlich sank die Zahl der jährlichen Toten im Straßenverkehr langfristig. Der Gurt wurde zum größten Lebensretter erklärt. Null Unfalltote im Jahr wurden dennoch nie erreicht, denn auch angegurtete Menschen verstarben im Straßenverkehr. Inwieweit die im Jahr 1973 auf 0,8 abgesenkte Promillegrenze für den Rückgang der Verkehrstoten mitverantwortlich war, wurde nicht erforscht. Bis dahin durfte nämlich auch volltrunken mit 1,5 Promille Alkohol im Blut ein Auto gesteuert werden. Langzeitaufsummierungen von Unfalltoten, wie sie derzeit bei Virenopfern üblich sind, wurden veröffentlicht. Die Angst vor dem Verkehrstod war damit endgültig omnipräsent und gesellschaftsfähig geworden. Als „Gurtmuffel“ wurden sehr bald Menschen bezeichnet, die Gewebeschlingen im Automobil für sich ablehnten. In der veröffentlichten Geschichtenerzählung entstand das Wort „Gurtverweigerer“, die regelmäßig „Leben kosten“.


DWDS-Wortverlaufskurve für „Gurtverweigerer · Gurtmuffel · Gurtpflicht“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, abgerufen am 1.11.2021.

Am 1. Januar 1974 wurde der heute noch übliche „Dreipunktautomatiksicherheitsgurt“ auf den Vordersitzen als Ausstattungsmerkmal für Neuwagen in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben. Einige Menschen weigerten sich dennoch weiter, den Gurt anzulegen. Beliebt war die Begründung, man könne mit Gurt nicht frei atmen, also weder ordentlich rauchen noch während der Fahrt nach einem Gegenstand im Fußraum greifen. Geradezu skurril war die Vorstellung, man könne sich im Moment des Aufpralls am Armaturenbrett mit den Händen abstützen und so vor Verletzungen selbst schützen. Es kursierten Gerüchte, das Gurtschloss könnte sich verklemmen, man käme bei einem Fahrzeugbrand nicht mehr heraus und müsste dann nur wegen des Sicherheitssystems qualvoll verenden.

Sorglose Sofortlosfahrer hatten auch ihre Mühe mit der verordneten Sicherheit. Sie erledigten damals, wie auch heute, auf den ersten Kilometern ihrer Fahrt nebenbei alles Mögliche (kämmen, schminken, rasieren – je nach dem) oder fummelten sich immer bei Fahrtbeginn eine Kippe aus der Jackentasche, um sie mit dem damals als Standardzubehör vorhandenen Zigarettenanzünder, eine elektrisch erhitzte Blechspirale, anzustecken. Von Zeit zu Zeit gelang es ihnen dabei, kunstvoll Brandflecken in die Fußmatten oder den Sitzbezug zu stanzen, wenn das Lenken dazwischenkam. Für das Anlegen des Gurtes jedenfalls fanden diese Zeitgenossen frühestens beim ersten Ampelstopp Gelegenheit. Fiel dieser aus – die „grüne Welle“ ist eine Erfindung zur Verbesserung des Verkehrsflusses, welche 1971 sogar ein eigenes Hinweisschild am Straßenrand bekam – hatten sie bis zur Ankunft längst vergessen, das textile Sicherheitsgerät für die Fahrt anzulegen. Diese eingeübte Routine zu ändern und die Tätigkeitssequenzen auf den ersten Kilometern im Morgenstau zu überarbeiten, fällt manchen Menschen auch heute noch schwer. Deshalb nervt seit Jahren ein gesetzlich vorgeschriebenes, akustisches Signal (der sogenannte Gurtwarner) alle Personen im PKW, falls sie ihr Gurtschloss während der Fahrt nicht geschlossen haben. Der Staat hat an alles gedacht, damit sich eine fröhliche Fahrgemeinschaft von jetzt auf gleich in eine Mobbinghöhle verwandeln kann, falls ein Individuum den Gurt in der Fahrgastzelle meiden will.

Ein paar Jahre nachdem die technischen Voraussetzungen in Neufahrzeugen geschaffen waren, erließ der Bundestag 1976 ein Gesetz, das vorschrieb, den Sicherheitsgurt nicht nur als Angebot für die eigene Gefahrenabwendung mitzuführen, sondern auch anzulegen. Bei Nichtbeachtung drohte eine Ermahnung. Die sogenannte Gurtpflicht appellierte nochmals an die Ratio der Bürger, ihr individuelles persönliches Risiko eines körperlichen Schadens im Unglücksfall zu überdenken. Auf den Rücksitzen waren Sicherheitsgurte zunächst weder vorgeschrieben, noch wurden sie von Meinungsmachern – im Gegensatz zu führenden Experten in der Unfallforschung – als dringend für die im Fond Sitzenden angesehen. Man könne als Hinterbänkler nur maximal bis zu den Vordersitzen fliegen, hieß es. Kinder säßen sowieso hinten, seien sehr leicht und deshalb weniger gefährdet, wurde argumentiert. Auf Urlaubsfahrten bewegte sich der Nachwuchs altersgemäß frei durchs Gefährt. Wenige kamen auf die Idee, den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern mit Kindersitzen festzuzurren, aus der Furcht heraus, man könne mit dem Auto ernsthaft verunfallen. Das auf dem Bauch liegende und durch die Heckscheibe des vorausfahrenden Kombis winkende Kind auf der zur Liege umfunktionierten Ladefläche, war damals ein fröhliches Bild der Ferienzeit und wäre heute eher der Ausdruck eines versuchten Totschlags.

Erst als im August 1984 ein Bußgeld von 40 DM eingeführt wurde und alle Autofahrer, Beifahrer und Mitfahrer jeglichen Geschlechts bei Gurtvermeidung nicht nur ermahnt, sondern mit einem finanziellen Verlust bedroht wurden, erwiesen sich die Bundesbürger als die Opportunisten, die sie bis heute mehrheitlich sind. Sie griffen beherzt zum staatlich verordneten Selbstschutz, der mittlerweile als gesellschaftliche Pflicht dargestellt wurde. Die Rede von der Vorbildfunktion war in den Zeitungsspalten zu finden und sogar die Phrase, man schütze andere, wenn man sich selbst schützt, tauchte auf. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 1986, Kraftfahrer schadeten der Allgemeinheit, wenn sie ohne angelegten Gurt verletzt würden, denn sie könnten am Unfallort dann nicht mehr anderen Unfallopfern helfen, darunter natürlich auch Gurtträger. Wer heutzutage nicht angeschnallte Personen im PKW transportiert, zahlt bis zu 70 € Bußgeld.

Der Sicherheitsgurt zur Linderung von Unfallfolgen war in den meisten Fällen zwar besser als nichts, versagte aber bei komplexen Anforderungen des echten Lebens, wie dem Seitenaufprall, Frontalaufprall mit 50% Überdeckung oder einem doppelten Rittberger mit Dreifachschraube. Das öffentliche Sicherheitsbedürfnis war geweckt, also kamen weitere Sicherheitssysteme auf den Markt, wie der von Mercedes-Benz zur Serienreife gebrachte und seit 1981 angebotene „Prallsack“ für den Fahrer. Durch Pyrotechnik im Ernstfall in Millisekunden aufgeblasen, erschien er vor allem wohlhabenden Amerikanern als Gurtersatz in der Mercedes S-Klasse geeignet zu sein. Aus dem Prallsack wurde dort der „Airbag“ und die Erfindernation Nummer Eins verzichtete fortan mehr und mehr bei allen folgenden technischen Innovationen „Made in Germany“ auf eine Namensvergabe in ihrer Muttersprache. Ein stolzer Airbag-Besitzer, der den Sicherheitsgurt verschmähte und allein auf den Sack vertraute, sah sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten bei einem Crash schnell mit dem hellen Licht am Ende des dunklen Tunnels konfrontiert. Durch Versuche im Test- und Reallabor wurde empirisch nachgewiesen, dass der Luftsack ohne Gurt nicht ausreichend für die Sicherheit von Fahrzeuginsassen sei. Ohne den helfenden Rückhalt des Gurtes entfaltete der Airbag nicht seine Wirkung. Außerdem gab es bald schon Berichte darüber, dass Menschen vom Sack erschlagen statt gerettet wurden. Tatsächlich gab es gut ein Dutzend Todesfälle wegen unplanmäßig gezündeter Airbags aufgrund von korrodierten Zündkontakten in den Feuchtgebieten der USA zu beklagen. Vom explosiv aufgeblasenen Sack während eines kapitalen Unfalls erschlagen zu werden, war und ist seit seiner Erfindung eine Grundangst phobisch veranlagter Zeitgenossen. Ab 1990 gab es Airbags für Beifahrer.

Abschaltvorrichtungen ermöglichten bald darauf auch die Mitfahrt von Kleinstkindern in Babysitzen auf dem Vordersitz. Über 90% aller Fahrzeuge haben heutzutage den Airbag als Sicherheitssystem eingebaut, zwingend vorgeschrieben ist es nicht. Der Gurt ist Pflicht, der Airbag Kür. In journalistischen Veröffentlichungen wird bis heute der Sicherheitsgurt und die Gurtpflicht stark vereinfachend als Hauptursache der fallenden Unfalltodeszahlen dargestellt.

Erfolgsgeschichte
Quelle: https://de.statista.com/infografik/1798/verkehrstote-in-deutschland/

Dabei gab es viele weitere Sicherheitssysteme, die bei der journalistischen Sorgfalt manchmal aus dem Focus gerieten. Ende der 1980er Jahre sorgte das zwar nicht sehr weit verbreitete, aber in der Herstellung kostengünstige, Procon-ten-System dafür, dass das Lenkrad samt Lenksäule (durch ein um Motor- und Getriebegehäuse geführtes Stahlseil) beim Aufprall des Fahrzeugs rein mechanisch vom Fahrer weg ins Armaturenbrett gerammt wurde. Dem Kopf des Bruchpiloten wurde auf diese Weise Raum für ein anständiges Schleudertrauma verschafft, ohne mit dem Steuer zu kollidieren.

Nachteil des Systems war manchmal ein lädiertes Fahrerknie. Davon war in der Werbung keine Rede, denn man hatte ja zwei. Ein verunfallter und durch Procon-ten deformierter Audi war praktisch immer ein irreparabler Totalschaden. Er sorgte also für bleibenden Umsatz im Verkaufsraum des VAG-Händlers. Fahrzeugbesitzer konnten bekennen: „Procon-ten hat mich vor schweren Kopfschäden bewahrt und mit dem kaputten Knie als Nebenwirkung kann ich leben.“

Ab den 1990er Jahren kamen Gurtstraffer, Seitenairbags, Kopfairbags und Vorhangairbags in die Fahrgastzellen. Dazu jede Menge elektronische Helferlein zur Unfallvermeidung. Es entstanden europäische Normen für die Sicherheit von Fahrzeuginsassen. Dadurch wuchsen die PKW vor allem in der Breite, denn um beim Seitenaufprall Verformungsenergie aufnehmen zu können, sind auch Verformungswege an der Karosserie nötig. Das zwangsläufig steigende Fahrzeuggewicht bedingte wiederum höhere Motorleistungen. Der einst energiepolitisch gewollte und ressourcensparende Leichtbau im Automobilbau der 1970er Jahre (Leergewicht VW Passat 1973: 880 kg) wurde auf diese Weise den gestiegenen Sicherheitsvorschriften geopfert (VW Passat 2021: 1600 kg). Aktuelle populäre Vermeidungsstrategien (CO2-Ausstoß direkt vermeiden und indirekt zulassen) führen zu weiteren Gewichtszunahmen: E-Autos in der Passat-Klasse wiegen 2200 kg und mehr. Die Autos in Europa wuchsen auch aus Sicherheitsgründen so stark, dass sie kaum mehr in die Städte passen. Die gefühlte Sicherheit ist ein beliebtes Argument von SUV-Käuferinnen: hohe Sitzposition, gute Rundumsicht und vertrauensvoll große Fahrzeugmasse, an der jeder Unfallgegner zerschellen muss, der in den Fahrweg der Pilotin gerät, die wiederum keinen Kratzer davonträgt. Ein guter Selbstschutz also, der beliebig weiter ausgebaut werden kann. Der Rat der EU hat ab dem Jahr 2022 weitere Sicherheitssysteme in Fahrzeugen verbindlich vorgeschrieben: intelligenter Geschwindigkeitsassistent, Vorrichtung zum Einbau einer alkoholempfindlichen Wegfahrsperre, Fahrer-Müdigkeitserkennung und -Aufmerksamkeitswarnsystem, fortgeschrittene Ablenkungserkennung, Notbremslichter, Systeme für die Erkennung beim Rückwärtsfahren, Unfalldatenspeicher, präzise Reifendrucküberwachung, Notbremsassistenzsysteme, Spurhalteassistenzsysteme, erweiterte Kopfaufprallschutzbereiche, mit denen bei einem Aufprall potenzielle Verletzungen von ungeschützten Verkehrsteilnehmern wie Fußgängern und Radfahrern gemindert werden können.

Fazit: Trotz aller Anstrengungen, Kampagnen und Gesetze konnten der Tod oder schwere Gesundheitsschäden durch Autounfälle bis heute nicht ausgerottet werden. Eine Bundestagsfraktion schlägt darum seit einigen Jahren mit „Sicherheitstempo 130 auf allen Autobahnen“ die Endlösung für das Problem vor und möchte echte Sicherheit schaffen, „damit Deutschland dem Ziel der Vision Zero – Null Verkehrstote im Straßenverkehr – endlich näherkommt“. Der Slogan ist schon einige Jahre alt, stammt vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat e.V. (gegründet 1969) und passt sehr gut in eine Zeit, in der Sektierer am anderen Ende der Welt versuchen, Nanopartikel große Viren radikal auszurotten durch vollkommenen Verzicht auf gesellschaftliches Leben und Monate lange Isolation aller menschlichen Lebewesen.

Es zeigt sich, dass zumindest in NRW die weitgehend zerfallene Autobahninfrastruktur das Bundesland für die nächsten Jahrzehnte in eine Dauerbaustelle mit Sicherheitstempo 80 km/h verwandelt hat. Die tatsächliche Reisegeschwindigkeit von Automobilen liegt also bereits weit unter Sicherheitstempo 130 km/h, denn kaputte Straßen verringern die Geschwindigkeiten der Verkehrsteilnehmer automatisch. Aber das reicht natürlich nicht, solange nicht alle geschlossen bekennen: Ich bin ein*e überzeugte*r Langsamfahrer*in!

Fakt ist auch, dass seit vielen Jahren die wenigsten Verkehrsopfer auf Autobahnen zu beklagen sind. Das Totenreich rekrutiert seine Bewohner vor allem auf der Landstraße und in der Stadt. Dort, auf der Landstraße und später im Reich der Toten, begegnet man der neuen deutschen Kleinfamilie im Lastenfahrrad mit Holzaufbau, wie sie auf einem Werbeplakat zur Bundestagswahl 2021 als Zukunftsvision zu sehen war:

Zukunftsplan

Papa strampelt dank E-Motor-Unterstützung mit 30 km/h und Mama lässt sich kutschieren. Die zwei Kinder tragen seit ihrer Geburt den ganzen Tag lang Helm und sitzen mit ihr im Holzverhau. Da die Dame auf dem Foto keinen erkennbaren Sitz hat, kann man daran keinen Gurt befestigen, der ihren Abflug wirksam verhindern könnte. Wie man sieht, fahren bürgerliche Spießer jetzt wieder ganz ohne Gurt mit einem echten Zukunftsplan ober ohne nachvollziehbares Sicherheitskonzept herum. Sie landen nach dem Zusammenstoß mit einem anderen Verkehrsteilnehmer im günstigsten Fall geschlossen auf der Familien-Intensivstation in der übernächsten Klinik, denn das nächste Krankenhaus wurde bereits im letzten Jahr geschlossen. Zu teuer, zu wenig spezialisiert und kein Personal vorhanden. Man mag sich nicht ausdenken, was mit den Personen in jenem Gefährt passieren wird, wenn sie mit einem modernen E-Bus chinesischer Bauart im Gelsenkirchener Stadtverkehr kollidieren oder bei einem Frontalzusammenstoß mit einem baugleichen Lastenrad mit der relativen Geschwindigkeit von 60 km/h auf dem RS1 Radschnellweg Ruhr. Immerhin ist ein zeitgemäßes Gefährt für den Weg zur letzten Ruhestätte bereits entwickelt und positiv begrüßt worden.

Übrigens wurde die Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn des Sicherheitsgurtes vor gut 50 Jahren ebenso unversöhnlich und verbissen geführt, wie heutige Diskussionen über die Effekte des Maskentragens oder die Angst vor dem Corona-Tod bzw. den Nebenwirkungen des Impfens. Die Gesellschaft kämpfte auch damals um die Deutung des Freiheitsbegriffes, es war von gesellschaftlichen Pflichten die Rede. Es gab eine überzogene Erwartung, dass mit dem Sicherheitsgurt der Verkehrstod aus dem Leben vollkommen verschwinden werde, wenn alle den Gurt verwendeten. Ähnlich wurde vor nicht allzu langer Zeit verkündet, die neuartigen Impftechniken könnten den Krankheitserreger vollständig eliminieren, wenn sich nur alle impfen ließen, was ein paar Muster-Staaten taten und nicht das prognostizierte Ergebnis erhielten. Auch damals waren abwägende Menschen, die sehr gerne mit Grautönen in ihrem Leben in ständiger geistiger Auseinandersetzung leben möchten, in der Minderheit.

Eins allerdings war in der Rückschau anders: Die journalistische Aufarbeitung besaß ein sehr viel höheres Niveau als heute, wie in diesem Spiegel-Artikel „Sicherheitsgurte: Furcht vor der Fessel“  aus dem Jahr 1975 überprüfbar ist. Das Fazit zum Thema Sicherheitsgurt lautete damals übrigens: Selbst die Psychologen, sonst um therapeutischen Rat nie verlegen, müssen passen: »Angesichts der massiven Widerstände gegen den heutigen Sicherheitsgurt und der daraus resultierenden geringen Erfolgsaussichten einer Werbung«, so resümierten die Wissenschaftler der Kölner Bundesanstalt, sei eine »Vorschrift zum Anlegen« nun die »beste Möglichkeit, die Anlegequote durchgreifend« zu erhöhen. – Bleibt die Frage, ob es denn überhaupt des Staates ist, die nützliche Fessel zu gebieten. Und ein bekannter Kollege der Kölner Forscher etwa, der Gießener Psychotherapeut Horst Eberhard Richter, beantwortet sie ziemlich anders. Er ist »sehr im Zweifel«, ob, über intensive Aufklärung hinaus, die gesetzliche Anschnallpflicht »dem üblichen Grad der staatlichen Fürsorge für die Menschen entspricht«. Denn damit werde »aus der Vielzahl von Selbstgefährdungen – Zigaretten- oder Alkoholkonsum, falsche Ernährung, Bewegungsmangel oder Überarbeitung – ausgerechnet eine herausgepickt und ganz rigoros diszipliniert. Eine gewisse Heuchelei«.

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Di.Niew.

Danke! Ihr macht mich schlau.

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Bernd Matzkowski

@ Di.Niew: Gefährlicher Beitrag! Warum? Noch mehr davon und der Herr Kules wird womöglich demnächst als „seriöses Magazin“ eingestuft. Wollen wir das wirklich?

Danke Ali-Emilia für den Beitrag! Manches hatte ich noch in Erinnerung (Führerschein 1971, auch erstes Auto!), vieles wurde aufgefrischt. Aber die Gesamtdarstellung geht über Erinnerungsstücke hinaus und ist einfach klasse!

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Dir.Niew.

keine Sorge. Das haltet ihr nicht durch 😉

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