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Soziologische Beobachtungen vom 24. November 2018 von Ali-Emilia Podstawa

Ein Blatt Papier wurde am Haupteingang des Hans-Sachs-Hauses ins Schaufenster geklebt: „Ebertstraße 11“. Lieferanten hatten Probleme, den Eingang am Hauptsitz der Stadtverwaltung zu finden. Viele sind neu hier. Viele haben keine Ahnung, wo sie überhaupt sind. Wenige wissen etwas mit dem Ort anzufangen. Sie kamen von irgendwoher und leben im Irgendwoanders ihrer Smartphones. – Angekommen.

Einige Barrieren stehen am Heinrich-König-Platz mitten im Weg. In Plastikfolie eingeschlagene, silbern schimmernde und mit roten Bändern verzierte Betonklötze. Sie sollen Massenmörder von ihren Absichten abhalten. Schleife drum. – Sicherheit.

Ein paar Verkaufsbuden stehen in der gleißenden Spätherbstsonne. Keine hat geöffnet. Der Weihnachtsmarkt ist geschlossen. Direkt hinter einer Holzhütte sitzt ein Mann auf einer Bank und starrt die Bretterwand an. Der Blick ist verstellt. Es ist nichts zu sehen. – Hoffnung.

Am Neumarkt steht die Lichtsäule „Prisma“ des Künstlers Jürgen Fischer. Direkt daneben wurde etwas aufgebaut. Blaue und weiße Kunststoffkugeln an einem Gestell aus Stahl montiert. Das ist der Weihnachtsbaum. Wo Platz ist, wird etwas hingestellt. „Passt“ ist ein reines Raummaß in dieser Stadt. – Harmonie.

Ein Kondolenzkranz in den Stadtfarben lehnt neben der neuen Synagoge am Denkmal für die aus Gelsenkirchen stammenden Opfer der Shoah. Kein Mensch quert den Platz. Alles ist ruhig. Die Überwachungskameras zeichnen leere Pflastersteine auf. Letztens ein Steinwurf ins Fenster der Synagoge. Täter unbekannt. Die Demokratische Initiative startete eine Aktion: Zeichen setzen gegen Antisemitismus. Von rechts. Von woher sonst? Kein Polizeifahrzeug hält Wache.– Selbstgewissheit.

Eine schwarze Oberklasse-Limousine sucht an der Georgstraße nach einem Parkplatz. Wenn dem Fahrer irgendwer oder irgendwas nicht passt, hupt er. Mehrfach, anhaltend, immer wieder. Einer von vielen Luxusgeländewagen mit Überbreite fand keinen passenden Stellplatz. Parkbuchten zu schmal. Dutzende Statussymbole parken am Straßenrand oder mitten auf der Straße. Ein AMG mit bulgarischem Kennzeichen blockiert den Gehweg. Motor läuft. Musik läuft. Niemand sitzt drin. Laute Rufe aus den anliegenden Häusern. Fenster sind geöffnet. Haustüren stehen offen. Sperrmüllsammlungen auf dem Bürgersteig. – Toleranz.

Grüppchen junger Männer stehen in der Weberstraße an jeder Straßenecke. Schwarze Kleidung, schwarze Haare, schwarze Bärte, schwarze Smartphones in den Händen. Sie geben sich Zeichen. Links Handy-Shops. Rechts Im- und Export, daneben Frisör und Barbier. Luxusautos fahren im Schritttempo Patrouille. – Achtsamkeit.

Hinter der alten Post ist der Abriss des verrotteten Parkhauses fast geschafft. Ein wenig Raum ist entstanden. Ein wenig durchatmen. Für ein paar Wochen. Dann wird „verdichtet“. Macht man hier so. Früher aus Raumnot, heute aus Gewohnheit. – Eigenart.

Der Zugang zum Bahnhof ist schwer zu finden. Menschen eilen vorbei. Wenn sie was sagen, dann reden sie laut. Sehr laut. Man sieht keine Buntheit. Alle sind gleich. Man hört kein Italienisch, kein Spanisch, kein Griechisch, kein Portugiesisch, kein Polnisch, kein Französisch, kein Englisch, ganz selten Türkisch, noch seltener Deutsch. Man hört keine Vielfalt. – Diversität.

Ein Pensionär geht an den Schaufenstern der Bahnhofstraße entlang. Lodenmantel, Anzug, Krawatte, gebürsteter Hut. Wandelndes Überbleibsel einer vergangenen Welt. Angehöriger einer aussterbenden Art. Steht nicht unter Bestandsschutz, kann also weg. – Weiterentwicklung.

Eine Roma-Frau kniet mitten auf der Straße und bettelt die Passanten an. Ein Rentner in abgetragener Kleidung durchwühlt einen Abfalleimer nach Pfandflaschen. Eine Großfamilie nimmt die ganze Breite der Fußgängerzone ein und zwingt Passanten zum Ausweichen. – Teilhabe.

Zwei auffällig tätowierte junge Frauen laufen Slalom um Fußgänger im Gegenverkehr. Die Augen immer auf ihr Smartphone gerichtet. Jetzt bloß nichts verpassen auf Instagram. Rechts und links namenlose Ladenlokale. Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe. Leerstand. „Demnächst hier Neueröffnung 1 €“. Irgendwas mit Klamotten. Irgendwas mit Telefonen. Irgendwas mit was auch immer. Die Läden kommen und gehen. Wenige bleiben länger. Keiner kennt mehr die Namen der Besitzer. – Strukturwandel.

Leuchtreklame in der Klostergasse: „Nagelstudio“. Darüber blinkt es: „ON“. In der Weberstraße entstand einst Günther Ueckers benageltes Klavier. „Avantgarde“ ist in dieser Stadt nicht mehr zu finden. Das Lackieren von Fingernägeln gilt hier nun als Kunst. Geschäftszweck dutzender Läden in der Altstadt: Haare abschneiden, Hände verzieren. Viele gelangweilte junge Männer müssen ständig zum Frisör. Viele überwachte junge Frauen wollen sich da schön machen, wo es ihnen erlaubt wird. – Kulturwandel.

Eine Skulptur am Augustinus-Haus zeigt einen Bergbaustollen an der Hausfassade. Ein Kohlenhaufen liegt davor. Der Kohlenwagen ist nicht eingefahren. Er hat es nicht bis ins Bergwerk geschafft. Er ist schon vorher umgestürzt. Die Räder stehen in der Luft und drehen frei. Bewegter Stillstand. – Nachhaltigkeit.

Eine junge Mutter mit Kinderwagen eilt die Vattmannstraße entlang. Die schmucklose Ganzkörperverhüllung lässt nur ihr gerötetes Gesicht erkennen. Ängstliche Augen blicken auf das Kind. Ein altes Ehepaar stützt sich gegenseitig, schaut irritiert, weiß nicht wohin. Ein Rollstuhlfahrer quert den Weg. Er drückt sich am Asphalt ab, kommt nur mühsam voran. Seine Schuhe schleifen über den Boden. Ein Mann am Rollator bleibt im Straßenbelag hängen. Eine Frau mit Gehhilfen humpelt ihm entgegen. Ein Elektro-Rollstuhl fährt im Schritttempo an der Fußgängerampel vorbei. Der Fahrer starrt geradeaus. Die Menschen beachten sich nicht. Sie schauen sich nicht an. Jeder trägt seine eigene Last. – Gemeinschaft.

Am Dach des Musiktheaters große weiße Buchstaben auf blauem Grund. Früher wurde dort das aktuelle Bühnenprogramm bekannt gegeben, um Besucher ins große Haus zu locken: „CABARET“, „The Life“ oder „MiR spielt die Musik!“. Lange vorbei. Jetzt formuliert der Intendant politische Durchhalteparolen:

„DIE WÜRDE DES MENSCHEN IST UNANTASTBAR“ – „FÜR EIN SOLIDARISCHES, FRIEDLICHES UND GERECHTES EUROPA. FÜR UNS. FÜR DIE WELT.“ – „UNSERE GESELLSCHAFT IST UND BLEIBT OFFEN, FREI UND STARK“ – „FREIHEIT LEBEN FURCHT BESIEGEN FRIEDEN WAHREN“

Alle paar Wochen eine weitere Umschreibung der Fehlentwicklungen in dieser Stadt. – Fantasie.

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Von Ali-Emilia Podstawa

Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

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12 Kommentare
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Fra.Prez.

Der Text fesselt mich. Danke!

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Mar.Kolb.

@Fra.Prez.

zeigt mir eine traurige Entwicklung unserer Gesellschaft, ich denke natürlich nicht nur in Gelsenkirchen.

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Ro.Bie.

„Falter für Viefalt“ fehlt.

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Fra.Prez.

und „Einfalt für innere Leere“

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Di.Niew.

Filmdrehbuch. Jim Jarmusch.

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Ro.Bie.

@Di.Niew.

Gute Idee – lass uns ein Film-Feature drehen. Wir brauchen allerdings starke Begleitung. Titel: „Unterm Stern Südosteuropas“. copyright…

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Di.Niew.

@Ro.Bie.
Fragen wir Frank Bürgin mal. 😉

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Ro.Bie.

ach was. das machen wir selbst. Da braucht man „A..in der Hose 🙂.

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Di.Niew.

mit der Go Pro. 😀

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Ro.Bie.

Wasn das?

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Ro.Bie.

Da wir wissen, dass der letzte öffentliche Versuch, neulich vom Idunahochhaus vis à vis des HSH zu springen, misslang bzw. eine Frau gerettet wurde, gibt es für den Schreiber vieleicht noch Hoffnung…moment…ali-emilia…mmh.
Blade-Runner-Zeiten…wohin entkommen?

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Neb Diov

„Viele gelangweilte junge Männer müssen ständig zum Frisör.“ 🤣
Mein heimlicher Höhepunkt des Textes. Und irgendwie ging mir beim Lesen immer wieder ein alter SPD-Wahlplakatspruch durch den Kopf. „Gelsenkirchen. Hier leben wir.“

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