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Im ersten Teil des Beitrags schrieb ich u.a.: „Die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur ist allerdings nicht nur ein Problem chronisch unterfinanzierter Gemeinden oder Kreise, also eine Folge von mehr oder weniger selbst verschuldeten klammen öffentlichen Kassen, sondern diese öffentliche Verwahrlosung ist ein Ausdruck der Hintanstellung öffentlicher Belange durch die Regierenden, die um die Zustände durchaus wissen, aber anstatt Lösungen zumeist nur Schuldzuweisungen (Bund-Länder, Länder-Gemeinden und umgekehrt) sowie Kompetenzgerangel, das allerdings eher Inkompetenzgerangel ist, präsentieren, um die Verantwortung von sich wegzuschieben.“ Und ich sprach davon, dass die marode öffentliche Infrastruktur ein Symbol sei für die Verwahrlosung der politischen Eliten.

Die Vernachlässigung der Welt vor der eigenen Haustür

Die aktuellen Diskussionen im Kontext der Unwetterkatastrophe und ihrer Folgen scheinen mir ein Beleg zu sein für einiges, was ich ausgeführt habe. Die Diskussion um Kompetenzzuweisungen, also die Debatte über die Frage, ob mehr Kompetenzen im Katastrophenschutz auf die Bundesebene verlagert werden sollen, ist nichts anderes als die in die Zukunft verweisende Ersatzdebatte für eine andere Debatte, die nicht geführt wird, nämlich die über die Verantwortlichkeiten vor und während der Katastrophe, also die Frage nach dem Versagen staatlicher Stellen und dem Umgang mit den Folgen der Katastrophe. Einmal hinsichtlich des Schadensausgleichs für die geschädigten Familien, Betriebe, Gemeinden und öffentlichen und privaten Einrichtungen, dann aber auch für alsbald umzusetzende Maßnahmen des unmittelbaren Schutzes gefährdeter Gebiete, also etwa die Entsiegelung von Flächen, der Bau von Auffangbecken, die Ertüchtigung von Deichen etc.
Die Regierenden (quer durch alle Lager) haben für die Entschädigung der Flutopfer 400 Millionen Euro Soforthilfe in Aussicht gestellt (pro Person bis zu 3500 EURO). Das hört sich gewaltig an, ist aber eher bescheiden, wenn die Summe anderen Zahlungspositionen gegenüberstellt wird, etwa diesen beiden:
Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan hat, laut tagesschau, rund 12,5 Milliarden Euro gekostet.**
Die Bundesrepublik ist nicht nur seit Jahren der größte Nettozahler der EU-Mitglieder, sondern übernimmt am durch Kreditaufnahme (Schulden!) finanzierten 750 Milliarden-Euro-Corona-Wiederaufbautopf der EU Verpflichtungen in Höhe von über 94 Milliarden, also mehr als das Dreikommasechsfache dessen, was Deutschland aus dem Fonds bekommt, nämlich 25,6 Milliarden.
Beispiele wie diese könnte man noch etliche aufzählen; sie stehen meines Erachtens nach für eine wachsende Tendenz, nämlich die Vernachlässigung des eigenen Hauses und Hofs und das Ausweichen auf die Internationale Ebene, was die Finanzierung von Maßnahmen angeht, die alle (angeblich) der Stärkung der europäischen Idee dienen sollen..
Ich hatte im ersten Teil damit begonnen, die Fahrt auf einer maroden Straße zu schildern. Wenn dies die kleine Straße ist, dann sind die Aufbauarbeiten in den Katastrophengebieten Deutschlands so etwas wie eine „große Straße“. Die Unsummen, die deutsche Regierungen auf andere Ebenen transferieren und für andere Zwecke ausgeben, etwa die Beteiligung am Afghanistan-Einsatz, stehen im Gegensatz zum Kehren vor der eignen Haustür, wo man klamme Kommunen im Stich  und wo man die eigene Bevölkerung allein lässt und mit Brotkrümeln abspeist. Mit etwas Abstand betrachtet, ist der oben erwähnte Betrag von 3500 EURO eine fast beschämende, entwürdigende Zahlung an Menschen, die vor den Trümmern ihrer Existenz stehen.
Ich las kürzlich einen Leserbrief, in dem der Verfasser darauf hinwies, dass die Politiker der Nachkriegsgeneration(en) in der Bundesrepublik eine Reihe ganz bestimmter Ziele vor Augen hatten: die Etablierung einer Gesellschaft, die wieder in den Kreis der Nationen aufgenommen werden konnte (Grundgesetz, Aussöhnung mit „dem Westen“, vor allem Frankreich, Aussöhnung mit „dem Osten“, also Polen, Sowjetunion etc.), die Beseitigung der materiellen Schäden des Krieges und den Aufbau einer funktionierenden Infrastruktur, die Entwicklung demokratischer Strukturen in Politik, Verwaltung und Justiz, die Entwicklung von Bildung, Forschung, Wissenschaft, Kunst und Kultur. Diese Ziele wurden weitgehend erreicht, wenngleich Defizite, Schwächen und Fehlentwicklungen auftraten, etwa im Bereich der Aufarbeitung der NS-Diktatur, der Bildung, der sozialen Teilhabe und der Stadtplanung und Stadtgestaltung (Modernisierungswahn, Abriss und Betonierungskultur, gesichtslose Innenstädte).
Deutschland galt jedoch in vielerlei Hinsicht (Infrastruktur, Ingenieurswesen, öffentlich geförderte Kultur) als erfolgreich und vorbildlich. Die Bundesrepublik wurde eine vorantreibende Kraft auf dem Weg zu einem europäischen Verbund der Staaten. Den eigenen Hof in Ordnung bringen mit allen und für alle, die dort leben und arbeiten, kommt im Grund im Amtseid zum Ausdruck, den angehende Ministerinnen und Minister und auch der Kanzler oder die Kanzlerin bei der Amtseinführung ablegen (müssen), wobei die Gottesformel freiwillig ist:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

An erster Stelle steht, dass die Kraft des Kandidaten dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und sein Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden ist. Danach erst werden Grundgesetz, Bundesgesetze und allgemein Pflichten genannt.
Diese Formel wird immer noch gesprochen, aber die politische Elite ist innerlich längst auf Distanz dazu gegangen. Das „deutsche Volk“ ist aus der Mode gekommen, vielmehr noch: es ist im Kreis der Eliten und der „woken Haltungsgesellschaft“anscheinend geradezu in Verruf geraten, als wenn der Begriff nach 1933 röche.

Wann da etwas ins Rutschen geraten ist, lässt sich nicht auf den Tag genau fixieren. Die Jahrtausendwende mag eine Rolle spielen, der Vollzug der Wiedervereinigung mag den Eindruck erweckt haben, jetzt ist Deutschland „abgearbeitet“, also Haken dahinter. Die Globalisierung mag eine Rolle spielen, weil man meint, in einer globalisierten Welt seien Völker (besonders das deutsche Volk) überflüssig! Vielleicht ist auch das Kunstprojekt von Hans Haacke im nördlichen Lichthof des Reichstagsgebäudes das Signal zur Abkehr vom Begriff „deutsches Volk“ und letztlich damit zugleich das Signal für die Abwendung vom Volk selbst. Der Bundestag stimmte mit Mehrheit der Annahme des Entwurfs von Haacke in einer Sitzung am 5.April 2000 zu.

Im Lichthof wurde daraufhin ein 21 x 7 m großer, von Holzbohlen eingefasster Trog installiert, aus dessen Mitte in weißen Neonlichtbuchstaben die Worte DER BEVÖLKERUNG nach oben strahlen. Sie sind von allen Etagen des Gebäudes aus zu lesen: vom Plenarsaal, von der Presse- und Fraktionsebene sowie von Besuchern auf dem Dach. Die Schrifttype ist dieselbe, die Peter Behrens für die am Giebel des Westportals des Reichstagsgebäudes 1916 angebrachte Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE entworfen hatte. Seit 2000 sind alle Bundestagsabgeordneten eingeladen, aus ihrem Wahlkreis einen Zentner Erde nach Berlin zu bringen und um die Widmung DER BEVÖLKERUNG auszustreuen. Das im Laufe der Zeit frei wachsende Biotop soll unangetastet bleiben.“ ***

Polemisch zugespitzt: Das „deutsche Volk“, dem man per Eid verpflichtet ist, wurde gegen eine „Bevölkerung“ ausgetauscht, womit die Verpflichtung, dem Volke zu dienen, zu einer Leerformel wird. Und erst recht, wenn aus der Bevölkerung im Laufe der Jahre die „Neuhinzugekommenen“ und die werden, die „schon länger hier leben“, wie es die Noch-Kanzlerin einst formulierte.
Wenn es das Volk, dem man sich per Eid verpflichtet hat, nicht mehr gibt, es nur noch eine lästige Größe ist und sich also als Gegenüber und Referenzpunkt der politischen Arbeit aufgelöst hat, dann löst sich halt alles in einem gleichermaßen diffusen wie abstrakten und in bürokratischen Gesetzesvorlagen und Kommando-Schriftstücken aus Brüssel festgeschriebenen Monstrum auf, das dem Bundestagsabgeordneten  letztlich ideologisch näher steht als die kaputte Straße in seinem Stadtviertel.
Wo der „EU- Geist“ weht, hat das „deutsche Volk“ keinen Platz mehr – außer als Netto-Zahler! Warum eine Schule instandsetzen, wenn es doch gilt, die ganze Welt zu umarmen und finanziell zu pampern? Am Beispiel der „Klimakrise“ wird es vielleicht deutlich: Das kleine Deutschland kann und will die Welt retten, sie soll Deutschland folgen, etwa beim „Klimaschutz“, aber die Straße vor der Haustür lässt sich mangels Geld und Planungsvorgaben nicht neu asphaltieren! Und einen funktionierenden Katastrophenschutz bekommen wir auch nicht hin! Die Chinesen lachen über uns – allerdings hinter vorgehaltener Hand, weil sie höfliche Menschen sind! Und bauen in einem Wahnsinnstempo ein Kraftwerk nach dem anderen!

Abgehoben unter  der Reichstagskuppel

Im HerrKules-Gespräch mit EX-OB Frank Baranowski fragten wir u.a.  warum Baranowski sich gegen eine Karriere im Berliner Haifischbecken entschieden habe. Baranowski führte u.a. aus, er habe in seiner Funktion als OB für sich die „einmalige Gelegenheit (gehabt), politische Gestaltung mit dem direkten Draht zu den Menschen zu verbinden.“ Zum Politbetrieb in Berlin sagte er: „Und einen gewissen Einblick hatte ich auch in die Bonner/Berliner Polit-Szene. Meine Befürchtung war immer: Berlin verändert den Charakter, und häufig nicht zum Besseren.“
Interessant daran finde ich Frank Baranowski These, der Politbetrieb verändere den Charakter – häufig nicht zum Besseren. Könnte es nicht auch umgekehrt sein? Könnte es also nicht so sein, dass der Politbetrieb nicht den Charakter verändert, sondern die Seite des Charakters entfesselt, die bereits angelegt war und vielleicht sogar die wahre oder eigentlich dominante Seite ist? Und könnte es nicht auch so sein, dass der Wunsch, im Berliner Politikbetrieb eine Stimme zu haben, Gehör zu finden, im Haifischbecken mitzuschwimmen, nicht genau die Leute anzieht, die dort gebraucht werden? Leute, denen ein Sitz im Parlament und eine Wiederwahl wichtiger sind als eine Überzeugung oder das Eingestehen von Schwächen und Fehlern? Leute, die nicht einmal der Fraktionsdisziplin durch den Vorsitzenden der Fraktion unterworfen werden müssen, weil man nicht in einen Gewissenskonflikt kommen kann, wenn man keins hat?

In einem Kommentar an anderer Stelle im HerrKules wird ein Wesenszug dieser Charaktere durch Ro.Bie. so beschrieben:

Baerbock ist dafür ein gutes Beispiel des mehr Schein als Sein – weil sie lernte: Darauf kommt es an: Mache ich doch aus der Hausmeisterin flugs eine Facilitymanagerin! Das klingt besser. Nein, tut es nicht! Hausmeisterinnen und zwar freundliche, kompetente sind unersetzlich! Da läuft was gehörig in die falsche Richtung der Selbstoptimierung.“

Man könnte die Liste verlängern von Inhabern eines Mandats, die nicht nur durch das Amt „größer“ werden, sondern, die sich größer machen, um das Amt zu erlangen.

Die Liste der Trickser und Fälscher, die unbedingt einen Doktortitel wollten, um ihre Reputation zu steigern, fängt nicht bei Franziska Giffey (SPD) und Silvana Koch-Mehrin (FDP) an und hört nicht bei Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und Annette Schavan (CDU) auf. Sie alle haben, wie Annalena Baerbock mit ihrem zusammengestoppelten Polit-Traktat, geistigen Diebstahl begangen, sich mit fremden Federn geschmückt, die Öffentlichkeit getäuscht und, als die ersten Fragen auftauchten, die Wahrheit gebogen, solange es ging. Was die Worte von George Bernhard Shaw zu bestätigen scheint: „Die Politik ist das Paradies zungenfertiger Schwätzer.“
Was an den genannten Beispielen deutlich wird, ist ein Verrutschen der Maßstäbe – nicht nur der moralischen. Auch ein Verrutschen der Maßstäbe fachlichen Könnens, disziplinierten Entwickelns einer Position und der Seriosität der eigenen Biographie und der Selbstdarstellung. Was im Bereich der politischen Eliten vielmehr in den letzten Jahren zusehends passiert, ist die Selbstmodellierung eines scheinhaften Ichs. Ein Ich, dass Parallelen zu Michael Endes Scheinriesen TurTur aufweist, der bekanntlich immer kleiner wird, je näher er einem kommt. Schaut man näher hin, etwa bei Baerbocks Lebenslauf, erweist sich das Dargestellte als Scheinbiographie, als Biographie, die einen Schein erzeugen soll, der mit den Tatsachen nicht übereinstimmt, wie auch in den Doktorarbeiten der oben Genannten Gedanken einfließen, die eben nicht von den angeblichen Verfassern stammen, sondern angeeignete sind – ohne das diese Aneignung als solche  kenntlich gemacht worden ist. Es entstehen Kunstbiographien und Kunstleistungen, die ein flaches Ich er- und überhöhen sollen. Was mich immer wieder an die mobilen Verkäufer erinnert, die an Touristenorten, etwa am Schiefen Turm von Pisa, gutgläubigen Touristen Markenfälschungen, z.B. teure Uhren von Luxusmarken, für zehn EURO als „echte Exemplare“ anbieten – sogar mit Garantie! So schief wie der Turm von Pisa ist die Beziehung der fliegenden Händler und einer bestimmten Sorte aufstiegsorientierten Politiker zur Wahrheit!
Dass jemand wie Ministerpräsident Kretschmann sich auch noch zum Kumpanen geistiger Fälscher macht, verdeutlicht in erschreckender Weise, wie verludert das Verhältnis zu Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Selbstkritik mittlerweile in den höchsten Kreisen unserer politischen Kaste ist. Zur Verteidigung Baerbocks sagt Kretschmann:

Frau Baerbock bewirbt sich um das Amt der Bundeskanzlerin, nicht um das Amt des Literaturnobelpreisträgers.“

(zitiert nach WAZ v. 28.7.21, Seite WPL2)
Mal abgesehen davon, dass der einstige Lehrer Kretschmann wissen sollte, dass „Literaturnobelpreisträger“ kein Amt ist, um das man sich bewerben kann und das wahrscheinlich mindestens nach Besoldungsstufe A 16 bezahlt wird, muss ich seinen Sätzen entnehmen, dass Tricksen, Lügen, Fälschen, Plagiieren und die Selbstüberhöhung zum Handwerkszeug einer Kanzlerin unabdingbar gehören müssen, ja gerade ein Art Mindestvoraussetzung für das Amt sind.
Wenn diese Äußerung eines Ministerpräsidenten nicht unter „präsenile Demenz“ abgehakt werden kann, dann gibt sie einen erschreckenden, weil erschreckend-ehrlichen Einblick in die Gedankenwelt einer Kaste, die sich nicht nur eigene (un)moralische Maßstäbe setzt, sondern sich vom „gemeinen Volk“ völlig entfremdet hat.

Zwischen den Welten

So lautet der Titel der 337. Folge der Reihe „Polizeiruf 110“ aus dem Jahre 2013. Der Film zeigt ein Leben des äußeren Scheins und einer dahinter liegenden dunkleren Welt, in der die Figuren sich bewegen. Während die Figuren des Films zwischen den Welten Übergänge finden und finden müssen, scheint die Welt der politischen Entscheidungsträger und die Welt der Normalbürger häufig völlig getrennt zu sein. Man spricht oft von der „Blase“, in der sich Bundestagsabgeordnete und andere Angehörige der politischen Elite bewegen. Ihre Ausflüge in die wirkliche Welt beschränken sich häufig auf Stippvisiten im eigenen Wahlkreis zu Veranstaltungszwecken oder Aufenthalte an politikfreien Wochenenden.

Vier Gelsenkirchener Bezirksbürgermeister und eine Bezirksbürgermeisterin (alle SPD) haben dieses Gefühl, in einer anderen Welt zu leben als die Repräsentanten der Stadt im Berliner Parlament oder im Düsseldorfer Landtag, aber auch die städtische Verwaltung, in einem gemeinsamen Interview so formuliert:

Manchmal haben wir das Gefühl, dass die Stadtverwaltung, die Berufspolitiker – auch in Land und Bund – und die einfachen Bürger in verschiedenen Welten leben.“

Und weiter heißt es in der Zeitung, dass sich ihnen„ (…) die Nackenhaare aufstellen, wenn sie an die Arbeitskreise und Integrationsangebote denken, die aus ihrer Sicht nur Kosmetik sind und weit an einer Problemlösung vorbeigehen.“ Die Bezirksbürgermeister, die nah dran sind an den Menschen in ihrem Stadtvierteln, sehen die „Zukunft der Stadt in Gefahr“. Die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden, sind vielfältig: Probleme des Zusammenlebens mit Zuwanderern aus Südosteuropa (Sinti und Roma), Vermüllung, Lärm, Regellosigkeit, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Verwahrlosungstendenzen. Und sie wissen von Gelsenkirchenern zu berichten, die die Flucht angetreten hätten und „ ihren eigenen Stadtteil oder ihre Stadt verlassen haben, weil sie nicht mehr in Frieden und Ruhe leben können.“ Was sie erleben, so formulieren die fünf Sozialdemokraten, sei „Staatsversagen und Kontrollverlust“. (****)

Nichts könnte das Leben in zwei Welten deutlicher machen, als diese Ausführungen der Bezirksbürgermeister. Sie müssen und können sich in ihrem Tagesgeschäft nicht mit der Verwendung von Gendersternchen, der Fragwürdigkeit von Straßennamen unter dem Gesichtspunkt des Rassismus, der Problematik von Kurzstreckenflügen und der Rettung der Welt beschäftigen. Sie haben Wichtigeres zu tun! Sie beschäftigen sich mit wilden Müllkippen vor der Haustür, der kaputten Asphaltdecke, dem abplatzenden Putz an öffentlichen Gebäuden, dem Geschrei auf der Straße zu nachtschlafender Zeit und wild abgestellten Schrottautos!
Den Kontrast zwischen den Mühen der Tiefebenen, in denen sich die Bezirksbürgermeister bewegen, und den bedeutungsschweren Debatten in luftiger Höhe der Reichstagskuppel erkennt man rasch, wenn man die Kritik von S. Wagenknecht an den „Selbstgerechten“ kurz streift:

Doch, die gesellschaftliche Linke kann noch siegen. Sie kann Multis wie den Konsumgüterkonzern Unilever, zu dem die Marke Knorr gehört, in die Knie zwingen. Wegen der Rassismusdebatte in den sozialen Netzwerken, teilte das Unternehmen im August 2020 mit, werde der Knorr-Klassiker Zigeunersauce ab sofort unter neuem Namen als „Paprikasauce Ungarische Art“ in den Supermarktregalen zu finden sein. Freilich, der verschlechterte Tarifvertrag, den Unilever fast zeitgleich zum heroischen Abschied von der Zigeunersauce den 550 verbliebenen Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn mit der Drohung aufgezwungen hatte, den Betrieb andernfalls ganz zu schließen, besteht unverändert. Er bedeutet für die Knorr-Beschäftigten Personalabbau, niedrigere Einstiegsgehälter, geringere Lohnsteigerungen und Samstagsarbeit. Anders als die Zigeunersauce hatte all das allerdings nie für bundesweite Schlagzeilen oder gar für einen Shitstorm der sich links fühlenden Twitter-Gemeinde gesorgt.“

 

Was hier deutlich werden soll: Die andere Welt, von der auch die Bezirksbürgermeister sprechen, ist eine Welt, in der es nicht mehr um die sozialen Probleme der Mehrheits-Gesellschaft geht – das Beispiel des Tarifvertrags, das für eine bestimmte Klientel völlig uninteressant ist- , sondern um bestimmte Haltungsfragen, die in Pyrrhus-Siegen münden (die Zigeunersoße und ihre Umbenennung). Die Umbenennung der Sauce, als antirassistischer Erfolg verbucht, ändert nicht einen Deut an den Problemen des Zusammenlebens, an den Konflikten, die die Bezirksbürgermeister täglich lösen sollen. In der Berliner Blase feiert man die Umbenennung der Sauce als Sieg, weil der Begriff Zigeuner auf Etiketten verschwindet, im Alltag (in Gelsenkirchen und anderswo), beißt man vor Verzweiflung in die Tischkante, weil wir einen Verfall feststellen, der zahlreiche Lebensbereiche erfasst hat (Infrastruktur, Schulgebäude, öffentliche Einrichtung), weil der Riss durch die Stadtgesellschaft und der Verlust an Lebensqualität größer werden und weil Probleme des Zusammenlebens mit bestimmten Bevölkerungsgruppen wachsen werden, egal ob die nun Sinti, Roma, Zigeuner oder sonst wie genannt werden. Etikettenschwindel hilft vor Ort nämlich nicht! Und fällt schnell auf!

WAS TUN?

Kein Lösungsanspruch, aber kleine Hinweise:
Die Schweigespirale durchbrechen, wie es die Bezirksbürgermeister und die Bezirksbürgermeisterin in ihrem Interview gemacht haben und keine Angst vor Beschimpfungen haben(Populist, Rassist, Nazi), wenn wir die Wahrheit sagen, also: SAGEN, WAS IST!
Nicht in Zynismus abgleiten, sondern Optimismus verbreiten!
Die Repräsentanten der Berliner Blase als das benennen, was sie wie der Kaiser in dem Märchen sind: ohne neue Kleider, sondern NACKT!

Und, ich darf mich wiederholen:
Wir dürfen die von uns Gewählten nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir müssten ihr Spiel vom Verantwortung-Wegschieben und Gönnerhaft-Auftreten tagtäglich bemängeln, die Kritik ihrer Verantwortungs-Verwahrlosung zu unserer Morgenaufgabe machen, die wir spätestens nach der ersten Tasse Kaffee in Angriff nehmen.

Wir sollten zorniger werden!

**https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/verteidigung-kosten-101.html
***https://derbevoelkerung.de/
**** https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/gelsenkirchens-buergermeister-zukunft-der-stadt-in-gefahr-id232898313.html
***** Quelle: FAZ v. 11.4.21, Rezension (Auszug) von S. Wagenknechts Buch „Die Selbstgerechten“

Hervorhebungen (Fettdruck/Kursivsetzung) durch mich! BM

 

Teil 1

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Das verrutschen der Maßstäbe auf den „Mühen der Tiefebene“ zeigt sich an dem Beispiel der Bezirksbürgermeister (Buschkowski hats vor Jahren in Berlin vorgelebt, nun kommt es in der Provinz an) recht deutlich. Während der Leidensdruck die einen, schon etwas älteren, zwingt, entgegen ihrer politischen Kadertreue, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, kommen die immer noch stalinistisch gehärteten Mittelalten mit dem Hohen Lied der Gremienhuberei, der Arbeitskreise, Ausschüsse und der Idee daher, dass politische Willensbildung ausschließlich durch repräsentative Filter zu geschehen hat. Das ist DDR 2 + – Stalinismus pur.
Zitat:

„Ich lese da, vor allen Dingen, jede Menge verständlichen Frust heraus.
Frust auf die Stadtverwaltung, Frust auf höher gelagerte politische Ebenen – die Kommunalpolitik sparen die Bezirksbürgermeister:innen, als Praktiker die sie sind, zurecht aus.
Die Frage die sich mir nun aber stellt ist, was diese Verlagerung von den Gremien in die WAZ nun eigentlich bezwecken soll? Es hat ja durchaus seinen Sinn, Themen die sachfremde Ausdeutungen oder gar Störer anziehen, in diskursordnenden Vorformen (Partei, Gremium etc.) zu behandeln – hier geht man den umgekehrten Weg.“

Nachzulesen auf Facebook hier

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Di.Niew.

Es gibt nun die Chance, das Thema aus der rechten Ecke in die Mitte der Gesellschaft zu ziehen. Was durch Erkenntnisverweigerung eben jener, die lautstark „Keinen Millimeter nach rechts“ rücken wollen konterkariert wird, indem sie sich hinter unfähigen Strukturen verstecken und die Verdrossenheit anfeuern.

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Ro.Bie.

@Di.Niew.

Solange solche Texte – hier hübsch aufgemacht – die andere Seite der Medaille aussperren, wird Gelsen von außen eher als erste Nazistadt in Westdeutschland gekürt…
https://www.fluter.de/sinti-und-roma-ausgrenzung-geschichte

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So.Jo.Ti.

Wenn hier der Eindruck erweckt werden soll, dass die Afghanistan-Einsätze der Bundeswehr nur Geld gekostet haben, möchte ich an die Äußerung von Bundespräsident Köhler und Verteidigungsminister Guttenberg erinnern, wonach die Sicherheitsinteressen mit Wirtschaftsinteressen in Verbindung stehen. Dass Köhler (von 2000 -2004 IWF-Präs.) anschließend dafür heftig kritisiert wurde, weil er – wie Guttenberg und Gysi zugaben – die Wahrheit gesagt hatte, brachte seinen sofortigen Rücktritt zum Ende des Monats Mai im Jahr 2010 mit sich. Übrigens hatte auch hier den GRÜNEN in Person von Trittin und Nouripour.
Schaut man sich im weiteren Verlauf zum Beispiel nur dieses Projekt an, wird deutlich, wie gern die Wahrheit unter dem Teppich gekehrt wird. Im TV lief die Tage auch eine Doku über Afghanistan, wo nur über die Kosten, aber nicht den wirklichen Nutzen für die deutsche Wirtschaft berichtet wurde. Wert der Rohstoffe: geschätzte eine bis drei Billionen Dollar. Der deutsch-afghanische Rohstoffdialog wurde 2013 eröffnet.
“ Programm: Förderung guter Regierungsführung im Rohstoffsektor Afghanistans
Auftraggeber: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)
Partner: Afghanisches Ministerium für Bergbau und Petroleum (MoMP)
Durchführungsorganisationen: Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH
Provinzen: Landesweit
Programmziel:
Transparenz und Kontrolle der Bergbauindustrie tragen dazu bei, staatliche Einnahmen zu regulieren, Investitionen zu fördern und Korruption langfristig zu bekämpfen.
Gesamtlaufzeit: Mai 2013 – November 2022″
Es geht u.a. darum, korruptives Verteilen von Schürflizenzen zu verhindern für die Rohstoffe wie Kupfer, Lithium, Eisen, Erdgas, Öl, Kohle, Edelsteinen, seltenen Erden, Chrom, Talk, Barit und Schwefel, Gold und Kobalt. Das Land könnte in zwanzig Jahren zu einem der führenden Rohstoffexporteure der Welt aufsteigen, wenn es die Vorkommen nachhaltig abbauen würde. So urteilt auch die Organisation Publish What You Pay (PWYP), ein globales NGO-Netzwerk, das – ebenso wie die Extraktive Industries Transparency Initiative (EITI) – für mehr Transparenz im Bergbausektor eintritt. (Quelle: epo.de)
https://www.ez-afghanistan.de/de/project/transparenz-der-bergbauindustrie

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