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Anmerkungen zu einem Interview mit OB Welge

Was als Möglichkeit einer Chance daherkommt, erweist sich als Falle, in die Frau Welge tappt:
„Im großen WAZ-Interview mit Redaktionsleiter Sinan Sat und Gordon Wüllner-Adomako spricht die Rathauschefin nun über Phrasendrescherei und Politiker-Stile, über die intensive Arbeit hinter den Kulissen, einen konfrontativen Stadtrat und ihre Ideen für Gelsenkirchen.“ (WAZ)* Tatsächlich aber agiert Frau Welge von Anfang an in diesem Interview aus der Defensive, die dadurch markiert wird, dass sie sich von „Phrasendrescherei“ abgrenzen muss und über „Politiker-Stile“ meint sprechen zu müssen.
Mit der Frage „Wo ist Frau Welge?“ und Hinweisen auf die Veranstaltung vor der Synagoge gegen antisemitische Hetze, bei der Frau Welge nicht anwesend war, deuten die WAZ-Redakteure das Problem der öffentlichen Wahrnehmung der Oberbürgermeisterin an (der Vorwurf sei, sie verstecke sich im Rathaus). Sie antwortet mit Ausführungen zu ihrem Urlaub und der Familie und offenbart dann Umrisse ihres Politikverständnisses als OB:
In der Bevölkerung scheint weiterhin das alte Bild eines Oberbürgermeisters vorzuherrschen, bei dem die Repräsentationsaufgabe im Mittelpunkt steht. Das gehört natürlich dazu. (…) Ich zeige Präsenz in den Ministerien, dem Städtetag und anderen Gremien. Das bedeutet viel Anstrengung, Zeit und Engagement. Ist nicht sonderlich laut, sieht man manchmal nicht, ist aber effektiv und notwendig für eine gute Zukunft unserer Stadt. (…) Überall sein Gesicht zu zeigen ist das eine, eine öffentlichkeitswirksame Erzählung der eigenen Arbeit das andere.“
Hier werden, aus meiner Sicht, gleich zwei Fehler begangen, einmal ganz abgesehen davon, dass Frau Welge mit dem Begriff „Erzählung“ (Narrativ) sprachlich operiert, ohne den es wohl heute nicht mehr geht und der, nahezu nebenbei, das Gesagte eigentlich ins Fiktionale verweist (literarische Gattung der Erzählung).
Erster Fehler: Der Wunsch von Teilen der Bevölkerung, die OB mehr öffentlich wahrzunehmen, wird zunächst einmal in die Schublade „altes Bild“ gesteckt. Ein unnötiges sprachliches Anrempeln derjenigen, die ihr einen Vertrauensvorschuss durch ihre Stimme bei der Wahl gegeben haben.
Ja, ich gebe Frau Welge durchaus recht: seit der Reform, die den Oberstadtdirektor abgeschafft und seine Funktion dem OB zugeschlagen hat, ist die Aufgabenstellung des Amtes OB deutlich in Richtung „Verwaltung“ verschoben. Das interessiert den berühmten „kleinen Mann“ von der Straße (und auch die „kleine Frau“) aber nicht wirklich. Der oder die OB ist immer noch das „Gesicht“ der Stadt, nicht irgendein Fraktionsführer oder eine Parteivorsitzende. Soweit sich die Bürgerinnen und Bürger überhaupt mit der Stadt und einem ihrer politischen Repräsentanten identifizieren, tun sie es mit dem bzw. in unserem Fall derjenigen, die bei Gelegenheit die Amtskette trägt. Dem „Wahlvolk“ zu unterstellen, es hinge an einem verstaubten Bild des Amtes, weil es den Repräsentanten der Stadt bei wichtigen Gelegenheiten sehen und hören möchte (dabei durchaus auch politisch wirkend), ist ein unnötiger Griff ins rhetorische Klo, der einen Gegensatz aufbaut, der so überhaupt nicht existiert.
Zweiter Fehler: Frau Welge nimmt einen zweiten Anlauf – und den finde ich unterirdisch: Im Grunde betreibt sie, ohne allerdings den Namen zu nennen, Baranowski-Bashing, denn einige der folgenden Ausführungen sind nur so zu verstehen, dass sie ihrem Vorgänger verbal mit dem nassen Lappen durch das Gesicht wischt. Oder wie kann man folgenden Aussagen anders interpretieren: „Was ich unter Erfolg verstehe, mache ich nicht davon abhängig, dass ich jeden Tag eine tolle Schlagzeile liefere. Ich bin eher der Typ, der auf das Ergebnis wartet und es dann erst kommuniziert.“ Und man muss zwangsläufig dann wohl ergänzen: Eben ganz anders, als es mein Vorgänger im Amt gemacht hat. Hier kommt sie also zur einleitend bereits erwähnten Kritik an der „Phrasendrescherei“ (wer kann das schon gut finden) und dem anderen „Politiker-Stil“ (oder ist hier der Stil des anderen Politikers gemeint?)
Auffällig ist im Interview der Gebrauch des Personalpronomens WIR. Das WIR kennen wir schon von Frau Merkels „Wir schaffen das!“ Bei Frau Welge ist die Antwort auf die Frage, wer denn das WIR ist, ebenso uneindeutig – mal scheinen es die Gelsenkirchener in ihrer Gesamtheit zu sein, mal die von Frau Welge geführte Verwaltung, mal ein unbekanntes drittes WIR. Vier Zitate:
„Und trotzdem haben wir in den vergangenen Monaten viel geschafft. Wir haben gepowert auch für die Bildungsoffensive.“
„Wenn es um die Frage geht, wie wir Gelsenkirchen sattelfest für die 20er-Jahre machen, dann ist Bildung ein zentrales Thema.“
„Wir haben durchaus junge Menschen, die Gefahr laufen, abzudriften. Wir haben die Chance, sie mitzunehmen und zu klugen und selbstbewussten Mitgliedern unserer Stadtgemeinschaft zu machen.“
Zunächst einmal haben wir eine Pandemie.“
Ein Verantwortungs-Wir ist hier nicht erkennbar wie etwa bei einer Formulierung wie „Mein Mitarbeiterstab und ich“ oder „Die zuständigen Dezernentinnen, Fachbereichsleiter und Mitarbeiterinnen“. Ebenso wird nicht deutlich, wen Frau Welge zum „Mitarbeits-Wir“ auffordert, etwa wenn es gilt, jemanden „mitzunehmen“. Hier wird auch nicht klar, wer nun den Willen zur politischen Führung hat und für ein mögliches Scheitern verantwortlich ist, denn „wir“ haben ja nur eine „Chance“


Dieses häufige Verwenden des WIR ist nicht nur Ausdruck eines Pronominalstils, der eintönig wirken kann, sondern soll (rhetorisch betrachtet) vor allem eine Wir-Gruppe aufbauen, raubt damit aber gleichzeitig dem Leser oder Hörer rhetorisch die Freiheit, denn er wird in eine Gruppe eingeschlossen, deren Ziele er vielleicht nicht teilt.
Frau Welge ersetzt im Interview durch die häufige (diffuse) Wir-Verwendung den tatsächlichen Kontakt durch Präsenz in der Öffentlichkeit durch ein rein rhetorisches WIR, das aber die tatsächliche Distanz beibehält, also nur ein sprachliches Surrogat ist, sozusagen ein rhetorisches Fake-Wir! Ein Ausweich-Wir!

Deshalb: Zwei konkrete Beispiele dafür, wie das WIR für politische Ausweichmanöver zur (Nicht-)Antwort auf Fragen genutzt wird, die von der Sache her eine klare Welge-Ich-Botschaft verlangen.
Die beiden Redakteure der WAZ sprechen das Thema Rats-TV an und wollen im Zusammenhang mit dem Problem der Transparenz hören, ob doch noch mit einem solchen TV zu rechnen ist und wie die OB dazu steht. Ihre Antwort: „Und ich finde auch, dass sich Politik im Jahr 2021 transparenter machen müsste. Lassen Sie uns sehen, wie sich die Idee Rats-TV weiterentwickelt, wenn wir es geschafft haben, uns aus der Corona-Falle zu befreien.“
Zunächst eine Floskel – oder mit anderen Worten: von Frau Welge kommt hier eine „Phrasendrescherei“. Politik müsste sich 2021 transparenter machen (statt wird sich transparent machen in GE). Polemisch: und was ist mit 2022 und 23? Noch transparenter? Was heißt denn nun der Komparativ „transparenter“ genau? Rats-TV? Und warum das abstrakte Wort „Politik“? Wer oder was ist das? Die Gelsenkirchener Stadtverordneten, die Verwaltung, die Oberbürgermeisterin?
Dann der zweite Satz: Dieser wunderschöne Imperativ: „Lassen Sie uns sehen…“. Wer ist gemeint? Wer ist hier das WIR? Die beiden Redakteure? Die Leserschaft? Und warum will Frau Welge nur sehen, anstatt zu handeln? Warum nicht die Antwort: Ja, ich werde mich mit aller Kraft für ein Rats-TV einsetzen! (Oder auch: Nein, ich werde nicht…). Und zum Abschluss ein reines Ablenkungsmanöver, nämlich der Bezug zu Corona und unserer „Befreiung“ davon („wenn wir es geschafft haben“). Wenn wir es also nicht schaffen, uns zu befreien, dann kann es wohl kein Rats-TV geben? Dabei wäre es doch genau umgekehrt zu sehen: Gerade weil es an Transparenz wegen Corona mangelt (Sitzungen ohne Zuschauer, Konferenzen nur virtuell) wäre ein Rats-TV während der Pandemie wertvoller als in der Zeit, wenn „wir uns befreit“ haben!

Zweites Beispiel: Die Redakteure fragen nach der „autofreien Innenstadt“. Die Antwort von Frau Welge:
Es ist ein Thema, das die Herzen dieser Stadt zerreißt. Ich glaube: Die Innenstadt kann nur in Teilen und nicht gänzlich autofrei werden. Aber auch dieses Thema können wir weiter diskutieren.“
Ob die zerreißenden Herzen der Stadt sprachlich nun ein Ausflug in die Untiefen deutscher Schlager** oder die Tiefen deutscher Literatur sind ***, lassen wir einmal dahingestellt sein. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Überdramatisierung sondergleichen, denn viele Herzzerrissene, die wegen dieser Problematik in die kardiologischen Abteilungen der hiesigen Krankenhäuser eingeliefert worden sind, wurden bisher nicht gemeldet. Die Überdramatisierung geht in diesem Falle mit einer Unter-Information einher, denn soweit mir bekannt ist, fordert niemand in Gelsenkirchen eine komplett autofreie Innenstadt, sondern deren Attraktivitätssteigerung, wobei das Zurückdrängen von Automobilen in einem begrenzten Bereich der Innenstadt als ein Element vorgeschlagen worden ist. Insofern ist aber die Antwort der OB durchaus nützlich, denn sie erweckt den Eindruck, Frau Welge können sich autofreie Teile der Innenstadt durchaus vorstellen („in Teilen und nicht gänzlich„).

Leider folgt auf diese Aussage dann erneut ein unverbindliches „wir“: wir können weiter diskutieren. Nun, wer auch immer dieses WIR in diesem Falle ist: Dass weiter diskutiert wird, kann auch Frau Welge nicht verhindern. Die Frage ist eher, ob Frau Welge diese Idee vorantreiben will, ob sie sich an die Spitze einer Bewegung für diese Idee setzen will, anders: ob sie das Standing hat, in der Öffentlichkeit, auch gegen Widerstände, für diese Idee Diskussionen zu organisieren und zu streiten, also öffentliches Auftreten (in Erscheinung treten, sichtbar werden und Gesicht zeigen) mit politischer Durchsetzungskraft zu verbinden?!
Hier gilt nämlich: The proof oft the pudding ist the eating. Oder: eine kraftvolle Tat überzeugt mehr als ein Interview! Egal, ob misslungen oder nicht!

Trotz aller Kritik: Eine Frage hat Frau Welge konkret und mit einer Ich-Botschaft beantwortet:
„Und was machen Sie zuerst, wenn diese Pandemie endlich vorbei ist?
Laut und viel tanzen“.

Immerhin!

Quelle der Zitate aus der WAZ:
*https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/erst-machen-dann-reden-gelsenkirchens-ob-ueber-ihren-stil-id232360595.html#community-anchor

**Maja Catrin Fritsche, Liebe, die das Herz zerreißt (1995)
(https://www.youtube.com/watch?v=sfl2P8VrI8o)

***E.T.A. Hoffmann, Das steinerne Herz
„Der Jüngling wollte zur Türe hinausstürzen, da sank Julie laut schluchzend nieder, schnell sprang Max zurück, fing sie in seinen Armen auf, und heftig sie an seine Brust drückend, rief er mit dem herzzerreißenden Ton des trostlosesten Jammers: »O Julie, Julie, alle Hoffnung ist verloren!“
(https://www.projekt-gutenberg.org/etahoff/herz/herz5.html)

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Fra.Prez.

Respekt! Das einzelne Wort, einem Skalpell gleich, geführt von der erfahrenen Hand eines Pathologen, öffnet hier einen rhetorischen Leichnam auf dem Seziertisch der deutschen Sprache. Frei von Talent und Tiefe liegt liegt sie nun dort wartend auf Erlösung

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Heinz Niski

Frage WAZ:

Nachbarn und Anwohner rumänischer und bulgarischer Familien in Gelsenkirchen beschweren sich immer wieder über auf die Straße oder die Hinterhöfe geworfenen Müll, wie hier in Bismarck, und über Lärmbelästigung. Zuwanderung aus Südosteuropa: „Bemühungen sind gescheitert“

Antwort OB Welge:

„Das wäre mir zu platt. Aber ja: Wenn es um die Frage geht, wie wir Gelsenkirchen sattelfest für die 20er-Jahre machen, dann ist Bildung ein zentrales Thema. Viele der Zuwanderer, die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind, haben nicht das Staats- und Ordnungsverständnis, das wir haben. Aber warum sind denn Leute anfällig für Verhaltensweisen, die unserer Werteordnung nicht entsprechen? Weil wir sie nicht erreichen. Und dieses Thema müssen auch bildungspolitisch anpacken.“

Gemeint hat Frau Welge wahrscheinlich „Erziehung“. Zugegeben, „Bildung“ zu einem freundlichen, respektvollen, Regeln beachtenden Nachbarn und Staatsbürger, klingt weniger autoritär, eleganter, näher am sozialdemokratischen Menschenbild, aber auch ein bisschen wie „Ausbildung“.
Ich freue mich jedenfalls, dass trotz des Lehrermangels bald die Müllhalden in den Straßen der Vergangenheit angehören werden… und haben nicht meine Volks- und Realschullehrer auch kontrolliert, ob die Fingernägel und Ohren sauber waren?
Ja, haben sie.
Darauf muss man erst mal kommen, dass die Ping-Pong Europäer, die Roma, kaum hier, morgen schon wieder dort, durch eine Bildungsoffensive des Staates, zu Mülltrennern werden und ihre Sammelleidenschaft von Gegenständen aller Art, aufgeben werden.

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Di.Nie.

@H.N.
wenn man sich das ganz ganz fest wünscht, passiert es auch. Aber mit reinem Herzen.

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Den.Zitze.

Also mir ist ja bewusst, dass einige bei euch im Team meine Texte nicht mögen. Aber das hält mich nicht davon ab, eure sprachlich zu lieben. Das ist schon Balsam beim Lesen. Inhaltlich bin ich aber leider nicht in allen Punkten beim Autor. Wer Karin Welge mal sprechen hören hat, weiß, dass sie das wirklich gut kann. Dass sie das so selten öffentlich macht, mag man bedauerlich finden, aber es ist halt ihr Politikstil. Ganz nebenbei tritt sie in die Fußstapfen eines Redners, der es verstanden hat zuzuhören und dann so fesselnd zu reden, dass er Menschen überzeugend mitgerissen hat (Mich eingeschlossen). Welge ist kein Baranowski, sie wird es auch niemals werden und das muss sie auch nicht. Was sie, soweit ich das erleben konnte, mit Baranowski teilt, ist Verbindlichkeit. Ein hohes Gut in dieser Zeit. Ganz nebenbei erinnere ich an dieser Stelle an all jene, die Baranowski für seine Medienpräsenz kritisiert haben. Vor allem die CDU war hier immer sehr laut und sprach von der „Baranowskisierung aller Lebensbereiche“. Wie man es macht, macht man es verkehrt. Die Kritik an Welges Fehlen bei der Kundgebung vor der Synagoge teile ich. Aber auch die ehrliche Begründung von Welge, im Urlaub gewesen zu sein, zeugt doch irgendwie von Größe. Einige andere hätten unter dem Druck der sozialen Erwünschtheit ein Feuerwerk an Ausreden vorgetragen. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass Welge schon deutlich äußern würde, wenn sie keinen Bock auf verkehrsberuhigte Innenstädte und Rats-TV hätte. Verbindlich eben. Und wenn man mal ganz ehrlich ist, ist so eine Amtsübernahme während einer Pandemie nicht unbedingt vergnügunssteuerpflichtig, auch wenn das nicht alles entschuldigt. Letztlich ist die Analyse ziemlich schlau, aber vielleicht etwas drüber. Ich denke da immer an meine Deutschlehrerin, die so treffend sagte: „Mach’ nich so schlau, mach einfach. Für Gelsenkirchen reicht dat.“

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