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Johann Christian Friedrich Hölderlin (20.3.1770 – 7.6.1843)

 Hälfte des Lebens (Erstveröffentlichung 1804)

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Kurze Anmerkung: Eine Analyse, die den Namen verdient, spare ich mir und der geneigten Leserschaft. Deshalb nur dies: Man kann den Text natürlich als das nehmen, was der Titel benennt, nämlich einen (bildhaften) Blick auf die erste und dann die zweite Hälfte eines Menschenlebens, in der Saft und Kraft und Leichtigkeit verloren gehen – die Gegensätze in den beiden Strophen sind unübersehbar. Schon der Ausruf zu Beginn der zweiten Strophe (Weh mir) setzt Stimmung und Tonfall ins Negative, Verzweifelte!  Man kann den Text aber auch lesen als getragen von Hölderlins Enttäuschung, ja Entsetzen über den Gang der zunächst freudig begrüßten Revolution in Frankreich, die im Schrecken des Terrors ausblutete.

Man kann  sich das lyrische Ich des Textes aber auch als Gegenwartsmenschen anverwandeln, indem man das  Gedicht liest  als einen Verweis auf die  Zeit, in der wir im Moment leben. Nämlich in einem – erzwungenen –  sozialen Winter  (social distancing or physical distancing), in dem Sprachlosigkeit zwischen den Mauern , also auf Straßen und Plätzen herrscht , die sonst vom Gewirr der Stimmen erfüllt sind, vom Lärm der Fahrzeuge, vom Gewimmel der Vielen, die nun Vereinzelte sind. Und dies auf unbestimmte Zeit. Eine Zeit der Kälte und Sprachlosigkeit!

All dies zusammengefasst in der schrecklich-schönen  Synästhesie  von den klirrenden Fahnen im Wind!

Haltet Abstand!

Bleibt gesund!

Vor allem aber:

HALTET DURCH!

BM

 

Erläuterung: Die Synästhesie ist eine literarische Stilfigur, besonders gerne in der Lyrik und der Epoche der Romantik verwendet, mit deren Hilfe verschiedene Sinneseindrücke „ineinander geschoben“ oder vermischt werden, hier z.B. das Sehen (Fahnen im Wind) und das Hören (das Geräusch des Klirrens, das an zerspringendes Glas oder Eis erinnert)

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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