12.
Als Anselm aufwachte, war es kurz nach achtzehn Uhr. Aus der Küche hörte er Schritte und das Klappern von Geschirr. Ein leichter Pizzageruch zog in sein Zimmer.
Anselm sah aus dem Fenster in den Garten. Beim Blick auf den Strandkorb fiel ihm ein, dass er es versäumt hatte, den Maler nach dem vor jedem Ausflug in ein Bild gemurmelten Spruch zu fragen.
„Anselm, bist du wach? Dann komm in die Küche. Ich habe uns Pizza gemacht“, hörte er die Stimme seines Vaters.
„Ich komme“, antwortete Anselm und zog Hose und Sweatshirt an. Als er sein Zimmer verlassen wollte, bemerkte er den Notizzettel, der mit einem Stück Klebestreifen am Türrahmen angebracht war. Anselm war verdutzt, las aber den Text auf dem Zettel:
„Anselm, es wird alles gut. Dein A.F.“
Anselm nahm den Zettel ab und drehte ihn um. Auf der Rückseite stand: „Ach, übrigens, mein kleiner Zauberspruch ist ein Gedicht von Novalis.“ Anselm stopfte den Zettel in seine rechte Hosentasche. Er ging nicht direkt in die Küche, sondern warf zunächst einen Blick in den Flur. Feuerbachs Selbstbildnis hing in seinem Rahmen, wie seit Jahren schon. Wer sollte das verstehen können?
In der Küche duftete es wunderbar. Pizza, die sein Vater stets selbst machte, war Anselms Lieblingsgericht.
„Geht es dir besser, mein Junge?“ fragte sein Vater, der bereits den Tisch gedeckt und die Pizzen aufgetragen hatte.
Anselm setzte sich und nickte.
„Ich bin schon eher nach Hause gekommen, weil ich mir Sorgen gemacht und deshalb die Besprechung nach einer Stunde beendet habe. Du hast tief und fest geschlafen und wohl geträumt und dabei irgendein wirres Zeug geredet. Von einer Handtasche, um die sich drei nackte Frauen gestritten haben, die am Strand auf ein Schiff gewartet haben, das ihnen Opa Franzens Aschenbecher bringen sollte. Sag mal, was für ein Zeug träumst du denn da? Hast du etwas zu beichten? Nackte Frauen am Strand, na, was ist da los?“
Hinter den Brillengläsern seines Vaters funkelte es verschmitzt auf.
Anselm merkte, wie er rot wurde.
Sein Vater tat so, als bemerke er das nicht, und sagte:„Na, lass es dir erst mal schmecken. Ich bin ja froh, dass der Fieberanfall vorbei ist.“
13.
Anselms Vater waren vor Verblüffung Messer und Gabel aus der Hand gefallen, als Anselm ihn während des Essens bat, gemeinsam das Grab seiner Mutter zu besuchen. Seit der Beerdigung vor zwei Jahren war Anselm nicht mehr an der letzten Ruhestätte seiner Mutter gewesen, er hatte sich stets geweigert, seinen Vater zu begleiten. Auch die Angebote seiner Tante Erika, gemeinsam mit ihm zum Friedhof zu gehen, hatte er beharrlich abgelehnt. Es war so, als weigere er sich ganz und gar den Tod seiner Mutter zur Kenntnis zu nehmen und diese Tatsache in sein Leben zu lassen.
Wenn irgendjemand nach seiner Mutter fragte, sagte er immer, sie sei auf einer Fortbildung, mache eine Kur, besuche ihre Schwester, sei auf einer Weltreise.
Heute aber, heute war er mit seinem Vater zum Grab gegangen. Sie hatten noch im letzten Moment vor Geschäftsschluss in der Blumenhandlung am Friedhof einen Blumenstrauß und eine Kerze erworben. Und nun standen sie Hand in Hand vor dem Grab – in schweigendem Gedenken.
Schließlich legte der Vater einen Arm um Anselm: „Ich werde am Freitag ganz früh Feierabend machen. Und wenn du aus der Schule kommst, setzen wir uns ins Auto und fahren bis Sonntag ans Meer, an Mamas Lieblingsstelle. Was hältst du davon?“
„Schön, dass es dich gibt, Papa!“ antwortete Anselm und nickte.
„Schön, dass es dich gibt, Anselm!“ antwortete sein Vater.
Sie machten sich auf den Heimweg.
Anselm fühlte mit der rechten Hand nach dem Zettel in seiner Hosentasche. Er war noch dort.
Alles wird gut, dachte Anselm.
14.
Als Anselm am anderen Morgen zur Schule kam, stand die Meute schon wieder am Tor. Kaum hatte er den Schulhof betreten, gingen die Rufe und das Flattern mit den Armen los: „Amsel, Amsel! Da kommt die Amsel.“
Nach ein paar Schritten drehte sich Anselm kurz um: „Ist das alles, ist das wirklich alles, was ihr könnt?“ Das Flattern der Arme endete abrupt, die Rufe verstummten. Was war denn auf einmal mit dem los?
Anselm machte drei Schritte, breitete seine Arme aus und hob ab. In konzentrischen Kreisen schwebte er über den Schülern, die nun stumm und starr unter ihm standen – mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen.
Anselm lachte und rief ihnen zu: „Ich bin A-N-S-E-L-M, hört ihr, ich bin A-N-S-E-L-M!“
Dann flog er langsam auf seine Mitschüler zu, bis er die Hand des ersten Schülers ergreifen konnte. Dieser wiederum hielt plötzlich die Hand des nächsten fest, der seinerseits einen weiteren Schüler bei der Hand nahm. Und so stieg Anselm auf – und alle seine Klassenkameradinnen und Klassenkameraden flogen, sich bei den Händen fassend und einer bunten Kette gleichend, gemeinsam mit ihm über den Schulhof, stiegen höher und höher, drehten eine große Schleife über der Innenstadt und landeten schließlich wieder sanft vor der Eingangstür der Schule, wo sich die Kette auflöste. Anselm ging ins Klassenzimmer, setzte sich an seinen Platz und holte seine Materialien heraus.
Nach und nach betraten seine Mitschüler den Raum. Alle mit roten Gesichtern, in denen Verwunderung, Begeisterung und Verblüffung gleichermaßen zu lesen waren. Alle setzten sich schweigend auf ihre Plätze.
Das änderte sich auch nicht, als die Bio-Trulla den Raum betrat und mit ihrem Unterricht begann. Thema: Die Jahreszeiten und ihr Wechsel. Über den Beamer an der Decke warf sie Bilder von Bäumen im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter auf die Leinwand, ständig an ihrem Laptop fummelnd und Erklärungen absondernd, die niemanden wirklich interessierten.
Anselm meldete sich.
„Ich habe da ´mal eine Frage.“
In den Augen der Trulla war ein leichtes Flackern zu erkennen, aber sie zwang sich „Ja, bitte!“ zu sagen.
„Eine Thermoskanne hält im Sommer die Getränke kühl und im Winter warm. Woher weiß die Kanne, welche Jahreszeit wir haben?“
Wie auf ein Kommando schallte es aus der Klasse:
„Gute Frage, Anselm, gute Frage. Bravo, Anselm!“
Ein rhythmisches Klatschen setzte ein.
Die Bio-Trulla bekam Schnappatmung.
Und aus ihrer Turmfrisur erhoben sich rund 50 Vögel.
Mindestens 50!
15.
Der Vormittag in der Schule war rasch vergangen. Über Anselms Flug über den Schulhof verlor niemand ein Wort, so als habe er überhaupt nicht stattgefunden, aber Anselm hatte von zwei Mädchen aus der Klasse ihre Telefonnummern bekommen und von einem weiteren einen Zettel, auf dem stand „Willst du mit mir gehen? Kreuze an: Ja-Nein-Vielleicht“. Ein Junge hatte ihn zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen, ein anderer wollte mit ihm ins Kino gehen und zwei Jungen erbaten wegen der Hausaufgaben seinen Rat.
Als er die Wohnungstür aufschloss, merkte er wieder den Feuerbachschen Tabakgeruch. Er zog seine Jacke aus und wollte in die Küche gehen, um ein Glas Orangensaft zu trinken. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Selbstbildnis Feuerbachs. Das war doch nicht möglich!
Das Bild war verändert. Neben Feuerbach war ein Couchtisch zu sehen. Darauf stand der Kristallaschenbecher von Opa Franz. Asche befand sich darin. Der Couchtisch hatte nur zwei Beine.
Und Feuerbach lächelte!
Anhang: Informationen zu den Gemälden
Anselm Feuerbach (12.9.1829 – 4.1.1880)
Feuerbach greift in seinem Gemälde einen Abschnitt aus dem „Troja-Mythos“ auf. Paris, der jüngste Sohn des trojanischen Königs Priamos, soll entscheiden, wer die schönste der drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite ist. Er entscheidet sich für Aphrodite, weil diese ihm verspricht, er werde einst die schönste Frau Griechenlands zur Gattin erhalten. Durch seine Entscheidung zieht er sich den Zorn Heras zu, die aus Rache Troja zerstören will.
Als Paris Helena, die Ehefrau des Griechenkönigs Menelaos entführt, bricht ein riesiges griechisches Herr nach Troja auf und nimmt nach zehn Jahren Krieg durch die List des Odysseus („Trojanisches Pferd“) die Stadt ein und zerstört sie. Heras Rache ist vollzogen.
In Feuerbachs Gemälde hat sich Paris noch nicht entschieden; den goldenen Apfel, das Zeichen des Sieges, hält er in seiner Hand.
Iphigenie II (1871)
Auch die Iphigenie-Figur gehört zum Sagenkreis um Troja. Die Göttin Artemis (Diana) verweigert der griechischen Flotte Wind, so dass sie nicht nach Troja aufbrechen kann. Der Grund ist eine Schmähung der Göttin durch den griechischen Fürsten Agamemnon. Es ergeht die Weissagung, Agamemnon müsse seine Tochter opfern, um mit der Flotte ausfahren zu können. Nach einer Variante des Mythos wird Iphigenie während der Opferzeremonie von Artemis (Diana) selbst dem Tod entrissen und ins Land der Taurer gebracht, wo sie ihr als Priesterin im Tempel dienen muss.
Bekannt geworden ist die Iphigenie-Figur vor allem in der Bearbeitung durch Goethe, dessen Vers-Drama „Iphigenie auf Tauris“ als ein Höhepunkt der Klassik gilt. Eines Tages erreicht Iphigenies Bruder Orestes das Land der Taurer (bei Goethe die Insel Tauris). Es gelingt Iphigenie durch ihre Aufrichtigkeit, den König Thoas, der Iphigenie ehelichen möchte, nicht nur davon abzubringen, ihren Bruder zu töten, sondern ihr die Freiheit zu schenken und sie mit ihrem Bruder nach Griechenland zurückkehren zu lassen.
Die zweite der drei Fassungen des Gemäldes gilt allgemein als Feuerbachs reifste Iphigenie-Darstellung.
Selbstbildnis /Dreiviertelprofil nach rechts (1878)
Caspar David Friedrich (5.9.1774 – 7.5.1840)
Kreidefelsen auf Rügen (1818)
Das Gemälde zählt zu den bekanntesten Werken Caspar David Friedrichs. Uneinigkeit herrscht bei der Analyse des Bildes vor allem hinsichtlich der Identität des zweiten Mannes. Der rechts im Bild stehende Mann wird hier als Caspar David Friedrichs Bruder Christian gedeutet; es gibt zu dieser Figur allerdings auch andere Auffassungen in der Kunstgeschichte; so vermutet man u.a., dass die Männergestalt Friedrich Gotthelf Kummer zeigt, mit dem Caspar David Friedrich 1815 eine Wanderung auf Rügen unternahm. Auch gibt es die Theorie, dass beide Männergestalten Friedrich selbst zeigen, einmal in die Tiefe schauend, einmal in die Ferne.
Der von Iphigenie im Gespräch mit Anselm geäußerte Satz „Erwarte nichts und lebe, wie es sich gehört“, stammt aus einem Brief von Albert Camus an Francine Faure (Quelle: Iris Radisch, Camus. Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2013, S. 150 (rororo Band 62801)