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Samstag, vor acht Jahren

Am Tag als der Regen kam, hatte die „heiße Phase“ des Wahlkampfs begonnen. Noch ein Monat war es bis zum Wahlsonntag. Seit sechs Wochen kam man nun schon nicht mehr an den von Wahlplakaten im Großformat lächelnden Kandidatinnen und Kandidaten der Parteien vorbei,

die vermutlich alle auf der gleichen Nährlösung in einem Politikerlabor herangezogen worden waren. Allesamt Grinsekatzen, austauschbar wie die Worthülsen, die sie in Interviews und Talk-Shows von sich gaben, und die Slogans auf den Werbeflächen, die vergeblich versuchten, Inhalte vorzutäuschen, wo keine mehr waren.

Aus der Masse heraus stachen lediglich die Werbewände, auf denen die Politikerportraits unter Verwendung dickfaseriger Filzstifte von künstlerisch ambitionierten Elementen des Wahlvolks mit Bärten, Brillen, Hüten, Augenklappen, anderen Frisuren und Buttons, auf denen gezeichnete Hundehaufen vor sich hin dampften oder einfach nur „Ich bin eine recycelte Flasche“ stand, verziert worden waren, was dazu führte, dass manche Kandidaten zur Kenntlichkeit entstellt waren und man sich einem Pandämonium skurriler Gestalten ausgesetzt sah.

Die von jedem tieferen Sinn befreiten Wahlparolen waren auf etlichen Plakaten mit neuen Sprüchen überklebt worden, die die Sinnlosigkeit der Originale durch ihren Unsinn erst recht hervor brachten: „Schluss mit Tierversuchen! Nehmt Menschen!“, „Freiheit für das Packeis!“, „Berufsverbot für alle bei vollem Lohnausgleich“, „Auf älteren Fotos sieht man jünger aus“ oder „Es wird immer komplizierter, einfach zu leben.“

Das allgemeine Desinteresse an den stets gleichen Hahnenkämpfen der Parteigrößen bekam durch die Hitzewelle einen zusätzlichen Schub; das Wahlvolk ließ sich nicht zu den Veranstaltungen der Parteien locken, selbst hartnäckigen Alkoholikern verdarb das Politikergesäusel aus den Mikrophonen den Geschmack am ausgeschenkten Freibier in den Veranstaltungssälen.

Nun aber sollte es richtig losgehen! Wenn das Volk schon nicht zu den Parteien kam, dann wollten diese sich jetzt an das Volk ranschmeißen und im Straßenwahlkampf punkten. Und so gab es keine Fußgängerzone, keine Einkaufsmeile, keinen belebten Platz vor einer Shopping-Mall ohne eine Ansammlung von Ständen und Info-Buden, von denen aus eifrige Parteimitglieder auf Stimmenfang gingen, Fähnchen und Ballons verteilten, Kinder mit Mal- und Schminkaktionen belästigten, um die Sympathie der Eltern zu gewinnen, oder „live-acts“ von drittklassigen Clowns, Zauberkünstlern, Jongleuren und „Ein-Mann-Bands“ die Umwelt mit ihren Darbietungen terrorisierten. Eine Kakophonie aus Gesangs- und Musikfetzen, durch Megaphone und Lautsprecheranlagen verstärkten Politparolen, dem allgemeinen Verkehrslärm und Alltagsgeräuschen verdichtete sich zu einer Symphonie des akustischen Grauens, die von einem unsichtbaren wahnsinnigen Dirigenten an die Schmerzgrenze getrieben wurde.

 

Der Regen begann mit vereinzelten dicken Tropfen, die in schöner Unregelmäßigkeit auf dem Asphalt zerplatzten, um sogleich zu verdampfen, oder als lange Nasen an den Fensterscheiben der Geschäfte herabzogen. Zunächst nahm niemand wirklich davon Kenntnis; erst als sich eine Schicht von Nimbostratuswolken aufgebaut hatte, blickten die ersten Menschen zum Himmel, weil das helle Sonnenlicht von einem diffusen, fast nebelig zu nennenden Grau verdeckt worden war. Dann setzte das Geprassel des Regens mit der Wucht eines Trommelfeuers ein, das die sommerlich gekleideten Passanten in die Geschäfte flüchten ließ, in deren Eingängen sich ganze Trauben von Menschen bildeten, die Schutz vor den Wassermassen suchten. Der eine oder andere Luftballon in Parteifarben, von Kindern aus ihren nassen Händen in die Freiheit entlassen, trudelte verzweifelt gegen den Regen an, Tiger, Katzen und Löwen zerliefen auf den Gesichtern der Kinder zu einem grotesken Schminkeeintopf, Clowns, Musikanten und Jongleure ließen ihre Kunst im Stich und suchten das Weite.

Von diesem Regen wurden auch die eifrigen Wahlkämpfer nicht verschont, deren Infostände sich nun einem Bombardement aus Regentropfen ausgesetzt sahen, unter deren Last sie zusammenzubrechen drohten. Man versuchte zu retten, was zu retten war, aber hunderte, wenn nicht tausende von Flugblättern, Broschüren und Programmheftchen lösten sich in kürzester Zeit zu einem papierenen Brei auf, der vom Wasser auf die Straßen gespült wurde und aus reiner Boshaftigkeit die Gullis zu verstopfen drohte. Ein Stand nach dem anderen wurde zusammen geklappt und von aus allen Kleidungsstücken vor Wasser triefenden Parteihelfern abtransportiert. Der Wahlkampftag war abgesoffen, die politischen Parolen waren weggespült worden wie der papierene Brei.

Die ersten in den Eingangspassagen der Geschäfte Wartenden verloren die Geduld, machten sich in bizarren Hüpf- und Laufbewegungen, immer wieder unter Vordächern oder in anderen Eingängen Schutz suchend, auf den Heimweg. Die Straßen leerten sich. Aber der Regen hielt an. Der Wahlkampf sollte in seinen Fluten versinken. Und mit ihm große Teile des Landes.{jcomments on}

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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