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Buchrezension: Bernd Matzkowski, Kreidezeit – Lehrerjahre sind keine Herrenjahre, mit 18 Illustrationen von Ulrich Queste, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2013

Das Politikum Schule

In Deutschland ist die Schule den meisten erwachsenen Menschen aus eigener Erfahrung bekannt. Sie haben diese öffentliche Einrichtung in ihrer Kinder- und Jugendzeit selbst täglich erlebt. Mögen sie an ihre eigene Schulzeit gute oder schlechte Erinnerungen haben, so glauben die meisten doch, allein durch ihr persönliches Dabeigewesensein über die Schule und auch über Bildung und Erziehung mitreden zu können. Und so ist Schule ein ewiges Thema in Familien, Nachbarschaften, Freundes- und Bekanntenkreisen sowie an traditionellen und inzwischen auch virtuellen Stammtischen im Internet.

Und warum?

Weil alle gelernt haben, „Kinder sind unsere Zukunft“ oder „unsere Kinder sollen es mal besser haben als wir“.

Alle Jahre wieder nutzen die Medien zum Beginn eines neuen Schuljahres die Chance, den Dauerbrenner Schule, Bildung und Erziehung mit den alten Schlagwörtern wie Bildungskatastrophe – Bildungskrise – Bildungswahn zu befeuern oder aber von klugen Köpfen kritische Analysen zu den Schwächen des bestehenden oder Modelle für ein „neues“ Bildungssystem zu publizieren, ohne auch nur ansatzweise einen Gedanken auf den Prozess der Umsetzung, also die Transformation vom derzeitigen Zustand zum angestrebten Ziel zu verschwenden.

So werden dann mit provozierenden Schlagzeilen öffentliche Aufgeregtheiten produziert, die gar eine „Revolution des Bildungssystems“ verheißen. Doch wer in Deutschland will schon eine Revolution?

achte stunde lehrerlebenEs gelang zwar in den 1960er/70er Jahren in einigen Bundesländern erste Reformen im Bildungswesen einzuleiten, aber sie wurden nicht konsequent vorangetrieben, nachdem 1982 Bundeskanzler Helmut Kohl eine „geistig moralische Wende“ verkündete, die, den Interessen der Wirtschaft folgend, das allgemeine Bildungssystem auf die Bedürfnisse des Beschäftigungssystems ausrichtete. Diese Tendenz verstärkte sich mit der zweiten Wende zur deutschen Einheit. Sie öffnete den Weg für eine zunehmende Privatisierung des Bildungswesens.

Die Karikatur einer „Schule, die Reingewinn abwirft“ war offensichtlich zur bildungspoltischen Utopie der „New Economie“ geworden. Wenn dennoch die Reformansätze der 60er/70er Jahre nicht ganz folgenlos geblieben sind, dann deshalb, weil es eine nach dem zweiten Weltkrieg in die Demokratie hineingeborene Lehrergeneration schaffte, frischen pädagogischen Wind in die Schulen zu bringen. Wie das geschah, beschreibt Bernd Matzkowski (Jahrgang 1952) exemplarisch in seinem Buch „Kreidezeit“.

Mag der Titel auch etwas kryptisch erscheinen, so bringt der Untertitel „Lehrerjahre sind keine Herrenjahre“ doch treffend zum Ausdruck, welche Vorstellungen der Buchautor vom Lehrerberuf hat, zu dem er sich schon als Gymnasiast berufen fühlte: „Ein wesentlicher Grund waren Magenschmerzen und Beklemmungen in den letzten Jahren bis zum Abitur…, die verdankte ich übrigens, wie nicht anders zu erwarten, natürlich meinen Lehrern“. Und genau das musste anders werden, wenn es besser werden sollte. Das „Nicht-wie-die-werden wollen“ verlangte nach einer Alternative. Ein „68er“ will Lehrer werden und Schule machen Noch während seiner Schulzeit erlebt Matzkowski in den 1960er Jahren mit, wie die Schüler und Studenten der ersten Nachkriegsgeneration ihre Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in der noch jungen Bundesrepublik in Protesten und Demonstrationen öffentlich zum Ausdruck brachten.

Plötzlich war in der behäbigen Wohlstandsgesellschaft eine „revolutionäre Bewegung gegen die herrschenden Verhältnisse und für mehr Demokratie“ entstanden. Die sogenannten „68er“ verstanden sich als außerparlamentarische Opposition (APO)“ und begehrten gegen die Kriegsgeneration ihrer Väter und Großväter auf. Demokratie sollte nicht mehr nur für das staatliche Regierungssystem, sondern auch als Gestaltungsprinzip für die Gesellschaft und ihre Institutionen gelten.

Warum also nicht auch eine „demokratische Schule“ schaffen? Warum nicht das ständisch-konservative dreigliedrige Schulsystem, das in Struktur und Inhalt der vordemokatischen Drei-Klassen-Gesellschaft entsprach, durch ein demokratisches Bildungssystem ersetzen und demokratische Unterrichtsformen einführen?

„Die Schule der Nation ist die Schule!“ formulierte Willy Brandt 1969 in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler. Das ist zwar ganz im Sinne des damals 17jährigen Bernd Matzkowski, aber politisch ist ihm die APO lieber als die SPD. Er entscheidet sich für diese neue und junge Bewegung und damit für den Kampf gegen das politische „Establishment“ mit seinem „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“, der sich lähmend in Staat und Gesellschaft ausgebreitet hat.

Studium o.K. – Seminarausbildung o weh!

Nach dem Abitur beginnt er 1971 mit dem Pädagogik-Studium an der Ruhr-Universität in Bochum und wählt die Studienfächer Germanistik und Sozialwissenschaften. Er sieht sich in seiner Berufswahl bestätigt und will sein Wissen „aufrüsten“ und sein „erkenntnisleitendes Interesse“ schärfen. Allerdings findet er im anschließenden Referendariat den freien inspirierenden Geist, der ihn während des Studiums „begeisterte“ nicht mehr vor. Die Seminarausbildung erfährt er „als kaum produktiv“ und stellt dazu kritisch fest: „Oft hatte ich bei Stundenbesprechungen den Eindruck, dass es nicht um die konkrete Stunde (mit ihren Schwächen und Stärken) ging, sondern um die Exekution eines in den Köpfen der Fachleiter vorhandenen Idealmodells, das zu vermitteln ihnen aber nicht unbedingt gelang.“

Rückblickend betrachtet er seine „Zeit im Studienseminar … insgesamt als ‚verlorene Zeit‘“ und fordert, „den jungen Kolleginnen und Kollegen Zeit zur Entfaltung zu geben, um zu erproben, was ihnen gelingt und was eher nicht, vor allem aber zu erkunden, wie sie sich als Persönlichkeit in der Kommunikationssituation mit Schülerinnen und Schülern, aber auch mit dem Gesamtkollegium ihre eigene Position erarbeiten können.“

Immerhin hat ihm das Seminar die Erfahrung vermittelt, wie bei den Lehramtsanwärtern pädagogisches Engagement abgestumpft oder sogar zerstört werden kann, und zwar immer dann, wenn zu Ehren von Sankt Bürokratius „Kontrollmessen“ gefeiert werden müssen. Diesen negativen Effekt der Seminarausbildung kompensiert Matzkowski mit einer „der besten Entscheidungen, auf meinem Weg in den Lehrerberuf“, nämlich als Referendar an eine Gesamtschule zu gehen. Dort findet er das pädagogische Klima vor, das ihm als Ideal vorschwebt: „Man hat mir die Freiheit gelassen, mich selbst zu erproben (und eben auch mal zu scheitern), aber gleichzeitig war die Bereitschaft zur Hilfestellung, zur Anleitung, zur konstruktiven Kritik immer vorhanden… Zudem war die Arbeit an der Gesamtschule damals bereits von einem Verständnis des gemeinsamen Lernens geprägt, das meinen eigenen Vorstellungen von Unterricht, so wie ich sie aus der Universität ‚‘mitgenommen‘ hatte, sehr nahe kam, denn didaktisch-methodisch verfolgten die Kollegen an der Gesamtschule Ansätze, die an den Gymnasien erst später mehr oder weniger zur Selbstverständlichkeit werden sollten.“

Bernd Matzkowski hat so seine ganz persönlichen, eigensinnigen Vorstellungen von der Rolle als Lehrer entwickelt, die er schließlich in mehr als 30 Jahren beispielhaft „vorleben“ wird:: „Im Mittelpunkt steht dabei, jenseits einer als selbstverständlich anzusehenden fachlichen und didaktisch-methodischen Kompetenz, ein Verständnis vom Unterrichten, das entscheidend geprägt ist von der Beziehung zwischen Lernenden und dem Lehrenden. Nur wenn diese Beziehung funktioniert, kann Unterricht gelingen.“

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Von Peter Rose

H. Peter Rose, geboren 1935 in Hattingen (Ruhr). Volksschule und Handelsschule. Lehre und Berufstätigkeit als Industriekaufmann. Studium der Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, Abschluss als Diplom-Sozialwirt. 1964 Kulturreferent beim SPD-Parteivorstand in Bonn. Ab 1971 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Beraterstab beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn. Von 1975 bis 2000 Beigeordneter für Kultur und Bildung, Jugend und Soziales der Stadt Gelsenkirchen. Seit Oktober 2000 nicht mehr abhängig beschäftigt, aber weiterhin zivilgesellschaftlich beratend auf den Feldern Kunst und Kultur sowie politischer und kultureller Bildung aktiv.

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