Den meisten von uns geht es mit jüdischen Nachbarn so wie den Bewohnern der jungen Bundesländer mit Einwanderern. Jene haben nie welche zu Gesicht bekommen, sind aber gegen Überfremdung. Wir kennen nur medial vermittelte Juden, wie den Rabauken Broder, den verschnupften Friedman,
jedermanns Darling Hänschen Rosenthal oder die verdrehten Typen aus der Komödie “Alles auf Zucker“. Aber einen Juden zum anfassen, zum zusammen Lachen, Streiten, Feiern…. ?
Fehlanzeige.
Irgendwo in der Exoten-Ecke zwischen Klezmer, Beschneidung, koscheren Kichererbsen und der SCHULD hockt er und ist den einen Trigger ihres Anti- den anderen Auslöser ihres Philosemitismus. Ein Platz in der Mitte wäre schöner und würde für mehr Unbefangenheit im Umgang miteinander sorgen.
Vielleicht um diesem Widerspruch nachzuspüren, vielleicht um die eigenen Befindlichkeiten auszuloten, hat der Filmemacher Frank Bürgin die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen 2011 beobachtet und einen Film daraus gemacht.
Lobgesang:
Frank Bürgins 50minütige Studie des Lebens in der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen rankt sich um die Gemeindevorsitzende Judith Tasbach Neuwald. Die Ankerfrau ist Tochter des 2001 verstorbenen Kurt Neuwald, einem Gründungsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland.
Einfühlsam beobachtend lässt Bürgin die Protagonisten zu Wort kommen, eine eingängige aber unaufdringliche Erzählstimme ebnet dem Zuschauer den Zugang zu den Personen, Schicksalen und lässt Raum für Gefühle und Reflexion.
Technisch Perfekt, mit gut getimten ruhigem Schnitt, klug gesetzten Erholungspausen, vermittelt der Film einen Eindruck, wie sich um die neue Synagoge jüdisches Leben in Gelsenkirchen wieder entfalten konnte und durch zahlreiche öffentliche Veranstaltungen die Stadtkultur bereichert.
Er wirbt für soziale und kulturelle Arbeit und beschreibt die Bemühungen der Kultusgemeinde, die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion in das städtische Gemeinwesen zu integrieren. Die Verständigungs- Alterungs- und Nachwuchsprobleme der heutigen Gemeinde werden dabei nicht ausgeklammert.
Kompetent erinnert der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte Prof. Dr. Stefan Goch an das unrühmliche Kapitel Gelsenkirchens, als sich während der Nazi-Zeit Bürger wie du und ich das Eigentum der in die KZs Deportierten aneigneten.
Judith Tasbach Neuwald setzt den wenigen Alltagshelden, die damals unter Lebensgefahr Widerstand leisteten und humanistischen Idealen treu blieben, postum ein Denkmal.
Menschen mit Berührungs- und Schwellenängsten, sei dieser Film als ein erstes Kennenlernen und aufeinander zugehen wärmsten empfohlen.
Ausleihen kann man den Film in der VHS, in der Synagoge sowie beim Filmemacher selbst.
Schimpflitanei:
Perfekt inszeniert, transportiert der Film die guten Klischees über Juden. Anpassungsfähige, fleißige, lernbegierige und sehr, sehr religiöse Studienobjekte bedienen die weit verbreitete Betroffenheitskultur. Augenblicksreize, gepimpt durch folkloristische Fahrstuhlmusikteppiche, ermuntern zu wohligen Verbundenheits-Gefühlsstürmen. Zu Recht feiert man sich gegenseitig, gehört man doch heutzutage unverschuldet zu den Guten. Rituale die keine Courage erfordern.
Die politische und kulturelle Elite gibt sich die Synagogenklinke in die Hand, man zeigt sich interessiert, engagiert. Führungen, als Zeichen der Transparenz gehandelt, werden das Museal-Sakrale nicht los, blickt man doch in die gute Stube der letzten der Mohikaner, die wohl nicht mehr immer die notwendige Mindestanzahl von 10 Männern für einen vollständigen Gottesdienst zusammen bekommen.
Ein Blick ins Internet hätte gezeigt, dass die Gemeinde völlig gespalten ist, sich zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüber stehen. Auch das gehört zum Leben und gehört erzählt.
Religiöse Gemeindemitglieder sind in Nachbarstädte abgewandert und so findet eine intellektuelle Auseinandersetzung mit der Religion woanders statt. Die Frage steht im Raum, wie lange eine Gemeinde mit 400 Mitgliedern das große Gemeindehaus ohne fremde Hilfe noch finanzieren kann.
Abgesang:
Als solide gemachter Teil der neuen Erinnerungskultur (Stolpersteine, oral history etc.) steckt auch Bürgins Film möglicherweise in dem Paradoxon, eine “Besonderheit” der Beziehung zwischen nicht jüdischen und jüdischen Deutschen ungewollt allein durch die Beschäftigung mit dem Thema zu verfestigen.
Andererseits: indem er aus dem Kollektiv herauslöst, individualisiert, personalisiert, speist er – ein weiteres Paradoxon – wieder etwas in unser kollektives Bewusstsein ein, was den alljährlichen ritualisierten Versammlungen an den Kranzabwurfstellen kaum noch zu gelingen scheint.
Der Zigeuner-Baron hat es vorgemacht: nichts trägt mehr zur Öffnung vor dem Fremden bei, als die Trivialisierung auf Bühne und Leinwand. Einen Schritt weiter geht das interaktive Event “Mazel tov – Eine jüdische Hochzeit” welches in der Tradition von Pomp Duck & Circumstances und Ritteressen stehend, das Publikum selber zum Akteur macht und sinnlich in die Rolle eines jüdischen Hochzeiters schlüpfen lässt.
Was will man mehr, als dass sich alle Ebenen, Handlungsstränge und Zeitleisten so sehr vermischen, dass am Ende vielleicht tatsächlich ein MEHR an gegenseitigem Respekt, Achtung und Toleranz heraus kommt?
Frank Bürgins Film ist mir jedenfalls einer der vielen kleinen, wichtigen Mosaiksteine auf dem Weg zu einem besseren Miteinander.
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