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Perfect Days ist der Titel des aktuellen Kino-Films von Wim Wenders. Wir haben ihn uns an einem verregneten Sonntagmorgen angesehen.

Du wachst sehr früh morgens vom Geräusch eines Besens auf, mit dem die Nachbarin die Straße reinigt. Du erhebst dich vom Boden, rollst deine Matte samt Bettzeug zusammen und verstaust alles fein säuberlich in einer Ecke des spärlich möblierten Raums. Dann versiehst du die Seite des Buches, die du am Abend zuvor direkt vor dem Einschlafen gelesen hast, mit einem Eselsohr, und klappst das Buch zu. Anschließend nimmst du deinen Arbeitsoverall von einem Wandhaken, steigst eine steile Treppe hinunter, wäscht dich in der Küche, putzt deine Zähne, ziehst deine Arbeitskleidung an, füllst die Taschen mit den auf einer Ablage ordentlich aufgereihten Utensilien, öffnest deine Wohnungstür und stehst unmittelbar auf einem ärmlichen Hinterhof mitten in Tokyo. Dein erster Weg führt dich ein paar Meter weiter zu einem Getränkeautomaten, aus dem du eine Dose Kaffee ziehst. Du besteigst deinen Kleinst-Transporter, wählst eine Musikkassette aus der Ablage über der Frontscheibe aus, schiebst sie in den Schacht deines Kassettenrekorders, hörst einen Klassiker aus der Rock-Geschichte und fährst los. Dein Weg führt dich quer durch die japanische Metropole. Im Übergang zwischen Schlaf und Aufwachen sind weder Menschenmassen noch Autokolonnen zu sehen. Der Tokyo-Tower steht in deinem Stadtviertel und gibt dir Orientierung, egal wohin du gerade unterwegs bist. Nach ein paar Kilometern Fahrt über die Schnellstraßen der japanischen Hauptstadt hältst du an einem der öffentlichen Toilettenhäusern an, die überall in der Stadt zu finden sind. Du öffnest die Seitentür deines Transporters, greifst nach einer Anzahl von Putzutensilien und begibst dich zur Wartungstür der Bedürfnisanstalt. Du stellst ein Warnschild auf und beginnst damit Müll in den Räumen aufzusammeln und herauszutragen. Dann reinigst du akribisch Ablagen, Waschbecken, Spiegel, Pissoire und Kloschüsseln, Toilettensitze und die Spülanlagen. Jeder Handgriff sitzt, nichts geschieht zufällig. Mit einem Zahnarztspiegel blickst du bis unter den Toilettenrand und beseitigst auch dort jede kleinste Verschmutzung. Du schaust zufrieden auf das Ergebnis deiner Arbeit, packst dein Werkzeug wieder ins Auto und sammelst dich. Dann fährst du zum nächsten Toilettenhäuschen auf deiner Route. Jedes ist ein architektonisches Schmuckstück. Keines gleicht dem anderen. Hightech in perfekter Sauberkeit. Würdevolle Orte für die menschliche Notdurft herzurichten, das ist dein Beruf.

Mittags suchst du einen kleinen Hain auf, mitten in der Stadt. Dort setzt du dich auf eine Bank, verzehrst dein zuvor gekauftes Sandwich. Du blickst an einem gewaltigen Baum hoch und beobachtest das Lichtspiel durch die Blätter. „Komorebi“ ist das japanische Wort für dieses Naturphänomen, das jedes Mal anders aussieht und sich nie identisch wiederholt. Jedesmal ist es anders. Du ziehst aus der Brusttasche deines Overalls eine Olympus µ, schiebst die Abdeckung der Kameralinse zur Seite und fotografierst das Blätterwerk auf Schwarz-Weiß-Film. Jeden Tag ein Foto. Nach getaner Arbeit kehrst du nach Hause zurück, ziehst dich um, fährst mit deinem Fahrrad zu einem öffentlichen Waschhaus, reinigst dich und badest dort. Dann führt dich dein Weg weiter zu einem Imbissrestaurant. Dort wirst du vom Inhaber begrüßt. Du musst nichts sagen. Er weiß, was du möchtest. Du isst dein Mahl, trinkst dein Wasser und fährst mit dem Fahrrad wieder nach Hause, ziehst dich um und baust dein Bettlager auf dem Fußboden auf. Du legst dich hin und liest in dem Buch vom Vorabend weiter, bis du müde bist. Dann setzt du deine Brille ab, legst das Buch aus der Hand und löschst das Licht. Nur wenige Augenblicke später träumst du von „Komorebi“ – in Schwarz-Weiß. – Es kann sein, dass du den ganzen Tag kein Wort gesprochen hast.

Dies ist der vordergründige Rahmen des Films, der vom Leben des Hirayama handelt, einem Mann Anfang 60, der mitten im hektischen Tokyo ein wortkarges Leben in selbstgewählter Bescheidenheit führt. Ein Mann, der seine Arbeit, die von den meisten Zeitgenossen als niedrig angesehen wird, mit Hingabe ausführt.

Die Routine wird unterbrochen von kleinen, unerwarteten Begegnungen des Alltags. Da ist sein nervig-einfältiger Mitarbeiter, der sich vergebens um eine Beziehung zu einer gelangweilten, jungen Frau bemüht. Diese wiederum ist fasziniert von der Musik, die von dem veralteten analogen Tonträger wiedergegeben anders klingt, als es heute üblich ist. Viele sprachlose Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen finden an den immer selben Orten statt. Hirayama redet nur, wenn es gar nicht mehr zu vermeiden ist. Meist spricht nur seine Mimik: Sehnsucht, Freude, Trauer, Zufriedenheit zeigen sich im Gesicht des Hauptdarstellers Kōji Yakusho, der für diese Leistung als bester Hauptdarsteller für die diesjährigen Oscars nominiert wurde. Sehr ausdrucksstark wird es, wenn in einer kleinen, traditionellen Bar die Wirtin – begleitet auf der Gitarre von einem Gast – die japanische Version von „You never walk alone“ singt. Unausgesprochene Zuneigung findet keinen Ausdruck. Begegnungen unter Fremden, die sich näherkommen, aber nie wirklich zueinander finden. Schicksale werden angedeutet. Wie sie weitergehen, bleibt unerzählt. Als eines Abends die pubertierende Nichte vor der Haustür steht, nimmt die Geschichte unerwartet Fahrt auf, in der Art, wie es in einem Wim Wenders Film maximal möglich ist. Es geht also ohne Hektik weiter bis zu einem Höhepunkt, dessen Spannung sich nicht lösen will. Es bleibt bei Begegnungen mit Menschen, die Rätsel aufgeben. Das einsame Leben inmitten der riesigen Stadt. Der von Schlichtheit und Anspruchslosigkeit geprägte Alltag. Das echte Leben, dargestellt in einer fiktiven Geschichte.

Die anfangs beschriebene Routine erscheint immer wieder auf der Leinwand. Nach zwei Stunden ist der Zuschauer verschmolzen mit diesem gleichmäßigen Rhythmus des einfachen Lebens. Durch lange Kameraeinstellungen entstehen ruhig bewegte filmische Gemälde. Ein Film, wie ihn derzeit wohl nur Wim Wenders auf die Leinwand bringt. Am Sonntag, 17.03.2024 in der Schauburg Buer.  https://schauburg-kino.com/programm/film/perfect-days

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Ta.Hemp.

… am Ende unbedingt den Abspann genießen: „Perfect Day“ in einer besonders schönen und bis dahin unbekannten Version.

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