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Vor ein paar Tagen veröffentlichte Heinz Niski einen Beitrag zu einem YouTube-Video, dessen Inhalt in den Kommentaren teils heftig kritisiert wurde, siehe „Grenzgänger Studios – Die andere Sicht auf Hamas / Gaza„.

Die Motivation zu dem Beitrag war wohl diese:

Ich bin recht hilflos beim Versuch, die verschiedenen weltweiten Reaktionen und natürlich auch Nicht-Reaktionen auf den Terror der Hamas zu verstehen.
Heinz Niski

Dieses Problem haben viele. Wer von Hass auf Juden nicht direkt betroffen war oder gar persönlich bedroht wurde, der konnte auf eine Selbstpositionierung zum „Nahost-Konflikt“ durchaus verzichten. Das scheint nun vorbei zu sein. Der Hass auf Juden und die Todesgefahr für alle jüdischen Menschen auf der ganzen Welt ist seit drei Wochen für alle sichtbar auf die Straßen zurückgekehrt. Der aufgeputschte Mob versteckt sich nicht mehr hinter Worthülsen. Trotzdem geschieht Immergleiches bei der Zuordnung von Tätern und Opfern unter den sich für intellektuell haltenden, medialen Selbstdarstellern. Nach dem anfänglichen Schweigen, kurz danach das übliche „ja, aber“ und bald ein „man muss das alles erst einmal einordnen“.

Das Gespräch zweier Muslime in ihrem Podcast gehört in Kategorie drei. Zwei Stunden wild zusammengeschnittene Filmfragmente und anschließende Interpretation des Gezeigten sind teilweise nur schwer zu erfassen und manchmal kaum zu ertragen. Man kann aber problemlos eine sowieso schlaflose Nacht damit zubringen.

Hübsch und Chaudhry unterhalten sich schon längere Zeit öffentlich miteinander aus einer innermuslimischen Minderheitensicht heraus. Sie bedienen sich dazu verschiedener Medien. Schaut man auf das YouTube-Kanal-Profil der beiden, so vermeiden sie es dort ihre Grundüberzeugungen hervorzuheben. Hübsch ist an einer „theologischen Privathochschule“ angestellt, steht dort. Die Website dieser theologischen Privathochschule ist folgende https://www.jamia.de/ und dies ist das dortige Kollegium https://www.jamia.de/das-institut/personen/kollegium-jamia-ahmadiyya/

Wie man erkennen kann, ist Hübsch in eine indisch-pakistanische muslimische Community eingebettet. Die Eltern seines Schwagers und Podcastpartners Chaudhry stammen aus Indien. Auch dieser gehört der Ahmadiyya-Gemeinde an, also jener kleinen, exotischen Gruppe im Islam, die neben den von Mohamed niedergeschriebenen Worten weitere Offenbarungen durch ihren Gründer Ahmad (Ende des 19. Jahrhunderts) anerkennen. Nicht Isa (Jesus), sondern Ahmad sei bereits der wieder(ge)kommene Prophet. Die große Mehrheit der weltweiten Umma sieht das anders und hält die Ahmadi deshalb für Abtrünnige. https://de.wikipedia.org/wiki/Ahmadiyya

Einen Einblick in diese Spielart des Islam bietet diese Quelle, ein Wortprotokoll einer öffentlichen Diskussion in Hannover von vor ein paar Jahren.

Ja, das ist schon etwas Besonderes, weil wir eine Reformgemeinde sind. Man merkt es auch daran, dass wir den Koran rational interpretieren. Rationale Interpretation, das bedeutet, dass die Interpretation des Korans mit der Vernunft übereinstimmt. Wir Ahmadi-Muslime sind fest davon überzeugt, dass es im Koran keinen einzigen Vers gibt, der mit der Vernunft nicht übereinstimmt.
Aisha Daud

Ein Ausschnitt aus der Diskussion findet sich bei YouTube.

Warum ist das erwähnenswert? Nun, hier sprechen Leute, die aus voller Überzeugung einer nur kleinen, aber frommen Gruppierung innerhalb des Islams anhängen, die aus Indien stammt. Es sprechen also Außenseiter innerhalb einer Weltreligion und keine Araber. So können sie sich als unabhängig darstellen und eine emotionale Distanz vorgeben. Sie können aber auch nicht behaupten wirklich zu verstehen, was eine arabische Sozialisation im heutigen Nahen Osten für das Denken und Handeln eines Muslim bedeutet, oder?

Was ist das Problem daran? Die beiden Podcaster sind nicht repräsentativ für den Islam des Nahen Ostens. Sie gehören zu einer Minderheit, die innerhalb des weltweiten Islams fast keine Rolle spielt. Weil sie selbst davon überzeugt sind, sie persönlich lebten den wahren Islam in der richtigen Art und Weise – und andere sogenannte Muslime eben nicht – verteidigen sie ständig „den Islam“. Hinweise auf diese Motivation kann man in einem frisch veröffentlichten Interview erhalten. Es lohnt sich, eine Passage daraus anzusehen, um ein Verständnis für dieses Denkmuster zu bekommen. Im selben Interview sagt Chaudhry auch, er sei Journalist geworden wegen des Zerrbilds, das westliche Medien über den Islam verbreiten würden. Ein Mann mit einer Mission also.

Kann man den beiden Podcastern einen Vorwurf daraus machen oder ihre guten Absichten in Zweifel ziehen? Nein, natürlich nicht. Dies ist eine typische Reaktion von sehr frommen Menschen in vielen Religionen (auch von glühenden Anhängern atheistischer Ideologien), wenn sie sehen, dass ihr Glaubenssystem nicht nur für abscheuliche Exzesse missbraucht werden könnte, sondern dies vor den Augen der Welt dann auch geschieht.

Aus ihrem Selbstverständnis heraus, nämlich die „echten Muslime“ zu sein, nehmen beide ihre Analysen vor. Und genau hier entsteht nun ein großes Problem. Sie werden, ohne dass sie es selbst merken, einseitig, weil sie aus ihrer Überzeugung heraus – also unterbewusst – den „wahren Islam“ verteidigen müssen. Und so sind sie, wegen ihrer nicht diskutierbaren moralischen Überzeugungen, ihrer spirituellen Erfahrungen und der daraus folgenden, immer mitschwingenden inneren Selbstbetroffenheit, eben alles andere als unabhängig.

Bei ihren historischen Exkursen stellen sie ihre Interpretationen als „offensichtlich“ dar und präsentieren den „Unwissenden“ manche Theorien mit einem selbstbewussten Schmunzeln auf den Lippen. Das toxische Potential eines Glaubenssystems wollen sie nicht sehen. Unter dem Strich sind für die beiden die Araber Opfer verschiedener westlicher Mächte. Und die Juden sind letzlich immer Täter. Zitat: „Hamas wurde erschaffen von Israel.“ (bei ca. 1:46:00 reinhören). Hier machen sie es genauso wie „Palästinenserpräsident“ Mahmud Abbas, der vor etwas über einem Jahr, direkt neben Olaf Scholz im Kanzleramt stehend, von 50 Holocausts gegenüber den Palistinensern sprach. Scholz gab ihm danach die Hand, wie man das im politischen Betrieb macht, wenn man „fest an der Seite der Jüdinnen und Juden steht“. Phrasen-Bingo.

Fazit: Medienphänomen einer – aus besten Absichten und wahrscheinlich reinen Gewissen – hergestellten, aber erschreckend einseitigen Sicht auf „Israels 9/11“, wie die Podcaster es nennen. Von mehreren Israelis war in den letzen Tagen zu hören, niemand in Israel rede dort von 9/11. Einzig passender Vergleich für den 7.10. sei in der dortigen Wahrnehmung die Shoah. – Holocaust reloaded.

Vorschlag: Da HerrKules ein weitgehend betonloses Bildungszentrum ist, möge die folgende Informationssammlung zur Meinungsbildung per Selbststudium in schlaflosen Nächten empfohlen sein.

Israel und Palästina verstehen Ein Gespräch mit dem Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn nach den Massenmorden in Israel durch die Hamas am 7.10.2023.

Die Geschichte Palestinas von 1896 bis 1977. Doku aus dem Jahr 1977 in zwei Teilen. Zeit mitbringen.

Eine Geschichte des Antisemitismus. Von der Antike bis in die Gegenwart. arte-Doku in 4 Teilen. Noch mehr Zeit einplanen.

Palistinenser – Ein Volk verfeindeter Brüder. arte-Reportage von 2020 über Gaza und das Westjordanland. Der Krieg zwischen Hamas und Fatah.

Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf Juden in Europa. arte-Doku von 2017, deren Ausstrahlung damals zunächst verhindert wurde, weil unter anderem das Problem des arabischen Judenhasses in Frankreich dargestellt wurde.

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Heinz Niski

Danke für diese vielen Quellenhinweise. Allmählich verliere ich meine Gelassenheit und Besorgnis kommt auf. Verstehe ich das richtig? Das sind die neuen Islamgelehrten, die Imame ausbilden werden?

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Heinz Niski

Ich verfolge mit Interesse den Kita-Lehrplan „Erziehung zum Frieden“ in anderen Ländern und Kulturen. Da wird man nicht dümmer von, wenn man sich das anschaut: https://twitter.com/AtticusJazz/status/1718671304969089530

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