5
(9)

Wenn sich der Sommer wie eine Dusche mit dem Kärcher im Herbstnebel anfühlt, geschehen sonderbare Dinge. Neulich, im vorhergesagt heißesten Sommer aller Zeiten, bewirkte der trübkalte Dauerregen bei 17 Grad Celsius eine feuchte, innere Kühle und eine verzagte Urlaubsseele ganz tief drinnen, so dass plötzlich Appetit auf Salzstangen aufkam.

Wenn alle Sommeraktivitäten innerhalb weniger Minuten immer als Wet-T-Shirt Contest enden, dann geht der über Jahre aufgebaute Vorrat an Handtüchern irgendwann zu Ende. An das Entwässern von selbigen auf einem Wäscheständer innerhalb des Wohnraums ist nicht zu denken, denn nach kurzer Zeit wellt sich die mit Spezialkleister bombenfest angebrachte Tapete bereits. So musste ausgerechnet in diesem Sommer 2023 – im Frühjahr noch als befürchtete Jahrhundertdürre prognostiziert – mitten im Juli die Wärmepumpe des Wäschetrockners angeworfen werden. Sie beförderte die Umgebungsluft auf ein annähernd sommerliches Temperaturniveau und pustete einen großen Teil der Feuchtigkeit aus den Stofffetzen. Beim Entleeren des Kondensatbehälters, genauer gesagt beim Anblick der austretenden Flüssigkeit, kam der Wunsch nach einem kleinen Pils auf.

Eine Blitzinventur im Wäscheschrank ergab, dass durch die ungeplant intensive Nutzung des Handtuchbestandes auch solche Exemplare wieder ans Tageslicht gezerrt wurden, von deren Existenz niemand überzeugt gewesen wäre, hätte man zuvor eine Umfrage gestartet unter denen, die sich üblicherweise an dem scheinbar grenzenlosen Handtuchvorrat bedienen. Die Sitte, defekte oder verschlissene Exemplare zu ignorieren, hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt und alle halten sich an die unausgesprochene Abmachung, Defektes und Dysfunktionales stets ganz nach hinten zu schieben. Das Prinzip wird seit Jahrzehnten deutschlandweit erfolgreich bei so gut wie allen Infrastrukturprojekten angewandt und funktioniert dort stets so lange, bis ausnahmslos alles kaputt ist. Dann wird es richtig teuer. Aber wir haben es ja.

Nach der erfolgreichen Entsorgung der verschlissenen und weitgehend unbrauchbar gewordenen Handtücher über die dafür vorgesehenen Wertstoffkreisläufe, sowie nach dem kurzfristig angesetzten Einkauf einer Anzahl neuer, an dem tatsächlichen Bedarf orientierten Menge von besonders saugfähigen Handtüchern, kam der Wunsch nach einer Tüte Chips auf.

Auf dem Rückweg sorgte ein monsunartiger Niederschlag, der horizontal in Laufrichtung die Einkäufer voll traf, für den ersten Wet-Pants-Contest des Jahres. Die Stimmung war darum bei der Heimkehr etwas aufgekratzt und wundgescheuert. Beim Anblick der heimischen, mit Bergen von feuchten Handtüchern drapierten Wohnhöhle, traten folgerichtig abgrundtiefe Leidenschaften in Form von verbalen Äußerungen aus dem Innersten nach außen und führten schließlich zum Äußersten. Als draußen das nächste gewittrige Starkregenereignis in diesem prognostizierten Extremdürresommer eingesetzt hatte, rief jemand: „Hier sieht es aus wie in der Bude von Horst Schimanski!“

So nahmen die Dinge ihren Lauf. Mitten im Höchstsommer 2023 trafen der Wunsch nach Salzstangen, Chips und einem Bierchen auf das berühmte Wetter zum Abwinken und auf Horst Schimanski. Die durchnässten Ruhrgebietsbewohner kramten zwecks Aufrechterhaltung der Körpertemperatur aus ihrer Winterwäschekollektion jeweils beigefarbene Parkas hervor, bevor sie beschlossen, mindestens einen in HD-Qualität restaurierten Tatort des Duisburger Hauptkommissars zu „striemen“. Ab auf die Couch, Glotze an, ARD-Mediathek aufrufen, die 18,36 € des Monats einlösen, in der Bilderwelt einer nasskalten, verfallenen und vergangenen Schmuddelgegend abtauchen, die damals in den 1980ern zu sehen und heute zu fühlen war, in diesem als extremtrocken erwarteten, sich dann aber als überflüssig entpuppenden Sommer.

Aus Anlass des 85. Geburtstags des 2016 verstorbenen Götz George hatte die ARD eine Auswahl alter Duisburg-Tatorte in ihrer Mediathek aufgebahrt. Nach der Auswahl des ersten Videos zeigte die Aufsicht habende Nanny zunächst einen Hinweis an.

„Das folgende fiktionale Programm wird, als Bestandteil der Fernsehgeschichte, in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen mit diskriminierender Sprache und Haltung.“

Ach? Tatsächlich? Diskriminierende Sprache und Haltung bei Schimanski? Ist Schimanski nicht mehr einer von den Guten, der sich immer um die Kaputten am Rande der Gesellschaft kümmert? Er selbst besitzt so gut wie nichts und braucht auch nicht viel zum Leben. Sein CO2-Footprint entspricht quasi dem eines zentralafrikanischen Kongolesen. Ihm reicht sein Herz aus Gold, mit dem er sich gegen alle Vorschriften und die übermächtige Staatsgewalt stemmt, in deren Dienst er selbst steht. Ein U-Boot inmitten des spießigen Beamtenapparats seiner Zeit. Eigentlich ein sehr brauchbares Vorbild für gesellschaftliches Engagement weit über das übliche Maß einer Beamtentätigkeit hinaus. – Ja, wenn da nicht diese behauptete „diskriminierende Sprache und Haltung“ wäre in diesem „fiktionalen Programm“. Das Ansehen einer ausgedachten Tatort-Geschichte mit überzeichneter Ruhrpott-Konversation aus den 1980ern sollte darum wirklich gut überlegt sein. Höchstwahrscheinlich ist die Folge „Duisburg-Ruhrort“ einfach zu verstörend für heutige Gemüter. – Ach, scheiß was drauf. Jetzt wird Schimanski geguckt trotz der Warnung vor diskriminierender Sprache und Haltung.

Neunzig Minuten später sind alle einigermaßen gelangweilt und die Salzstangen müssen aufgefüllt werden. Wir wählen eine weitere Tatort-Folge in der Mediathek aus: „Zabou“. Das muss ein zutiefst jugendgefährdender Film sein, denn zunächst wird eine weitere Warnung angezeigt. Wahrscheinlich hat uns jemand aus der engeren Umgebung bei der ARD verpfiffen. Man guckt nämlich nicht am Nachmittag eines Dürresommers (dem schlimmsten jemals vorhergesagten!) in einer Decke eingehüllt auf dem Sofa sitzend einen alten Schimanski. Dazu muss man sich erst bei der ARD legitimieren.

Wir sollen also bestätigen, dass alle bereits 16 Jahre alt sind, sonst wird das nichts mit dem verbotenen Film am Nachmittag! Alle Achtung, das muss ja ein wirklich schlimmer Streifen sein. Wir registrieren Mickey Maus (18. November 1928) und danach lesen wir langsam und wiederholend im Chor die bereits vom vorhergehenden „Vergnügen“ bekannte Warnung vor der überall gegenwärtigen Diskriminierung in Sprache und Haltung. Anschließend schwören alle bei unserer Fernbedienung, dies und noch viel mehr fortan zu ächten.

Heftig das! Game of Thrones ist nichts gegen die Verkommenheit in Sprache und Haltung dieses alten Tatorts. Beispiel: Szenen in einer Gogo-Bar. Sich müde an einer Stange festhaltende, kaum Haltung annehmende, dürre, weiblich gelesene, spärlich bekleidete Gestalten sind sekundenlang im Bild zu sehen. OK, das jugendgefährdende Sichtmaterial müssen dann wohl die Frisuren sein. Oder ist es, weil der Horst ein Verhältnis hat mit seiner wiedergefundenen, mittlerweile erwachsenen Quasi-Stieftochter, auf die er – gutherzig wie er nun mal ist – mehrfach hereinfällt. Kein männlich gelesener Protagonist als Oberschuft im Tatort diesmal. Uiuiui, verstörend. Gut, dass den jungen Zuschauern „fiktive Geschichten“ heute nur in Form von nichtdiskriminierender Sprache und absolut gendergerecht zugemutet werden.

Für neue Chips ist bereits gesorgt, als ein dritter Versuch bei der Suche nach diskriminierender Sprache gestartet wird. Diesmal im Schimanski-Tatort „Zahn um Zahn“. Huch! Keine Warnung? Ja, keine Warnung und die Altersempfehlung wurde irgendwann nachträglich auf 12 Jahre herabgesetzt. Das Original lief im Kino einst als 16+. Der Plott: Im Sommer 1985 wird in Duisburg eine Werkssiedlung abgerissen und die Bewohner sind über Nacht obdachlos. Der böse Kapitalist Grassmann ist schnell als die Wurzel allen Übels identifiziert. „Sehr gut! Gib es ihm, dem Spekulantenschwein!“, höre ich mich laut rufen. Den fingierten Selbstmord eines ehrlichen Buchhalters und die Hinrichtung dessen Familie scheint der Typ auch auf dem Gewissen zu haben. „Natürlich! Wer denn sonst? Ist doch weit und breit kein anderer Nazi zu sehen, ihr Honks!“, platzt es aus mir heraus. Aber Schimanski meint, für ihn sehe das alles zu glatt aus. Darum verfolgt er auf eigene Rechnung verdächtige Spuren bis nach Marseille. Begleitet wird er dabei von der Journalistin Ulli, einer „guten Bekannten“, mit der er – aufgrund der in On-Off-Dauerbeziehung ausgelebten gegenseitigen sexuellen Anziehung – auf einem fahrenden LKW kopuliert. Gestöhnt wird ab und zu, jedoch nicht wegen der Sommerhitze wie bei uns im fürchterlichsten Hitzesommer ever. Renan Demirkan in ihrer Rolle als Ulli ist – dem Wetter Südfrankreichs entsprechend – mit wenig Verhüllung unterwegs. Szenenwechsel: Die ausländischen Bullen krallen sich Schimanski und buchten ihn in ihrem Kerker ein, behandeln ihn wie den letzten Dreck und überhaupt scheint sich in Sachen Polizeigewalt nichts verändert zu haben seit 1985. „Endlich mal etwas aktuelle Gesellschaftskritik! Wo bleibt die französische Antifa? Der Horst braucht Hilfe!“, ertönt es aus mir. Der Mörder, gespielt von dem französischen Schauspieler Rufus (auch bekannt als gedanklich immer abwesender Vater der Amelie in „Die fabelhafte Welt der Amelie“) ist natürlich ein Waffennarr, ein Söldner, ein Menschenverächter, möglicherweise sogar ein Nazi, ein [hier einen beliebigen Ausdruck einsetzen, der nach der Definition des WDR nichtdiskriminierend ist]. Horst fährt mit seinem Citroen CX wie der Henker. Es gibt einen dramatischen Showdown und weitere tragische Todesfälle. Schimanski versteht die Welt nicht mehr. Dann ist Schluss.

Erschüttert bleiben wir Zuschauer zurück. Es stellen sich jede Menge Fragen, denn wir nehmen den Bildungsauftrag des ÖRR ernst: Hätte eine beginnende präventive Sprachsensibilisierung in den Duisburger Schulen ab den 1970ern all das gezeigte Elend nicht problemlos verhindern können? Hätte ein kritischerer Umgang mit dem erlaubten Wortschatz und die positive Beeinflussung durch zarte Hinweise des WDR per Einblendung nicht dabei helfen können, diese Morde gar nicht erst geschehen zu lassen? Wäre der Bau einer gemeinsamen, solidarischen, nichtdiskriminierenden Zukunft auf der Basis nachhaltigen Handelns durch die Initiative des Horst Schimanski, dort auf der Polizeiwache in Frankreich, nicht ein vorbildliches Lehrstück für die europäische Verschmelzung der Vielen zu dem großartigen Einen, gerade vor dem Drohszenario der Klimakatastrophe gewesen? – Das sind die Fragen, die wir in einer halbstündigen, intensiv geführten Nachbesprechung miteinander hin und her bewegen. Die allumfassende Antwort lautet schließlich: „Wie dem auch sei.“ Nach viereinhalb Stunden regnet es immer noch in der menschengemachten Dürresommerkatastrophe da draußen. Der demokratische Diskurs zwischen den immer noch feuchten Handtüchern endet mit einer neuen Fragestellung: „Sind eigentlich noch Chips da?“

Die Welt des Schimanski im Tatort war weniger nass und schmuddelig als in der Erinnerung. Damals waren Spießer noch konservativ und Progressive gegen den Staat und seine Institutionen eingestellt. Heute: vertauschte Rollen. Schauspieler kämpften sich damals ganz ohne Sprachpolizisten durch mittelmäßige Szenenbilder und Manuskripte. An der Qualität der Drehbücher hat sich nicht viel verändert. An den Dialogen schon. Sie entstammten einst dem Alltag, heute dem Gesellschaftslabor. Und wenn es der Aufklärung eines Falles diente, wurde der eigene Kollege, anstatt zu diskutieren, kurzerhand – politisch völlig unkorrekt – KO geschlagen (Schimanski kontra Thanner), nur um ein paar Szenen später von seinem wiedererwachten „Freund“ voll einen auf die Zwölf zu bekommen (Thanner kontra Schimanski), als begrenzende Gerechtigkeit unter Kollegen: Zahn um Zahn. Autoren mit solchen Einfällen finden sich kaum noch. Heute würde im Drehbuch eines Tatorts der Vorgesetze der intellektuellen Pragmatiker Schimanski und Thanner beiden eine gemeinsame Verhaltenstherapie verordnen zum Abbau von Spannungen im Dienst. Und zur Förderung der Work-Life-Balance. Damals gingen die geschauspielerten Beamten ohne Gutschein für den Psychotherapeuten einfach miteinander ein Bier trinken, um das Blut aus dem Mund zu spülen. – Die Zeiten ändern sich.

Hoffentlich bald wieder.

Nachschlag: Hinweise zu Filmen und Sendungen von Otto Walkes und von Harald Schmidt sind in der ARD-Mediathek schon länger üblich. Warnungen vor Witzen oder Furcht vor missverstandener Satire?

Was kommt als nächstes?

Vielleicht Loriot („Du und dein Körper“) sauber filetiert auf dem Seziertisch der Hyperkorrekten?

Vollständig entlustigt wird er bereits.

Wie inspirierend, erhellend, unterhaltend war dieser Beitrag?

Klicke auf die "Daumen Hoch" um zu bewerten!

Durchschnittliche Bewertung 5 / 5. Anzahl Bewertungen: 9

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Weil du diesen Beitrag inspirierend fandest...

Folge uns in sozialen Netzwerken!

Es tut uns leid, dass der Beitrag dich verärgert hat!

Was stimmt an Inhalt oder Form nicht?

Was sollten wir ergänzen, welche Sicht ist die bessere?

Von Ali-Emilia Podstawa

Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
Meine Daten entsprechend der DSGVO speichern
2 Kommentare
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Mi.Rob.

Man muss halt immer den Kontext der diskriminierenden Sprache berücksichtigen.
„Brandmauern“ böse wenn es gegen Flüchlingsheime geht aber gut und richtig, um Oppositionelle politisch zu verfolgen.
Ausgrenzung und Diskriminierung böse wegen Nationalität, Geschlecht, Hautfarbe usw. aber gut und richtig wegen Impfstatus.
Ich bin guten Mutes und optimistisch, dass es auch in einer diskriminierundfreien Gesellschaft immer noch Schutzräume geben wird, in denen Diskriminierung, Ausgrenzung und Beleidigung immet noch ungestraft möglich sein wird.
Es muss sich halt nur gegen die richtigen Personengruppen richten. Dann ist das auch ok.

0
0
Heinz Niski

Empört euch…. hier und dort.

Harald Schmidt
@DirtyHarry_tv
·
26. Juli
Lieber @Bundeskanzler
,

wann bekommen eigentlich Minderheiten wie ich, Fleischesser, eine Fahne auf dem Reichstag?

Eine wehende Schweinshaxen-Fahne wäre ganz toll.

Liebe Grüße

Ihr Harald

0
0