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„Immer wieder Gelsenkirchen unhaltbare Wohn- und Lebensverhältnisse auf.“
(WAZ vom 30.11.2022)

Dieser Satz könnte das Meisterwerk eines Dadaisten sein. Doch der Satz stammt aus der Tastatur der WAZ-Lokalredaktion und war stundenlang online abrufbar, bevor ein Lektorat das Kunstwerk verunstaltete. Interpretierbar sind die Worte trotz des gewöhnungsbedürftigen Satzaufbaus durchaus, wenn man den Wörtern ein wenig Abstand voneinander gönnt und sie in drei Zeilen aufteilt.

Immer wieder Gelsenkirchen

Die erste Zeile deutet eine gewisse Antriebslosigkeit der Lokalredaktion an, sich erneut mit dem Hauptthema ihres Aufgabengebiets beschäftigen zu müssen. Immer wieder Gelsenkirchen. Schon wieder Gelsenkirchen. Ständig Gelsenkirchen. Man hört das „Du-mein-Güte-was-ist-das-nur-für-eine-Stadt“ tonlos mitschwingen. Man möchte der Redaktion helfend beispringen und von Dingen erzählen, die Hoffnung machen für die nächsten Wochen, Monate und Jahre. Doch was könnte das sein?

unhaltbare Wohn- und Lebensverhältnisse

Die zweite Zeile ist mehrperspektivisch. Der Anblick einiger Häuser in bestimmten Vierteln dieser Stadt evolviert bei manchen Betrachtern Gedanken, die im Kopf von rechts nach links oder umgekehrt laufen, sich immer weiter um einen Kernbegriff drehen, bis genügend Wiederholungen stattgefunden haben, dass die Wortbedeutung dem Denkenden als geradezu mystisches Erlebnis in einem großen, rotierenden Fragezeichen über der Schädeldecke zu schweben scheint. „Unhaltbar“. Was bedeutet eigentlich dieses Wort?

 

Aufklebersammlung auf Stahltür, Foto: Privat

„Unhaltbar“, meinte letztens der verhinderte Armbindenträger und gebürtige Bueraner, der im Nebenjob derzeit Bälle in der heruntergekühlten Wüste fängt. „Unhaltbar“. Da kann man nichts machen. Es war nicht zu verhindern. Es sind Naturgesetze, die im Wege standen. Ein Fußball, mit um die 100 Sachen aus 20 Metern per Vollspann exakt unter das Lattenkreuz gedroschen, ist selbst für einen extrem geübten Profi-Hechter nicht mehr zu erreichen, wenn seine Ausgangsposition, Reaktionszeit und maximale Körperbeschleunigung beim Abwehrversuch den physikalischen Gegebenheiten gehorchen müssen. Ein Teil des Problems war, dass der Torwart am gegenüberliegenden Pfosten gestanden hatte. Keine Chance von dort aus einzugreifen. „Unhaltbar“ heißt damit „nicht zu ändern“, „nicht zu verhindern“. Keiner ist dafür verantwortlich. Punkt.

Wie wäre die Situation zu beurteilen, wenn der Keeper einen anderen Standpunkt eingenommen hätte? Wenn der Torhüter direkt unterhalb der Einschussstelle gestanden hätte, reichten ihm seine hochgerissenen Fäuste zur Abwehr mit hoher Wahrscheinlichkeit vollkommen aus. Aber dort stand er nicht. Die Fachleute sprechen in diesem Fall von einem Stellungsfehler. Wenn ein Torhüter, für alle Zuschauer sichtbar, desorientiert agiert und die Gefahr nicht rechtzeitig erkennt, die seine Position auf dem Spielfeld für das eigene Team auslöst, dann wird aus „der Ball war unhaltbar“ „der Torhüter irrte herum“. Es spielt keine Rolle, was der Torwart an seiner falsch gewählten Position getan hat. Es war offensichtlich unsinnig, weil wirkungslos, was seine Aufgabe Tore zu verhindern betrifft. Unhaltbar kann also auch eine billige Ausrede sein, wenn derjenige, der nach dem Regularium des Spiels als einziger die Möglichkeit hätte, mit den Händen aktiv die Flugbahn des Balles zu verändern, irgendwo anders mit besten Absichten im Strafraum herumirrte.

„Unhaltbar“ kann auch bedeuten, dass ein Zustand, eine Situation, eine Lage nicht mehr stabil ist. Wenn Lasten zu groß werden, können die Lastenträger sie nicht mehr tragen. Es wird „unhaltbar“. Noch eine Bedeutung von „unhaltbar“ bezieht sich auf eine geäußerte Meinung, die von den tatsächlichen Begebenheiten, den sogenannten Fakten, als unzutreffend entlarvt wurde. „EU-Freizügigkeit bringt allen nur Vorzüge“ ist ein Klassiker unter den kontrafaktischen Meinungen. Und vor Gericht können Anschuldigungen unhaltbar werden, wenn sie in der Beweisführung zusammenbrechen. Doch wo kein Kläger, auch kein Richter.

Nun sind es nach den Worten der WAZ-Lokalredaktion die Wohn- und Lebensverhältnisse, welche unhaltbar seien. Wonach die Redaktion für die Beschreibung des Geschilderten besser gesucht hätte, wären Begriffe wie „unzumutbar“ oder „unerträglich“. Leider wurden diese Worte nicht gefunden. Vermutlich wollte die Redaktion routiniert den monatlichen Bericht verfassen, der vor allem zeigt, dass jede Menge Aktionen veranstaltet und Sanktionen verhängt werden, ohne eine echte Problemlösung zu finden. Sie entschuldigte durch den Gebrauch des eher schwachen „unhaltbar“ in gewisser Weise aber, dass die großen Probleme und kleinen Katastrophen in Gelsenkirchen von Gesellschaftsarchitekten auf der ganz großen politischen Bühne verursacht wurden. Dass es sich weder um Herrn Müller noch Frau Yilmaz handelte, die bei der Hausbesichtigung vom Ordnungsdienst vielfach ermahnt und verwarnt wurden, bleibt unerwähnt. Die Chiffre „Interventionsteam EU-Ost“ soll reichen, um sich den restlichen Kontext herzuleiten.

auf

Die dritte Zeile enthält die wichtigste Botschaft. Ja, es ist weiterhin „auf“. Es ist „auf“ im Sinne von geöffnet. Wer kommen mag, darf kommen und hier hausen. Besser hier als anderswo. Daran wird sich nichts ändern. Man sollte das Thema darum besser „auf-geben“.

„Auf-bauen“ oder „auf-räumen“? Die Entscheidung ist längst gefallen, wenn es um die städtische Bausubstanz geht. Die unsäglichen Maßnahmen der Stadtsanierung per Bulldozer in den 1960er und 1970er Jahren wiederholen sich. Im Gegensatz zu früher weiß man allerdings heute mit den neu geschaffenen Baulücken nichts mehr anzufangen. Erst mal abreißen und planieren, dann sehen wir weiter. Das wird mittlerweile von gewählten oder verbeamteten Entscheidungsträgern in vielen Fällen ohne einen Plan B im Aktenschrank (Pardon, der Cloud) mit der Hinterhand „aus-geführt“. Der neu geschaffene Freiraum gegenüber dem Musiktheater spiegelt diesen Trend eindrucksvoll wider. Wer möchte schon eine funktionierende Infrastruktur, wenn das „Nichts“ viel günstiger zu bekommen ist als die Sanierung eines stadtprägenden Gebäudes aus den 1970er Jahren? Eine „auf-blasbare“, aber leicht zu demolierende, Traglufthalle im Sportparadies ist doch auch ein schöner Ersatz.

Oder könnte der Ausruf „Auf geht’s!“ gemeint sein im Sinne von Fortschritt, von Ärmel hochkrempeln und „auf-bauen“? Nein, hier ist die Exegese bei Beachtung des Kontexts eindeutig. Damit hat das „Auf“ in der WAZ gar nichts zu tun.

Was bleibt an Erkenntnis übrig, die der gedankliche Brummkreisel ausgelöst hat? Nun, vielleicht dies: Endlose Wiederholungen des immergleichen Themas können über kurz oder lang zu Sinnestäuschungen führen. Im Text fällt nämlich eine weitere Aussage ins Auge. Dort werden biologische Fakten des Unmöglichen in neue menschliche Eigenschaften transformiert. Hier folgt die WAZ dem aktuellen Trend, gesicherte naturwissenschaftliche Erkenntnisse durch gefühlte Wahrheiten abzulösen.

„Im ganzen Treppenhaus war darüber hinaus ein deutlicher Kohlenmonoxid-Geruch wahrzunehmen.“

Geruchlose Gase sind neuerdings am Geruch wahrnehmbar. Nun, wenn es aber in der Zeitung steht?

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Von Ali-Emilia Podstawa

Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

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Heinz Niski

Und abermals wurden die Frauen und Männer des Kommunalen Ordnungsdienstes (KOD), des Verkehrsüberwachungsdienstes (VÜD), der Baubehörde und der Wohnungsaufsicht, der Arbeitsverwaltung (IAG), des Energieversorgers, der Polizei und der Sprachmittler bei ihren Kontrollen fündig – diesmal in Rotthausen.

Hömma Ali, tu ma nen Aufsatz über den Begriff „Sprachmittler“ – was mitteln die?
Danke, hab dich lieb.

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Fra.Prez.

heißt es nicht „Sprachmittelnde“?

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Heinz Niski

nee, ich glaube mittelmäßig….

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Jetzt kann nur noch Ali-Emila helfen.

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Fra.Prez.

Who-the-fuck iz dat?

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Heinz Niski

Ali-Emilia Podstawa Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

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Fra.Prez.

Sinan Sat dürfte der Text interessieren

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Heinz Niski

Ich glaube, der ist hinter einer Bezahlschranke, aber du kannst ihm den Text heimlich zumailen. 😎

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Be.Voi.

Ich muss gestehen, dass das Dasein an diesem Ort durch Texte wie diesen deutlich erträglicher wird. Dennoch drängt sich mir die Frage auf, woher die Redaktion HerrKules ihre grundsätzliche Motivation bezieht, warum sie all diese Arbeit bewerkstelligt und nie den Entschluss gefasst hat, dem ganzen Moloch hier einfach durch Wegzug den Rücken zu kehren. Ich habe mich selbst zuletzt in eine noch einigermaßen erträgliche Seitenstraße in Bismarck gerettet. Sobald man jedoch vor die Haustür tritt, ist er da, der generelle Horror. Noch habe ich Motive hier zu bleiben, aber eines Tages werde ich hier verschwinden.

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