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Gelsenkirchen war einmal die „Stadt der tausend Feuer“. Diese Bezeichnung saß. Sie war treffend. In der Nacht war die Stadt erleuchtet von Fackeln, Flammen, Feuerzeichen der Industrie. „Tausend Feuer in der Nacht haben uns das große Glück gebracht“, heißt es in der Vereinshymne des FC Gelsenkirchen Schalke 04. Das stimmt. Gelsenkirchen war eine Boom-Town, ging auf 400000 Einwohner zu. Aber das „große Glück“ ist mit dem Untergang von Kohl- und Stahlindustrie vergangen. Wer die Zeile heute noch singt (und ehrlich und geschichtsbewusst ist), singt das Lied mit einem verklärend-nostalgischen Unterton, denn aus dem „großen Glück“ wurde ein in großen Teilen verpasster Strukturwandel. Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund sind heute Universitätsstädte – Gelsenkirchen ist (nicht nur) in dieser Hinsicht abgehängt. Ein wenig orientierungslos auch.
Diese Orientierungslosigkeit drückte sich in einem zwischenzeitlichen Slogan aus, einem Wortunsinn, den sich Leute ausgedacht haben müssen, die entweder abgrundtief zynisch oder abgrundtief ahnungslos hinsichtlich von Slogans und ihrer Wirkung und der Bedeutung von Wort-Bild-Marken gewesen sein müssen. Das Sprachmonstrum, begleitet durch Piktogramme für die völlig Verblödeten, lautete „Gelsenkirchen: Herz im Revier voll Kraft und Zauber“. Eine der Geistesgrößen, die Gelsenkirchen zur Zeit des Slogans heimsuchten, war Günther Oettinger, der damalige EU-Kommissar für Energie, der auf dem Neujahrsempfang der CDU 2014 diesen geistigen Sprach-Kracher zitierte (Quelle: WAZ-Lokalteil). Und auch in einer städtischen Publikation (damaliger OB: Frank Baranowski) mit dem Titel „Bürgerinformationsbroschüre“ ( https://www.total-lokal.de/pdf/45879_info.pdf) wurde der sprachliche Knallfrosch noch gezündet. Der aber bald sang- und klanglos verpuffte, verschwand, sich irgendwo im nirgendwo schamhaft versteckte, ohne dass man allerdings den oder die Verantwortlich zur Rechenschaft ziehen konnte. Aber Scheiterhaufen waren sowieso schon aus der Mode gekommen!
2020 kam dann als Sturzgeburt („schnell gefunden“) der „bunte Haufen“ auf die Welt, über den es auf den städtischen Seiten heißt: „Über eine interne Befragung waren die rund 6.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt an der Findung des Mottos beteiligt. Sie wurden aufgerufen zu skizzieren, was die Arbeit bei der Stadt für sie bedeutet und warum sie sich für die Stadt als Arbeitgeberin entschieden haben. ‚Bunt‘, ‚vielfältig‘, ‚abwechslungsreich‘, ‚sinnhaft‘ und ‚sicher’ waren die häufigsten Nennungen – und so war das Motto der Kampagne schnell gefunden.“

Es fallen zunächst zwei Aspekte auf: Hier wird von einer „Kampagne“ gesprochen, also einer auf Länge angelegten und mit verschiedenen Elementen unterfütterten und auf ein Ziel hin ausgerichteten Strategie (etwa wie die Wahlkampagne eines Kandidaten für ein politisches Amt). Davon war aber meiner Kenntnis nach bisher nichts Nennenswertes zu sehen und zu hören. Zweitens: der Akzent verschiebt sich von der Stadt (Gelsenkirchen: Herz im Revier…) zu den städtischen Bediensteten, die nun für sich selbst werben und sich „labeln“. Die Stadt ist nicht Gegenstand der „Kampagne“, sie gilt vielmehr selbstreferentiell den Beschäftigten. Was dazu passt:
Unter dem Motto „Wir sind ein bunter Haufen“ (riesig im Hintergrund der Redenden) hat OB Karin Welge im Oktober noch ein Loblied auf die Ausbildung bei der Stadt gesungen: „Bei unserer Stadtverwaltung und ihren Töchtern arbeiten viele Menschen, die eine wirklich wichtige Aufgabe erfüllen.“

Nun aber zu den Bestandteilen der Selbstbezeichnung:

Der Haufen
Laut DUDEN ist ein Haufen zunächst ein Substantiv, maskulin (der), mit der Bedeutung: „Menge übereinanderliegender Dinge; Anhäufung; hügelartig Aufgehäuftes“ (Beispiel: „ein großer Haufen Kartoffeln, Sand“).
Eine Menge also, eine Anhäufung, etwas Aufgehäuftes, nicht Differenzierbares, nicht in seine Einzelteile zu zergliedern, denn diese Teile existieren nur als „Aufgehäuftes“. Und diese Menge des Aufgehäuften führt zur Paradoxie des Haufens (Sorites-Paradoxie). Ein sprachliches Phänomen, denn der Begriff Haufen ist vage: Seine Anteile, die Menge der (notwendigen) Einzelteile, lässt sich nicht bestimmen. Die Frage ist hier nicht „Wann ist der Mensch ein Mensch?“ (Herbert G.), sondern: Ab wann ist der Haufen (k)ein Haufen? Und wie viele Elemente kann ich wegnehmen, ohne dass der Haufen seinen Haufen-Charakter verliert. Wenn ich also von den 6400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 5000 entlasse, habe ich trotzdem noch einen Haufen. Aber wenn ich noch einmal 1300 entlasse, so dass nur 100 übrigbleiben, ist das dann immer noch ein Haufen?
Eine Variante der Paradoxie des Haufens ist, nur zur Veranschaulichung hier erwähnt,  die Paradoxie des Kahlköpfigen: Wie viele Haare darf ein Mensch auf dem Kopf noch haben, um ihn als Kahlkopf zu kennzeichnen: 2, 200, 6400? Wir bewegen uns also im Bereich vager Begrifflichkeiten, denn es lässt sich eben nicht genau bestimmen, ab wann ein Haufen (k)ein Haufen ist, wir wissen nur, dass ein Haufen eine Ansammlung von Elementen ist, eine Anhäufung gleichartiger Teile. Eine klare Definition gibt es nicht!
Treten wir also in Gelsenkirchen einem Mitarbeiter (m, w, d) gegenüber, dürfen wir nicht erwarten, einem Einzelnen zu begegnen, der sich aus dem Haufen entfernt hat, wie eine Kartoffel, die aus dem Kartoffelsack gerollt ist. Sie (Bürger m, w, d) stehen oder sitzen in diesem Fall vielmehr dem Teilelement einer nicht qualitativ zu bestimmenden Grundgesamtheit gegenüber, die lediglich aus Teilen einer Anhäufung besteht. Der Begriff „Haufen“ schließt, eben weil er vage ist und bleibt, qualitative Merkmale völlig aus. Ein Haufen Kartoffeln kann Dutzende von faulen Kartoffeln beinhalten, er bleibt ein Haufen. Und Mitarbeiter einer Verwaltung, die sich selbst als Haufen sehen, haben nur das Kriterium der vagen Menge für sich, keine Qualitätsmerkmale.

Bunt
„Halt!“, rufen Sie jetzt vielleicht. Es ist doch ein „bunter“ Haufen. Also ist das Qualitätsmerkmal die „Buntheit“. Nun ist zunächst festzustellen, dass „Buntheit“ kein Ausbildungs- oder Studiengang ist und man auch keine „Buntheits-Lehre “ absolvieren kann. Buntheit ist keine Einzelleistung, sondern beruht auf der Mehrzahl. Eine Decke ist erst bunt, wenn zur Farbe ROT weitere Farben hinzukommen. Wenn nicht, dann ist die Decke rot, aber nicht bunt. Wenn eine weitere Farbe hinzukommt, also etwa blau, ist die Decke zweifarbig, also rot-blau! „Bunt“ ist kein Alleinstellungsmerkmal eines Einzelnen. Und „bunt“ ist kein Qualitätsmerkmal: Alle Farben, die nicht zu Schwarz, Weiß oder zu den Grautönen gehören, sind bunt – im Zusammenspiel mit anderen bunten Farben.
Wenn eine Wolldecke schön bunt ist, dann können sie sich daran erfreuen. Aber die Freude währt nicht lange, wenn Stoff und Verarbeitung qualitativ schlecht sind. Dann wird das bunte Ding schnell zum Ärgernis. Zudem ist das Adjektiv „bunt“ nicht ausschließlich positiv besetzt: Wenn Sie lange in der Warteschleife der Stadtverwaltung hängen, wird es Ihnen nämlich zu bunt! Wenn eine Stadtverwaltung schlecht funktioniert, weil die Mitarbeiter nicht motiviert und qualifiziert sind, wenn Stellen nicht besetzt sind, so dass Unlust, Desinteresse an der Arbeit und Überforderung die Folgen sind, haben Sie als jemand, der bei der Stadtverwaltung mit einem Anliegen erscheint, von der „Buntheit“ nichts. Sie nervt vielleicht sogar, die Buntheit! Sie erwarten, vermute ich mal, genau wie ich, Servicequalität, freundliche und kompetente Beratung oder Hilfe, eine rasche Erledigung der Angelegenheit, deretwegen Sie gekommen sind. Ob die, die den „bunten Haufen“ bilden, sich nun selbst als bunt und vielfältig verstehen (auch im Sinne von Diversität), interessiert wohl die meisten „Kunden“ nicht! Und wenn das Klima am Arbeitsplatz schlecht ist, dann bekommen Sie das schlechte Klima zu spüren – für die „Buntheit“ können Sie sich nichts kaufen! Und zudem ist die Zuschreibung „bunt“ durchaus geeignet, in der Verwaltung real existierende Hierarchien, Machtgefälle, Konkurrenzsituationen, Ungleichheit und Diskriminierung zu kaschieren und zu verlängern.

Der Teufel
…soll bekanntlich im Detail stecken, aber es heißt über ihn auch „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ (Volksweisheit). Ob der Teufel allerdings seine Finger im Spiel hatte, als die Stadt Gelsenkirchen sich dazu entschied, ihre Verwaltung als „bunten Haufen“ zu bezeichnen, weiß ich nicht. Aber dieser Slogan, der eine positive Selbstbezeichnung sein soll, ist letztlich eine eher arme Selbstbezichtigung. Aus 6400 Individuen, die in der Verwaltung arbeiten, wird ein Haufen, eine Ansammlung, eine Anhäufung. Und wir wissen doch, dass wir in Deutschland eine Vorliebe für Fäkal- und Analhumor haben, denn „Scheiße“ ist immer noch das beliebteste Schimpfwort (und nicht das US-amerikanische „fuck“). Und zwischen den Wörtern „Scheiße“ und „Haufen“ verläuft so gut wie keine Trennlinie. Und ein „bunter“ Haufen deutet – medizinisch gesehen – auf nicht verdaute Nahrungsreste hin, kann aber auch ein Zeichen für Pilz- oder Parasitenbefall sein. Womit ich nicht sagen will, dass Sie sich beim nächsten Besuch der städtischen Verwaltung von den Mitarbeitern des des „bunten Haufens“ erst mal eine Stuhlprobe zeigen lassen sollen!
Das wäre zu viel verlangt!

 

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Fra.Prez.

Der Text beeindruckt. Einem Seziermesser gleich, öffnet er den aufgeblähten Schwachsinn des sog. „Slogans“. Man kann als GELSENER recht viel ertragen. Gleich zwei „Slogans“ dieser untersten Entwicklungsstufe (1. Lehrjahr, 1. Tag, 1. Stunde…) in nur 10 Jahren sind mir und Dennis Zitzewitz zuviel. Wir beide wollten schon zur Zeit von Slogan-Autor „Herz im Revier…“ Lalakakis in den APO-Untergrund gehen, um Attentate auf alle Worthülsen zu verüben.

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Den.Zitz.

Im Zuge der höheren Menschwerdung der letzten Monate, ist mir übrigens aufgefallen, dass es eigentlich “ Gelsenkirchen – Die Aufsteiger:innen Stadt“ heißen müsste.

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