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Ausschnitt Schnorr von Carolsfeld - Glaube Liebe HoffnungMan stelle sich einmal folgendes vor:

In Essen treffen sich die Hersteller von Blockflöten, von Notenheften für das Blockflötespiel, von Vertretern der Musikschulen (Abteilung Holzblasinstrumente) und Lobbyisten von Peripheriegeräteherstellern für die Blockflöte zum „2. Nationalen Blockflötengipfel“.

Wäre auf dem Weltmarkt die Herstellung von Blockflöten das Zukunftssegment mit der Aussicht auf größten Profit – und Deutschland rangierte hier nur auf Platz Sechs oder Sieben – würde auf einem nationalen Blockflöten-Gipfel die Forderung erhoben, bereits in Kinderkrippen das Erlernen des Blockflötenspiels und den spielerischen Bau dieser Instrumente zum curricularen Schwerpunkt zu machen, damit Deutschland alsbald in das Spitzentrio in diesem Weltmarktsegment vorstoßen könnte.

Als Kernforderung würde erhoben, das Blockflötespiel zum Pflichtfach in den Schulen zu machen. Absurde Vorstellung?

Mag sein.

Warum wird es aber dann nicht als absurd empfunden, wenn auf einer Veranstaltung in Essen mit dem hochtrabenden Titel „Nationaler IT-Gipfel“ von interessierter Seite die Forderung erhoben wird, Informatik zum Pflichtfach in Schulen zu machen, sie also in den Rang von Fächern wie Deutsch, Mathematik und den Fremdsprachen zu erheben?

Unsere Gesellschaft, so war zu lesen und zu hören, leide an einem Mangel an Fachkräften auf diesem Sektor; und um weltweit einen der vorderen Plätze im Bereich der neuen Technologien einzunehmen – und damit die Zukunft Deutschlands zu retten – sei ein höherer Ausstoß an Informatikern nötig. Warum wird es in diesem Fall nicht als absurd empfunden, dass die Lobbyisten einer Industrie meinen, in die Lehrpläne von Schulen hineinregieren zu können? Nur weil diese Industrie (unzweifelhaft) von größerer ökonomischer Bedeutung ist als die „Blockflötenindustrie“?

Ganz offensichtlich.

Unbekannter FehlerEinmal mehr wird an diesem Beispiel deutlich, dass in unserer Gesellschaft Bildung nur noch unter dem Blickwinkel ökonomischer Rationalität und Effizienz diskutiert zu werden scheint. Schon der Bologna-Prozess, der unter der Fahne der europäischen Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit von Studiengängen bzw. Studienabschlüssen angeschoben wurde, ist letztlich zweckökonomischen Überlegungen geschuldet (gestraffte Studiengänge im modularen Baukasten).

Auch die Verkürzung der Unterrichtszeit um ein Jahr bis zum Abitur erfolgte letztlich nicht auf der Grundlage eines bildungspolitischen Diskurses und einer pädagogischen, nämlich die Entwicklung von Jugendlichen in den Vordergrund rückenden Debatte, sondern orientierte sich am höheren Ausstoß von Abschlüssen, wobei die Qualität der Abschlüsse, also das Niveau der „Reife“, kaum eine Rolle spielte.

Ausgangspunkt bei all diesen Überlegungen, „Reformprozessen“ und in die Bildungslandschaft gepumpten Innovationen sind immer wieder die (vermeintlichen) Anforderungen des „Marktes“, jener geheimnisvollen Instanz also, folgt man den Apologeten dieser Instanz, die quasi aus sich selbst heraus das Wohl des Einzelnen und das Wohl der Gesamtheit im Auge hat und für deren Durchsetzung sorgt. Es gibt mittlerweile kaum einen Bereich der Gesellschaft, in der nicht das Geschrei von der Marktwirtschaft (des marktwirtschaftlichen Denkens und Handelns) Entscheidungen beeinflusst oder sogar steuert.

Im Interview mit dem SPIEGEL (46/2012, S. 162) sagt der Harvard-Professor für politische Philosophie, Michael J. Sandel, u.a. dazu: „(…)ich stelle fest, dass die Bereitschaft, die Prinzipien des Marktes als Leitideen zu akzeptieren, in überraschender Weise zunimmt. Das Vordringen der Märkte, oder besser gesagt des marktorientierten Denkens, in Bereiche, die traditionell außerhalb der Märkte entstanden sind, vom menschlichen Körper bis zu den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, ist eine der fragwürdigsten Entwicklungen unserer Zeit.“

Was bedeutet das im Zusammenhang mit der Forderung nach Informatik als Pflichtfach?

Man muss es sich ja noch nicht einmal antun, sich die grenzdebilen Sprachzombies, geistig verwirrten Randexistenzen und sozialen Blindgänger in den Quassel- und Schrei-Shows diverser Privatsender anzuschauen und anzuhören – es reicht schon eine Fahrt mit Bus und Bahn oder ein Gang durch die Innenstadt, ein Besuch im Krankenhaus oder einem „Pflegeheim“, um halbwegs ein Gespür dafür zu bekommen, dass das Problem offensichtlich nicht darin besteht, dass wir zu wenig Menschen haben, die Programme schreiben können, in denen alles, der Einfachheit des Rechenprozesses halber, auf Nullen und Einsen reduziert ist.

Es fehlt vielmehr an Gemeinsinn, „anständigem“ (höflichem) Verhalten, Zuvorkommenheit, Rücksichtnahme, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft: all das lässt sich aber nicht in Nullen und Einsen fassen. Aber daran herrscht ein Mangel, dessen Ursachen sowohl ökonomischer als auch sozialer Natur sind und der nicht monokausal erklärt werden kann (wobei ich von den Problemen wie Arbeitslosigkeit, Armut, demographischer Entwicklung noch völlig absehe).

So gesehen, brauchen wir Informatik nicht als Pflichtfach – sondern wir brauchen mehr Deutsch, mehr Literatur, mehr Kunst und Musik (incl. Blockflöte), mehr Stunden für Geschichte und Politik – und vor allem eine ethisch-moralische Erziehung, deren sofortige ökonomische Verwertbarkeit zwar nicht gegeben ist, die aber das Leben angenehmer machen könnte.

2D-Code Nullen und Einsen

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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