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im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Eine Stadt auf verlorenem Posten (2)

Seit einiger Zeit bekommen wir im Lokalteil der WAZ in loser Abfolge Baustellen der Gelsenkirchener Erziehungs- und Bildungslandschaft präsentiert. Die unaufgeregten, sachlich mit Zahlenmaterial unterfütterten Beiträge geben einen Einblick in das, was man in Gelsenkirchen ohne Polemik und ohne Übertreibung als Elemente einer Bildungskatastrophe bezeichnen kann, die ganze Teile der jüngeren Generationen im Griff hat. Wobei anzumerken ist, dass die Stadt selbst für diesen Zustand kaum oder in nur geringem Maße verantwortlich ist und auf der anderen Seite „im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ versucht, Defizite abzubauen. Aber die Möglichkeiten sind eben begrenzt – nicht nur die finanziellen. *

400 ist die Zahl des Tages. Nicht, dass Sie jetzt denken, es ginge um eine Fortsetzung des Films „300“, in dem 300 muskulöse Krieger aus Sparta dem zigfach größeren Perserheer Stirn und Schwert bieten, bis sie – durch Verrat – doch eine Niederlage einstecken müssen und dadurch die Existenz Griechenlands und seiner (Stadt-)Staaten bedroht ist. Nein, bei den 400 geht es allerdings auch um Existenzen, genauer:  um die Zukunftschancen von Schülerinnen und Schülern an Grundschulen der Stadt Gelsenkirchen. 400 Erstklässler müssen nämlich das erste Schuljahr wiederholen. Noch einmal eine Steigerung – denn im letzten (Schul-) Jahr waren es „nur“ 333 Erstklässler, die schon am Beginn ihrer Schullaufbahn so massive Schwierigkeiten hatten, dass sie gleich im ersten Jahr an der Schule eine – wie man früher euphemistisch sagte – „Ehrenrunde“ drehen mussten.***

Ein Grund, sicher nicht der alleinige, aber ein wichtiger, dürfte bei etlichen der Erstklässler die unzureichende Beherrschung der deutschen Sprache sein, was natürlich dem Erwerb von Fähigkeiten und Kenntnissen in allen Fächern entgegensteht. Erst kürzlich war über ein Grundschulkind in Gelsenkirchen zu lesen, dessen Eltern die Tochter nach zwei Jahren auf eine andere Grundschule schickten, weil das Kind in der Klasse das einzige war, das Deutsch sprach und dem Lernstoff deutlich hinterherhinkte. Der Schulleiter der Grundschule machte darauf aufmerksam, dass dort „zwei Drittel bis drei Viertel“ der Schülerschaft „keine oder ganz geringe Deutschkenntnisse“ haben. Wobei in Gelsenkirchen – über alle Schulformen hinweg – der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund bei 60,9% liegt, in einigen Schulen aber Spitzenwerte von über 90% erreicht.

„Bildungsgerechtigkeit“ kann unter diesen Umständen und strukturellen Gegebenheiten nur zu einer Floskel verkommen, mögen sich die Kollegien und Schulleitungen noch so engagiert ins Zeug legen. Ihre Niederlage – und die der 400 Kinder – ist abzusehen, wie die der 300 Spartaner gegen das vieltausendköpfige persische Heer abzusehen war!

Gelsenkirchen – von der Stadt der 1000 Feuer zur Stadt der 1000 Chancenlosen!

*Zitat: Sinan Sat, Viele Erstklässler haben Sprachdefizite, WAZ, Lokalteil GE, Papierausgabe v. 22.Juli 2024

*** siehe WAZ, Lokalteil Gelsenkirchen vom 22.8.24 (Papierausgabe)

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Von Bernd Matzkowski

geb. 1952, lebt in GE, nach seiner Pensionierung weiter in anderen Bereichen als Lehrer aktiv

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Heinz Niski

Dass irgendwas mit dem Bildungssystem nicht stimmen kann, wurde doch vor Jahrzehnten mit dem Beginn der privaten Schüler-Nach-Hilfe Bildungsindustrie klar.
Dass dieses System niemals Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern bilden und erziehen und die Armutsfolgen abfedern und auf kulturelle Besonderheiten eingehen kann, dürfte auch Ungebildeten einleuchten.
Wir sollten vermehrt auf Piktogramme setzen, Sprachübersetzungsgeräte in Behörden, Geschäften und öffentlichen Plätzen aufstellen und den Beruf des öffentlichen Schreibers zertifizieren. Der kann gleichzeitig Kulturtechniken vermitteln, Wohnungsführerscheine ausstellen, Benimmkurse für den öffentlichen Raum durchführen.
Alles wird gut.
Wenn Bildung nicht mehr das Kapital eines rohstoffarmen Landes ist, erfinden, produzieren wir weniger unnützes Zeug und retten dadurch den Planeten.

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Ro.Bien.

Die Gutsituierten schicken ihre Kinder auf Privatschulen und Internate. Spannend wäre zu erfahren, welche der Politiker es tun oder taten. Hat Buschmann Kinder?
Solange der Kindergartenbesuch von nicht nur bildungsfernen Familien nicht verpflichtend ist, bleibt das auch so, proportional der Zuwanderung aus armen Ländern. Aber, was rede ich: Der Zustand der Kitas ist ja die andere Katastrofe.

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Heinz Niski

die soziale Marktwirtschaft, der rheinische Kapitalismus schleicht sich langsam aus. Bildung & Sicherheit werden privatisiert, jeder weiß es, man schiebt sich den schwarzen Peter gegenseitig zu. Bildungsversagen… Einzelfälle. Funktionale Analphabeten, Einzelfälle. Stress durch Clans, Einzelfälle. Messer, die in Hälse gesteckt werden… Einzelfälle

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Ro.Bien.

..so wie der gestrige Einzelfall. In Solingen. Auf dem “Fest der Vielfalt”.

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