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Die Bundesregierung bietet auf ihrer digitalen Plattform im Netz eine Traumwelt an. In ihr schafft man es, aus knallhart miteinander konkurrierenden bzw. sich gegenseitig ausschließenden Zielen, die am liebsten schon 2030 alle gleichzeitig erfüllt sein sollen, eine neue Realität zu töpfern. Wir müssen es nur wollen.

„Nachhaltigkeitsziele verständlich erklärt“ steht dort. Wer es schafft, alle 17 Artikel zu lesen, der bekommt von HerrKules einen nachhaltigen Dauerlutscher aus Bambus geschenkt.

Dank der Phantasiewelt-Baumeisternden im ehemaligen Bundeswirtschaftsministerium, das einst nur mit der Sorge um die Existenzgrundlage des Landes befasst war, sich derzeit aber primär für die Rettung der ganzen Welt zuständig fühlt, beginnt die chemische Industrie damit, sich aus Deutschland zurückzuziehen. So wird in absehbarer Zeit die nächste Leerstelle auf dem ehemaligen Bahnhofsfenster Gelsenkirchens entstehen. Da die anderen Fehlstellen (Kohle, Stahl, Bekleidung) teilweise durch immer neue Verwaltungsarbeitsplätze bei der Stadt Gelsenkirchen verdeckt werden, soll der Vorschlag aufgekommen sein, das alte Bahnhofsfenster durch einen bunten Haufen zu ersetzen, sobald in Scholven die Flammen erloschen sind. Solange die abendliche Beleuchtung des Fensterns unterbleibt, um klimakatastrophenverhindernd Energie zu sparen, von mir aus gerne.

Eine als nachhaltig postulierte Technologie, das Solarpanel, hat es nie bis auf das Bahnhofsfenster geschafft, obwohl die Solarstadt Gelsenkirchen bereits vor über 20 Jahren jede Menge Marketing fabrizierte, um die Zukunft in die damalige Gegenwart, also heutige Vergangenheit, zu transferieren. Der Stadtgrafiker Uwe Gelesch wurde sogar mit der Erschaffung einer Skulptur beauftragt, die im Stadtbild ein paar Jahre als Ersatz für rauchende Schlote zu bewundern war – und jetzt nicht mehr. Die Zukunft war schon damals nicht sehr nachhaltig und hinterließ als Schönwettertechnologie zum Dank eine bleibende Wunde im Straßenverzeichnis Gelsenkirchens: die „Scheuten-Solar-Straße“ in Schalke wird vorerst das städtische Mahnmal für den Misserfolg staatlich gelenkter Zukunftsgestaltung bleiben. Die mit Steuergeldern subventionierte und schon längst nach China abgewanderte Solarindustrie Gelsenkirchens ist ein Monument grandioser Fehleinschätzungen und war so wenig nachhaltig, wie es der Biomassepark auf Hugo heute ist.

Die Frage der Nachhaltigkeit stellt sich für Gelsenkirchen nicht mehr, weil die Zukunft hier bereits Vergangenheit ist. Glück gehabt. Das spart jede Menge Papierkram und digitale Online-Formulare.

Unter gelebter Nachhaltigkeit versteht ein Teil der Generation Y und Z vor allem den Erwerb von Kleidung, die bereits 30 Jahre alt ist oder modisch aus den 1990er stammen könnte. So erlebt die Damenhose mit hohem Bund und weitgeschnittenem Bein eine Wiederkehr als Gegenbewegung zur Bauchnabelschau der vergangenen Jahre. Wir älteren Damen werden uns noch an die abfällige Bezeichnung „Mom Jeans“ erinnern. Ja, früher war nicht alles schlechter, wie die Jungen (bitte genderneutral lesen und verstehen!) neuerdings zu meinen scheinen. Die angesagteste Einkaufsadresse ist darum nicht mehr Primark auf der Bahnhofstraße, sondern es ist Bochum, wo mehrere erstaunlich große Ladenlokale Gebrauchttextilien anbieten. Diese Örtlichkeiten werden von der studentischen Kundschaft regelrecht geflutet. Sogar Rückzugsecken für begleitende Nicht-Kleidungsuchende sind dort zu finden. Diese Fluchtpunkte bestehen aus einer Gruppe abgewetzter Stühle, deren Design beim besten Willen nicht zusammenpassen will. Nachhaltigkeit kombiniert mit Vielfalt: So sieht das dann aus.

Das sich ins Getümmel stürzende Elter 2 (zwecks Beziehungspflege mit der erwachsen gewordenen Brut mitgekommen) findet nach wenigen Minuten jenen Ruheort und nimmt einen Teil davon temporär für sich in Beschlag. In der Gesellschaft eines ebenda bereits weilenden, männlich gelesenen Basecap-Trägers, wird das Nachhaltigkeitserlebnis zum Überraschungsevent. Der Blick des daddelnen Studierenden bleibt unbeweglich Richtung Smartphone gerichtet, bis seine „best friend“ („Oh nerv mich jetzt nicht und setzt dich da hin, bis ich fertig bin!“) sich mit einem strahlenden Antlitz vor dem emanzipierten Begleiter aufbaut, um ihre neu zusammengestellte Körperverhüllung zu präsentieren. Dem unfreiwiligen Beobachter*innenauge wird eine Komposition schlimmster 90er Jahre-Jako-o-Mode in schlabbriger Übergröße gewahr. Piet Mondrians Farbkasten lässt grüßen, aber eingestreute Lila-, Pink- und Fliedertöne fördern unmittelbar vor einem heftigen Schluckreflex den Würgreiz.

Doch damit nicht genug. Bei der erneuten Präsentation der von „Sweetheart“ für sich auserkorenen Trend-Kollektion, werden entgegen jeder Jahrhunderte alten menschlichen Erfahrung kratzige Norwegerpullover aus mittlerweile antiker Schafswolle mit leuchtenden Augen als „voll kuschelig und bequem“ angepriesen. Während „she/her“ ausdauernd über das Naturprodukt längst verstorbener Weidetiere aus dem letzten Jahrtausend reibt, bilden sich auf zarten, feingliedrigen, vollflächig tätowierten Händen klaffende Wunden, aus denen mehr Blut tropft, als die Auslegware des Ladenlokals spontan aufsaugen kann. Diese scheint auch noch aus den 1990ern zu stammen und ist teilweise mit Läufern abgedeckt, deren Zweck sich damit erklärt. So erlebt der kleine, rote Perser für arme Leute, der früher jeden aufstrebenden Arbeiterhaushalt zierte, ebenfalls eine Renaissance.

In dieser Nachhaltigkeitslogik fällt der Samen der progressiven Rückschrittsgläubigen auf fruchtbaren Boden.

In einem aktuellen Spiegel-Bestseller ist zu lesen, dass das BIP der Bonner Republik  gegen Ende der 1970er Jahre ausreichen muss, um das Leben einer Online-Gesellschaft ohne Mobilitätsanspruch aufrecht erhalten zu können. Mehr Wirtschaftskraft als damals bedeute nämlich, den Weltuntergang zu provozieren. Alternativlos also. Ein interessantes Gespräch mit der Autorin jenes Werks kann man hier hören.

Es wird wegen der Weltenrettung „made in and made by Germany“ fleißig geschrumpft. Weniger ist tatsächlich weniger. Wer in Bahnhofsnähe eine Bäckerei sucht, der findet in Gelsenkirchen fast nur noch das Traditionsunternehmen Backwerk in der Unterführung, die seit Jahrzehnten den Hauptbahnhof bildet. Weniger war schon immer weniger. Die Energiepreissteigerungen seit dem Herbst 2021 haben die gewünschte Wirkung einer schrumpfenden lokalen Wirtschaft bereits sehr schön entfaltet. Die Lücken werden bis zum Abriss der betroffenden Immobilien vollwertig gestopft. Berge von Süßwaren kurz vor der Mindesthaltbarkeitsgrenze können überall in Bahnhofsnähe hemmungslos und sehr nachhaltig in Resterampe-Läden erworben werden. Es läuft also auf Adipositas für alle hinaus. So merkt das Individuum die Schrumpfung erst später.

Angesichts der derzeitigen Energieeinsparmaßnahmen ist das Übereinander-Tragen vielschichtiger Kleidungsstücke obligatorisch geworden. Der heutige Wintereinbruch mitten im Winter zeigt das Durcheinander im klimatischen Geschehen. Und die Einlagerung von Kleidung als Altersvorsorge scheint angesichts der Inflation (aktuell 8,7 %) eine ernstzunehmende Bitcoin-Alternative zu sein. Wenn bereits in wenigen Jahren die installierten „Klimagas“-Heizungsanlagen verboten und deshalb ersetzt werden (müssen), dann könnte die nachhaltige Finanzierung dieser – historisch betrachtet sonst nur im Krieg durch feindlichen Beschuss entstehende – Ressourcenverschwendung durch reinen Tauschhandel abgewickelt werden: Ich gebe dir eine Wärmepumpe und du gibst mir den kompletten Kleiderschrankinhalt aller Hausbewohnenden bis zum letzten Hemd. Entgegen der Meinung, die Politik setze immer nur auf Verbote, haben alle Bürgenden hierbei die freie Wahl: Entweder keine Heizung und deshalb sämtliche Kleidung immer anhaben oder die Heizung austauschen und ganz ohne Kleidung herumlaufen. Wärmetechnisch gesehen ist das eine gleichwertige, freie Entscheidung, die aus persönlichen Vorlieben heraus getroffen wurde. Wer redet da von Zwang?

Das Narrativ der Preisexplosion und Energieknappheit, die angeblich erst im Februar 2022 und nur wegen Du-weist-schon-wem begann, ist ein schönes Narrativ. Darum lasst es uns liebevoll pflegen und jederzeit nachhaltig und fröhlich wiederholen, bis sich niemand mehr erinnern will. Das geht, wie eine noch nicht ganz in Vergessenheit geratene alte Dame einst meinte:

„Wir haben schon so viel geschafft! Wir schaffen auch das!“

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Gelsenkirchen-Fan, Schreiberling*in, Nicht-Binär, Teil-Analog

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4 Kommentare
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Fra.Prez.

Cooler Text! Wer sind die Verfassenden?

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Fra.Prez.

Neben ihrem Schreibstil gefällt mir besonders ihr trockenes Kurzprofil

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Heinz Niski

Bitte „Teil-Analog“ nicht mit Kunstkäse oder Käsekunst, auch nicht Teilen davon, in einen Bottich werfen!

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