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Der Mythos „Erkältungsviren können mir nichts“ zerbröselte gestern, nachdem die Person, mit der ich das Bett nicht nur aus Kostengründen teile, viele Wochen lang vergebens versucht hatte, mich immer wieder durch Alltagsmikrobensammlungen zu infizieren und mit ins Krankenzimmer zu entführen. Es scheiterte. So blieb mir im vergangenen Jahr häufig die Rolle ens Pflegenden fürs Partnernde, wie das so ist in Lebensabschnittsgemeinschaften, in denen die einen die anderen nach starkem Virenbefall teilweise überleben.

Gestern Abend brach auch das Narrativ einer genetisch begründeten, individuell-absoluten Immunität gegen Schnupfenerreger innerhalb von wenigen Stunden in sich zusammen. Es war ein schmerzvolles Eingeständnis, dass auch gut begründete Erklärungsversuche und feste Überzeugungen zur Lachnummer mutieren, wenn die evidenzbasierte Betrachtung der Realität zum gegenteiligen Ergebnis führt: „Gegen Viren, die Atemwegserkrankungen auslösen, kannst du nichts machen. Da musst du durch. Am besten sofort.“ Ich löschte also umgehend ein paar meiner aufsehenerregenden Studien vom Preprint-Server, trank einen Grog und begab mich in die Horizontale.

Der Berg an Papiertaschentüchern, den ich heute früh neben dem Bett vorfand, war beeindruckend. Ich kann mich nicht daran erinnern, diese Nacht etwas anderes getan zu haben, als pausenlos Pressluft durch Papiertücher gedrückt zu haben. Ich tat es voller Leidenschaft in der Hoffnung, der überproduzierte Auswurf möge bei dieser Prozedur mitgerissen werden. Es war dunkel, Strom ist seit Monaten ein Luxusprodukt, also sparte ich mir in staatsbürgerlicher Verantwortung eine beleuchtete Betrachtung der Teilergebnisse für den Morgen auf, nahm aber heute früh wohlwollend zur Kenntnis, dass eine Verfärbung des Schnodders in Richtung Vereinsfarbe von Lüdenscheid-Nord noch nicht stattgefunden hatte.

Mündlich meine Zufriedenheit ausdrücken konnte ich wegen der über mich gekommenen Aphonität nicht. Erst nach dem zwiespältigen Genuss mehrerer Kannen Salbeitee voller schmerzhafter Schluckerlebnisse ließ sich die Katastrophe im Rachen etwas beruhigen. Die Maßnahmen wirkten. Noch ist dort auch kein Kipppunkt erreicht, der das Halsklima unumkehrbar Richtung Dauerschmerz bis zum Lebensende ausschlagen lassen könnte. Noch ist Hoffnung, unter der kritischen Zielmarke von 1,5 Liter Sekretproduktion zu bleiben, falls ich überlebe.

Am Nachmittag war dem Stimmapparat bereits wieder der ein oder andere Laut zu entlocken. Kaum verständlich zwar, aber früher war auch nicht alles besser. Daraufhin stornierte ich den Gebärdensprache-Online-Kurs wieder. Seitdem brummt nur noch der Schädel ein wenig über dem angestrebten Schmerzlevel von 2%, aber die beim Medikamentenflohmarkt kurz vor dem Lichterfest in der Nachbarschaft gegen 10 Scheite Brennholz getauschten Schmerztabletten mit Ablaufdatum 15.07.2003 werden ihre Wirkung sicherlich noch entfalten. Vier- bis fünffache Dosis, denn viel hilft viel, wie der Gesundheitsminister zum Thema Impfen immer sagt und der ist Arzt und weiß Bescheid. Alles muss raus, die Lager sind voll – nur nicht voller Schmerzmittel.

Stellt sich die Frage, wie sieht eine sinnvolle Zeitgestaltung nach einer durchgepusteten Nacht ohne Schlaf aus? Die Suche war schnell beendet. Der stark verspätete Tagesanfang führte mich zu einer Reisebeschreibung in die hässlichste Stadt Deutschlands.

Ein bärenstarkes Vorbild für Gelsenkirchen in Sachen Rückbau, Abwicklung und Tourismus. Was die gute alte Tante SPD im Laufe der Zeit auch in Ludwigshafen geschafft hat, ist wirklich beeindruckend. Mit dem laufenden Abriss der U-Bahn und dem vorübergehend ausgesetzten Rückbau der Hochstraße im Stadtzentrum ist der Infrastrukturabbau dort schon viel weiter fortgeschritten als in unserer Emscherstadt. Gut, die Idee mit der Flaniermeile durch Schalke-Nord anstelle der Berliner Brücke ist keine SPD-Idee gewesen, sondern eine Vision der Grünen. Die als Seilbahn getarnte fliegende Straßenbahn an selbiger Stelle ist ein Projekt der hiesigen FDP, das so wenig Chancen auf eine Umsetzung hat, wie die Rekonstruktion des alten Rathauses in der Altstadt oder die baldige Renovierung des Rathauses in Buer. Verrückte Ideen eben. Aber immerhin scheint in Ludwigshafen auch ein SPD-Hauptbahnhof genauso gelungen zu sein, wie an dem Ort, der einst „Kirche am Platz, wo sich geile Stiere tummelten“ genannt wurde, bevor der Wohlstand des schwarzen Goldes dort ausbrach und Jahre später sogar die CDU mitregieren durfte, sofort einiges verkaufte und zurückmietete nach dem Motto: „Nach uns ist hier sowieso vorbei. Oder nicht?“

Einen launigen Fremdenführer, Kollege von unserem Olivier, haben sie auch in Ludwigshafen. Er führt regelmäßig die vom urbanen sozialdemokratischen Erbe der 1970er angelockten Abbruchtouristen durchs Alptraum-Nimmerland und präsentiert die vergangenen städtebaulichen Visionen – auch per App. Hier müsste man in der Smart City Gelsenkirchen noch etwas nachschärfen, um den bereits sicher geglaubten Spitzenplatz nicht doch noch mit Oggersheim teilen zu müssen. Immerhin haben SPD und CDU mit dem Abriss des Zentralbads und der Installation der fulminanten Traglufthalle im Sportparadies ordentlich vorgelegt. Das zu toppen, wird kaum mehr möglich sein. Sowas gibt es nur in Gelsenkirchen.

Wegen lauter visionärer städtischer Zukunftsideen hat das noch in Arbeit befindliche Klimakonzept der Stadt Gelsenkirchen bereits einige Streithühner und Streithähne generiert. In den nächsten Wochen wird sicherlich noch einiges darüber zu hören sein, wenn die gigantischen Maßnahmen genannt werden, die aus dem heutigen Gelsenkirchen ein Klima-Vorbild für die ganze Welt machen werden. Als kommunaler Aufreger der Woche fühlen sich die Grünen derweil bei ihrem Lieblingsthema geradezu innerstädtisch ausgeschlossen und abgehängt. Sie haben nun die Nase gestrichen voll und fordern in den Bezirken Gelsenkirchens ein grünes Mitspracherecht ein.

Stichwort volle Nase. Dann will ich mal wieder.

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Von Ali-Emilia Podstawa

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